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Kultur trotz Corona: Corona-Blog von Lena Gorelik (3)

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(c) Lena Gorelik

Lena Gorelik (* 1981 in Sankt Petersburg) kam 1992 mit ihrer Familie als sogenannter Kontingentflüchtling nach Deutschland. Sie studierte Journalismus und Osteuropastudien in München, wo sie auch heute lebt. Bisher hat die vielfach ausgezeichnete Autorin belletristische und journalistische Texte sowie Reiseliteratur veröffentlicht. Ihr bislang letzter Roman Mehr Schwarz als Lila erschien 2017 und war für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. 2018 erhielt Lena Gorelik das Arbeitsstipendium für Autor*innen der Stadt München. 2020 wurde die Autorin und Essayistin als Ordentliches Mitglied in die Bayerische Akademie der Schönen Künste aufgenommen.

Bereits im Frühjahr 2020 hat Lena Gorelik einen Corona-Blog geschrieben. Mit dem folgenden Text einer mehrteiligen Reihe im Literaturportal Bayern setzt sie ihren Corona-Blog fort und beteiligt sich an Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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05.11.2020

Die USA haben noch keinen neuen Präsidenten. Wir leben in einer surrealen Welt. Sie ist schon so lange surreal, dass es nichts mehr als eine Wiederholung wäre, schreibe ich all diese Dinge: Alptraum, wie in einem Film, surreal. Meine Mutter ist krank, sie hat, vermutlich, eine Magen-Darm-Grippe, obwohl ihre beste Freundin sagt, dass das keine Magen-Darm-Grippe sei, dass es etwas Schlimmeres sei. Ich sitze auf dem Fahrrad, während ich mit ihr über Kopfhörer telefoniere, ich glaube nicht, dass telefonische Diagnosen seitens der besten Freundin ohne medizinische Vorbildung sinnvoll sind. Ich glaube, dass sie lieber ihre Ärztin aufsuchen sollte, das sage ich zu ihr, habe keine Handschuhe an, es ist zu kalt geworden, um ohne Handschuhe Fahrrad zu fahren. Sie weiß nicht, ob das eine gute Idee sei, erwidert meine Mutter. Sie müsse wahrscheinlich zwei Mal hin, einmal, um sich Blut abnehmen zu lassen, einmal, um die Ärztin zu sprechen. Vier Mal S-Bahn fahren hieße das, vier Mal vor die Tür gehen. Ich sage nichts, weiß nicht mehr, was richtig ist, was falsch. Zu Hause angekommen schaue ich als Erstes in die Nachrichten, obwohl ich schon ahne, dass die USA noch keinen Präsidenten haben.

Die Zeit ist wieder zum Warten verkommen. Diese Woche sind Herbstferien, und als die Kinder Anfang der Woche zu Hause herumhingen, lasen, spielten, Hörspiele hörten, in die Hocke gingen, wenn sie das Wohnzimmer betraten, damit sie in meiner Zoom-Konferenz nicht zu sehen sind, und ich wieder drei Spülmaschinen pro Tag ausräumte, waren wir wieder im März, im April, im Mai. Wir waren wieder da, wo ich nie wieder hin wollte.

Morgen muss ich ein Theaterstück schreiben, sage ich zu C. Morgen, das sage ich nicht, gehe ich zu einer Generalprobe, aber die für den nächsten Tag geplante Premiere findet nicht statt. Ich weiß noch nicht, was ich an jenem Abend mache, für den die Premiere geplant war, einen Film schauen möglicherweise. Das Theaterstück, das ich morgen schreibe, und das ein Theaterstückchen sein wird, wird dann digital gezeigt, die Kultur hat zu. Die Kultur wurde geschlossen. Die Kultur hat sich fürchterlich empört, ich auch, weil sie geschlossen wurde. Dann hat sie sich noch einmal empört, weil man sie als Unterhaltung bezeichnet hatte, man hatte sie sozusagen degradiert. Es ist irgendwie ein sehr deutscher Gedanke, dass Kultur nicht unterhalten darf, aber das ist noch keine These, das ist nur ein vages Gefühl. Es ist ja in Förderanträgen gerne davon die Rede, dass Kultur alle erreichen solle, nicht nur einen bestimmten Gesellschaftssausschnitt. Ich werde viel Zeit haben, diesen Gedanken zu Ende zu denken, jetzt, wo die Kultur geschlossen ist. Ich schreibe an meinem Roman, unsicher, langsam.

M. schreibt mir, Lena, wie geht's dir, nur diese eine Frage, der auch kein Fragezeichen folgt. Ich lasse mir Zeit mit der Antwort, ich weiß nicht, was ich antworten soll. Gut, könnte ich schreiben, müde, könnte ich schreiben, genervt, fassungslos auch, dunkel, könnte ich schreiben, oder eben gut. Nichts davon wäre die richtige Antwort, nichts träfe das diffuse Gefühl. Jetzt gerade scheint die Herbstsonne durch das Fenster, der Himmel ist blau, fast so, dass man sofort hinaus rennen möchte. Vielleicht tue ich das, vielleicht kaufe ich ein Stück Kuchen.

Heute morgen habe ich die Kinder an einer Bushaltestelle getroffen, aber als ich ankam, standen sie hinter der Bushaltestelle, so entdeckte ich sie nicht gleich. Das ist, erklärten sie, weil da eine alte Dame saß, und sie wollten ihr nicht zu nahe kommen, so haben sie sich hinter die Bushaltestelle gestellt. Dann war da eine Plexischeibe zwischen ihnen und der alten Dame, „wie im Supermarkt oder im Restaurant“. Es ist doch sonderbar: Wie schnell wir uns gewöhnt haben. Wie alltäglich Masken sind, Abstände, wie ich plötzlich zusammenzucke, wenn im Film jemand jemandem die Hand entgegenstreckt. Als wäre das ein Fehler. A. schrieb gestern, es sei ein apokalyptisches Gefühl. Sie reiße die Tapeten von den Wänden, müsse irgendetwas mit ihren Händen tun.

Ich schaue gerade nicht mehr in die Nachrichten, ist eh klar, dass die USA noch keinen neuen Präsidenten haben.

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