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26.02.2013, 10:23 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [96]: Fortsetzung der Lektürenotizen über die Nachahmung der Alten

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Sie sieht nicht so aus, als hätte sie wirklich Spaß an den jenapaulschen Wortspielen und -schöpfungen gehabt: Dorothea Schlözer, die zweite deutsche Doctora.

Weiter im Text über die alten Texte, die von den Jungen nachgeahmt werden. Jean Paul plädiert – auch darin ist er sehr modern – für die Dominanz der Primärliteratur: es sei im Scholarchat wesentlich besser, eine „von Druckfehlern gesäuberte“ Shakespeare-Edition samt kommentierten Quellen-Novellen[1] als die „Nominal- und Real-Erklärungen“ oder überarbeitete und modernisierte, also verschlimmbesserte Klassiker zu lesen.

Anekdote: als ich noch an der FU Berlin studierte, in der schlechten alten Rostlaube an der Habelschwerdter Allee, besuchte ich ein Seminar des guten alten Prof. Alfred Behrmann[2]: über Robert Walser[3]. Er erzählte eines Tages, dass er einmal eine Bibliothek eines Studenten sah, die sich dadurch auszeichnete, dass die darin befindliche Sekundärliteratur völlig zerlesen aussah, die Werke der Dichter aber noch in lupenreinem, jungfräulichem Zustand im Regal standen.

That's it: Lest nicht soviel Sekundär- oder überarbeitete Literatur, nehmt die Originale zur Hand[4]. Lest den Shakespeare in den guten Ausgaben, und wenn Ihr die Originale lest (sagt Jean Paul), dann denkt daran, dass es auch in der Literaturgeschichte originale und erste Dichter gibt. Man solle den Lukan nicht dem Vergil vorziehen, nicht „die Franzosen“ dem Alten. Freilich sehen wir das heute anders: mit der (scheinbaren) Verfügbarkeit allen Wissens und hervorragend operierenden Universitätsbibliotheken können wir uns in Kürze die seltensten Ausgaben ins Haus oder den Lesesaal holen. Warum nicht den wenn auch „frivolen“ Lukan lesen, dessen Göttergeschichten auch mein „Herz“ erfreuten? Warum nicht die ebenso „frivolen“ Franzosen, deren Stil wir heute schon wieder goutieren können? Nein, man muss dem Winkelschullehrer und Provinzphilologen (dessen Provinz die ganze Welt war) nicht folgen, aber man kann ihn verstehen: gegen die Verrohung der literarischen Sitten darf man, muss man polemisieren, wenn man's so empfindet. Es kommt schließlich aufs Selbstlesen – und -denken an.

Denn wozu dient die praktische Philologie? Der Entwicklung des „Witzes“, womit Jean Paul nicht die sitcom-„Comedy“, sondern den wahren Witz meint, auch den Sprachwitz. „man sollte“, sagt er schließlich am Ende dieses spannenden Einschubs, „Schlözers Hand in der Geschichte auch in andern Wissenschaften nachahmen“.

Kleiner schlözerischer Einschub

August Ludwig von Schlözer blieb bekannt durch seine Tochter Dorothea – denn sie war die zweite deutsche Frau, die 1770 – mit 17 Jahren! – den Doktor machte (allerdings mit der schlechtestmöglichen Note, was gemeinhin verschwiegen wird; auch musste sie keine Dissertation schreiben und verteidigen). Ich „kenne“ die Dame seit etwa 35 Jahren, denn ich begegnete ihr mehrmals in Berlin: in der Skulpturenabteilung der Staatlichen Museen in Berlin-Dahlem. Dort stand sie, büstenhaft. Als sie 36 Jahre alt war, hat sie der bekannte Bildhauer  Jean-Antoine Houdon (der auch einen von Jean Pauls „Franzosen“, nämlich Voltaire, meißelte) ins marmorne Bild gesetzt. Als Jean Paul die Loge schrieb, veröffentlichte sie ihre Schrift Münz-, Geld- und Bergwerks-Geschichte des russischen Kaiserthums, vom J. 1700 bis 1789.

Seltsam, dass wir damit wieder in Russland gelandet sind.

Jean Paul hatte sich übrigens einmal für eine Schlözerin eingesetzt: für die notleidende Elisabeth, genannt „Lisette“. 1810 schrieb er an den Herzog von Sachsen-Gotha einen diesbezüglichen Brief: er bat ihn, dem Rentenkommissär Julius Gelbke 100 Reichstaler zu geben, damit der seine geliebte Lisette heiraten könne – und so wurden sie beide denn kopuliert.

Schlözers synthetische Geschichtsschreibung ist dem Autor das rechte Modell, um die Jungen zur Kreativität anzuleiten. Am Ende dieses Theoriekapitels begründet er seine eigene, sehr spezifische Schreibweise, die so viele Versuchsleser verzweifeln lässt: „Ich gewöhnte meinen Gustav an, die Ähnlichkeiten aus entlegnen Wissenschaften anzuhören, zu verstehen und dadurch selber zu erfinden.“ So kamen Jean Pauls Wortspiele zustande, seine neuen Wortkombinationen, seine wilden Metaphern und Vergleiche. „Aber genug! Der Pedant versteht und billigt nicht; und der bessere Leser sagt eben: genug!“



[1] Shakespeares Quellen belegen, dass die Stücke wesentlich früher entstanden, als immer noch im Allgemeinen genannt – und dass der Autor, also der Earl of Oxford, sie in Editionen las, die der fremdsprachenunkundige Händler aus Stratford unmöglich hätte verstehen können. Auch diese Tatsache sollte dazu verführen, eher die guten Originale als die schlechten Nachahmungen zu lesen, was ebenso für Shakespeares Quellen wie für die Sekundärliteratur über den Verfasser der Dramen und Gedichte gilt.

[2] Lebt Herr Behrmann noch? Das wüsste ich gern.

[3] Der Autor dieses Blogs pflegt immer zu sagen: Wenn Walser, dann Robert. Wenn Robert, dann Musil.

[4] Und kaum eine schönere Funktion hat auch dieses Sekundärblog: Lust aufs Buch selbst zu machen.

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