Über das Werk von Asta Scheib (6): Der Maler Carl Spitzweg (1808-1885)

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Franz Hanfstaengl (1804-1877): Carl Spitzweg, ca. 1860

Die am 27. Juli 1939 in Bergneustadt (Nordrhein-Westfalen) geborene und seit den 1970er-Jahren in München lebende Schriftstellerin, Journalistin und Drehbuchautorin Asta Scheib hat letztes Jahr ihren 80. Geburtstag gefeiert. Mit dem sechsten Teil unserer mehrteiligen Blogreihe wollen wir den Streifzug durch ihr vielfältiges literarisches Werk fortsetzen (alle Beiträge zur Blogreihe finden Sie HIER). In ihrer Romanbiografie Sonntag in meinem Herzen. Das Leben des Malers Carl Spitzweg (2013) porträtiert Asta Scheib den Münchner Maler, Zeichner und Dichter Carl Spitzweg (1808-1885). Der Vertreter der Spätromantik und des Biedermeiers gilt u.a. als Spezialist des witzigen, manchmal ironischen Pointenbilds und der ungetrübten Naturidylle. Seine Genrebilder spiegeln das Leben des kleinbürgerlichen und weitgehend unpolitischen Menschen der Restaurationszeit wider, während die späten Landschaftsbilder durch ihre realistische Wiedergabe an fortschrittlichere Tendenzen innerhalb der deutschen Landschaftsmalerei anknüpfen. Ein Beitrag von Nastasja S. Dresler.

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In ihrer zweiten Künstlerbiografie widmet Asta Scheib sich dem Münchner Biedermeiermaler Carl Spitzweg. Spitzweg wird 1808 in München in eine großbürgerliche Familie von Obsthändlern geboren. Der Vater Simon Spitzweg, Sohn wohlhabender Gewürzhändler aus einem Dörfchen bei Fürstenfeldbruck, hat alles daran gesetzt, in die Familie Schmutzer einzuheiraten und von deren Status zu profitieren:

Wenigstens hatte seine Frau ihm nach dem Stammhalter noch einen zweiten Sohn geboren. Simon Spitzweg wollte überhaupt nur Söhne. Mädchen machten Scherereien. Wenn er nur an seine Werbung um Franziska dachte. [...] Sie hatte ihm an dem kleinen Tischchen gegenübergesessen. In ihrem weißen Tüllkleid mit den kurzen, stark gepufften Ärmeln, zu denen sie lange seidene Handschuhe trug, sah sie vielleicht hübscher aus, als Simon Spitzweg sie in Erinnerung hatte. [...] Das rötliche Haar Franziskas war zu Locken frisiert, sodass Simon Spitzweg Mut fasste. Warum war sie so aufwändig gekleidet und frisiert? Wollte sie trotz ihrer abweisenden Haltung möglicherweise doch Eindruck auf ihn machen? [...] In Tassen aus Porzellan stand duftender Kaffee vor ihnen. In einer Kristallschale war Bayerische Creme mit eingemachten Kirschen serviert worden. [...] Himmel, dachte er, wahrscheinlich war hier im Haus alles vom Feinsten. Und er sollte außen vor bleiben? Das wollte er doch einmal sehen. Als er auf dem Flur Schritte hörte, sprang er auf, riss Franziska in seine Arme, presste sie an sich und küsste sie, so vehement er nur konnte. „Vater“, rief Franziska hilflos und schaute auf Kaspar Schmutzer, der wie angenagelt in der Tür stehen blieb. [...] Doch er besann sich darauf, dass er den vielversprechenden jungen Mann gern als Schwiegersohn hätte. [...] Der passte in die Familie, war haargenau der gewünschte Nachfolger. So zielbewusst, wie er seine Karriere aufgebaut hatte, betrieb er wohl die Brautwerbung.

(Asta Scheib: Sonntag in meinem Herzen. dtv, 3. Aufl. München 2016, S. 11f.)

Die Rechnung geht auf: Simon Spitzweg schafft es bis zum Landtagsabgeordneten. Der Ehe mit Franziska mangelt es jedoch gänzlich an Liebe. Und so lieblos er mit seiner Frau verfährt, so autoritär gestaltet er den Lebensweg seiner drei Söhne. Der älteste muss die Geschäfte seines elterlichen Betriebs übernehmen, der jüngste soll Arzt werden. Und für Carl, den mittleren, wird eine Laufbahn als Apotheker vorbereitet – mit dieser Vorsehung beginnt die Autorin ihre Erzählung:

Es fröstelte ihn auf dem kalten Tisch, auf dem er abgelegt worden war. Sie hatten ihm nur flüchtig die Augen ausgewischt und ihn mit Tüchern bedeckt, doch sie waren steif gestärkt und wärmten nicht. Carl begann zu brüllen. „Der wird Apotheker“, sagte sein Vater Simon Spitzweg zu seiner ermatteten Frau, die ihren zweiten Sohn im Arm hielt. „Unser Ältester wird Kaufmann, und wenn du mir noch einen zur Welt bringst, soll er Arzt werden. So gehen die Geschäfte Hand in Hand.“ (Ebenda, S. 9.)

Von Malerei hält der Vater gar nichts. Schon als Junge verspürt Carl den Drang, seine Umgebung auf Papier zu bannen, und sitzt oft im Salon, um die Bilder abzumalen, die die Wände schmücken.

Der Großvater hatte seinem Enkel Zeichenkohle geschenkt, und nun machte Carl sich daran, die Stute [auf dem einen Bild] zu zeichnen. Wieder und wieder versuchte er es. Die Beine waren besonders schwierig, und der Körper des Pferdes glich eher dem eines Hundes. Bei dem Hengst gelang es ihm schon besser, seinen Vorstellungen von einem Pferd nahezukommen. Es war aufregend für Carl, auf dem Papier ein Wesen entstehen zu sehen, das er geschaffen hatte. Doch er wusste, dass er es noch besser machen konnte, machen musste. (Ebenda, S. 33.)

Die Mutter ist begeistert von den Zeichnungen ihres Sohnes und hängt diese im Kinderzimmer auf. Als die Jungen jedoch eines Mittags aus der Schule kommen, sind die Blätter verschwunden: „Bei Tisch sagte der Vater, dass ein Maler und ein Taugenichts dasselbe seien. Carl lief in sein Zimmer. Er kniete sich vor den Stuhl, der neben seinem Bett stand. Vergrub seinen Kopf fest in das Kissen. Er wollte nicht mehr da sein, nicht mehr denken, nicht mehr fühlen. Wut und Scham war alles, was er empfinden konnte.“ (Ebenda, S. 34f.) Die Autorin schildert die vom Patriarchat dominierte, aber auch alles in allem sorglos verlaufende Kindheit Carls in München und lässt die historische Kulisse des Malers vor den Augen der Leserschaft aufleben:

„München ist [...] eine große Stadt“, sagte Simon nicht ohne Stolz. „Fünfundvierzigtausend Menschen leben hier!“, sagte er gewichtig, und Carl staunte. [...] Simon wusste, dass im Umkreis von einer starken Stunde vierzehn Dörfer lägen. „Das Lechel ist darunter, und die Au. Dort wohnen die Leute in so kleinen Häusern.“ Simon zeigte die ungefähre Länge eines Zündholzes. „Wie groß ist den eigentlich München, weißt du das auch?“, fragte Carl. – „Ich weiß nur, dass man ungefähr in drei viertel Stunden um München herumgehen kann“, antwortete Simon. [...] Die Stadttore kannten sie bereits. Vier Haupttore führten in die Stadt. Von Nordost das Schwabinger Tor, das nach dem Dorf Schwabing genannt war. Am besten kannten sie das Karlstor, welches vormals Neuhauser Tor geheißen hatte und umgetauft wurde, nachdem der Kurfürst Karl Theodor es hatte verschönern lassen. In der Nähe dieses Tores wohnten sie, in der Neuhauser Gasse. Von Südwest erreichte man das Sendlinger Tor, welches zuerst nach Sendling führte, von Südost das Isartor, das über zwei schöne Brücken nach dem jenseitigen Isarufer leitete. Als die Brüder am Sendlinger Tor vorübergingen, kauften sie bei der Brotbesitzerin ein, die an ihrem Stand zwischen duftenden Wecken saß und sie schon freundlich anlächelte. Die Spitzweg-Buben hatten immer Appetit und Geld, solche Kinder mochte sie. (Ebenda, S. 40f.)

Carl Spitzweg: Der Witwer, nach 1845, Farbe auf Leinwand

Nach seiner Ausbildung an der Residenzapotheke führt Carl sein Weg an die Löwenapotheke in Straubing. Seine große Liebe tritt damit in sein Leben: die mit gerade einmal Zwanzig bereits in erster Ehe geschiedene und gezeichnete Clara. Nach der Tyrannei durch den ersten Gatten wird Carl zu ihrer großen Liebe – und Clara zu der seinen. Zur geplanten Heirat kommt es aber nicht: Clara verstirbt an einem Lungenkatarrh. Für Spitzweg soll es keine weitere, zweite Frau in seinem Leben geben. Nach dem Studium der Pharmazie an der Ludwig-Maximilians-Universität arbeitet er weiter als Apotheker. Erst nach dem Tod des Vaters kann er sich endlich ganz seiner großen Leidenschaft, der Malerei, widmen und damit Erfolge erzielen:

Carl hätte heute die Welt umarmen können. [...] Die schroffe Ablehnung seines Armen Poeten durch den Münchner Kunstverein wurde vollkommen wettgemacht durch die Anerkennung seiner Werke in den Kunstvereinen der Städte Nürnberg, Hannover, Karlsruhe, Leipzig und Prag. Ihm gingen bald die Bilder aus, die er geeignet hielt zum Verschicken. Immer noch hatte er Komplexe, doch seine Starre löste sich allmählich. Ausstellungen seiner Gemälde wurden in Kunstblättern besprochen, neulich erst im Schorn’schen und gleich danach im Egger’schen Kunstblatt. (Ebenda, S. 331.)

Kurz vor seinem Tod – Carl ist schon nicht mehr bei bester Gesundheit und steht alles andere als in jugendlichem Saft – erregt doch nochmal eine Frau seine Aufmerksamkeit: seine Nichte Anna, die den Maler umgarnt und ihm schöne Augen macht:

Carl haderte mit seinem Herrgott: Du siehst tatenlos zu, wie ein junges Mädchen, zart und sanft wie eine Schneeflocke, mir altem Deppen den Kopf verdreht. Dann schickst du mir eine Venenentzündung zur Strafe. Wofür eigentlich? [...] grollst Du, weil ich nicht oft genug in den Dom zu Unserer Lieben Frau gehe. Oder in die Asamkirche. In Heiliggeist. In St. Peter. [...] Du hast doch noch die ganze Ewigkeit, um mich zu bestrafen. Aber gib mir das bisserl Zeit, bis die Anna von selbst draufkommt, dass sie narrisch ist und ich noch mehr. (Ebenda, S. 455f.)

Sie kommt immer wieder zu ihm ins Atelier und bittet, ihm beim Malen zusehen zu dürfen. Carl beginnt sich an ihre Anwesenheit zu gewöhnen und weiht sie in sein Schaffen ein, lässt sie immer weiter in sein Leben vordringen. Die Begegnung wird seinem Herzen auf die alten Tage jedoch einen heftigen Stich versetzen. Bei einem Spaziergang mit Malerkollege Eduard Schleich kommt es zu einer unangenehmen Situation:

Carl hatte die letzten Worte [Schleichs] nicht mehr gehört. Ein anderes Lachen, ein unverkennbar junges Lachen hatte ihn abgelenkt. Ja. Es war Anna. Sie kam mit ihrer Schwester und einem dritten Mädchen direkt auf Carl und Eduard zu. Marie fasste Anna am Arm und deutete auf Carl. Doch Anna ging an ihm vorbei mit erhobenem Kopf und den spöttischen Augen einer Katze. Carl sah, dass den Mädchen drei junge Herren folgten. [...] Ihm war, als schwände ihm der Boden unter den Füßen [und er] wollte, dass Anna von diesem Moment an nur noch ein ferner Traum wäre, einer, der nie wiederkehrte. [...] Carl schämte sich. [...] Er schämte sich vor sich selbst. Und vor Clara. [...] In der Nacht träumte er, in einem Haus zu sein mit verschiedenen Räumen. Alle Wände waren mit Leinwänden behängt – mit kleinen, großen, mittleren. Darauf hatte er gemalt. [...] eine Frau in Grün, die sich nah zu ihm hinsetzte. Carl fühlte im Traum ein heftiges Glück. Er spürte es im Aufwachen und noch einige Zeit danach. Clara. Sie war zu ihm zurückgekommen. Er war wieder frei. (Ebenda, S. 471f.)