Kultur trotz Corona: „Waldeinsamkeit zwanzigdreißig“. Von Philip Krömer
Philip Krömer (*1988 in Amberg) studierte Germanistik und Buchwissenschaft. Er ist Mitbegründer des Homunculus Verlags und lebt als freier Schriftsteller und Vater zweier Söhne in Erlangen. Ausgezeichnet wurde er u.a. beim open mike Berlin (2015) und LITERATUR UPDATE der Literaturstiftung Bayern (2019). 2016 erschien sein hochgelobter Debütroman Ymir oder: Aus der Hirnschale der Himmel. Im Oktober 2019 folgte der Erzählungsband Ein Vogel ist er nicht – Neun Umschreibungen bei Topalian & Milani, Ulm. Im Sommer 2020 wurde Philip Krömer der Kulturpreis der Stadt Nürnberg zugesprochen.
Mit dem folgenden Text beteiligt sich Philip Krömer an „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
*
Waldeinsamkeit zwanzigdreißig
Wie haben mich lieblich die Elfen umflattert!
Ein luftiges Völkchen! das plaudert und schnattert!
Ein bisschen stechend ist der Blick,
Verheißend ein süßes, doch tödliches Glück.
- Heinrich Heine
1
In den Hangars verrosten die Flugzeuge, auf den toten Gleisen stehen tote Züge, die niemand mehr mit obszönen Schriftzügen beschmiert, die bereits bis über die Räder Moos angesetzt haben. Die Autobahnen überwuchert, der Asphalt bricht auf, Blumen sprießen. Rehe im Hinterhof, die jede Scheu vor den Menschen verloren haben, wer aber runtergeht, um sie aus der Nähe zu betrachten, und dabei von einer Drohne erwischt wird, dem stellen sie für drei Tage Fernsehen und W-Lan ab, und den möchte ich sehen, den das kaltlässt. Wiederholungstäter müssen auf Warmwasser verzichten, bekommen nur noch Grundnahrungsmittel (Wasser/Brot) geliefert, aber da muss man sich schon sehr uneinsichtig gezeigt haben. Der Verstoß gegen die Schutzauflagen ist heute neben der Cyberkriminalität die einzige Straftat, die man sich noch zuschulden kommen lassen kann. Was in den Wohnungen selbst passiert, interessiert nicht.
2
Dort sitzen wir alle zu Hause, und jeder für sich. Wer einsam war, der wird es bleiben. Glücklich, wer eine kleine Familie hat, in einer WG lebt oder noch bei seinen Eltern. Diogenes bleibt in seiner verdammten Tonne. Das kam so: Man glaubte, die Neuinfektionen unter Kontrolle zu haben, und ging vor die Tür, da rollte Welle um Welle an. Einen Monat draußen, drei drinnen, einen draußen, drei drinnen, bis man die Tür einfach zu ließ. Die offizielle Verordnung, der GROßE EINSCHLUSS, war dann nur noch eine Formalität.
3
Es heißt, die Augen seien das Fenster zur Seele, doch eigentlich ist das Fenster das Fenster zur Seele, denn hier drinnen passiert nicht mehr viel, und Seele braucht immer zumindest ein wenig Bewegung. Papa ruft uns ans Wohnzimmerfenster, unten prescht einer auf seinem Lieferfahrrad über die aufplatzende Straße, dem steht die ganze Welt offen: ein „Außenseiter“. „Abseits der Gesellschaft, einer Gruppe Stehender; jemand, der seine eigenen Wege geht“, steht im Duden zu dem Begriff. Nur war der Außenseiter früher der Ausgeschlossene. Heute ist es der Glückliche, der eine Infektion hinter sich hat, und dabei so viele Antikörper bilden konnte, dass er immun gegen das Virus wurde. Der Lieferant dreht quer zur Fahrbahn noch einen Slalom um die blinden Ampeln und rauscht von dannen, dem Empfänger von Pizza oder Thai-Curry entgegen, der ein halbes Vermögen dafür ausgegeben hat, nicht mit der Drohne beliefert zu werden, sondern einen richtigen Menschen vor der Tür stehen zu haben, der fragt: Sie hatten bestellt, dreimal Pizza, ja? An normalen Tagen würden wir jetzt vor Neid vergehen, aber heute spüren wir die Vorfreude.
4
In den Fabrikhallen hantieren Roboter und automatische Lastenkräne, den Einkauf bringt die Drohne und der Rest ist Homeoffice und Homeschooling und #stayathome immerfort.
5
Weil wir uns die letzten Wochen ganz besonders auf die Nerven gegangen sind, hat Papa, der als Autor arbeitet, ein Versöhnungsangebot gemacht, nicht ganz uneigennützig. Er hat 450 Euro Honorar für eine Science-Fiction-Story bekommen, und die hauen wir gleich auf den Kopf. Auch wir lassen uns Essen liefern. Von einer echten Person. Das ist außerdem billiger, als einen Außenseiter für einen Friendjob zu mieten, der dann für eine Stunde vorbeikommt und in der Küche ein Bierchen trinkt und mit dir quatscht. So viele Geschichten kann Papa gar nicht verkaufen, dass wir dafür genug Geld übrighätten. Übrigens sollte die Story eigentlich den Titel Bundesrepublik Dunkelheit tragen, aber Papa fand ihn zu „prätentiös“, und er sei doch ein seriöser Autor. Er hat sie dann anders genannt, und um uns seine angebliche „Ernsthaftigkeit“ zu demonstrieren, hat er lauter Scheiß gemacht, wie früher, vor dem GROßEN EINSCHLUSS. Er hat das Finale von Don Giovanni gesungen, und Mama hat geweint, weil er so schlecht singt, und weil er das so lange schon nicht mehr gemacht hat. Tu m’invitasti a cena, il tuo dover or sai, rispondimi: verrai tu a cenar meco? Tief aus der Brust, mit all den erhabenen Bühnengesten, aber lauter schiefen Tönen.
6
Was ich mich ehrlich frage: Sind wir schon die letzte Generation? Wenn das noch ewig so weitergeht, wie sollen sich dann überhaupt neue Paare kennenlernen und verlieben und miteinander Kinder zeugen? Die Außenseiter vererben ihre Immunität auch nicht, also bleiben sie lieber unter sich, und nur die wenigsten pflanzen sich fort, weil sie alle ihre Privilegien verlieren würden. Ab auf dein Zimmer, statt frei wie ein Vogel. Tinder funktioniert zwar noch, aber nur, weil irgendwer irgendwie die Server am Laufen hält. Das Unternehmen selbst ist längst bankrott. Die Auswahl beim Swipen zeigt mir wieder nur den Nachbarn von nebenan, nicht hässlich und eigentlich im passenden Alter, aber der übt früh morgens immer Harfe, man hört es durch die Wand, und das will ja nun wirklich keiner. Die Mauer, die unsere Hinterhöfe trennt, ist immerhin gar nicht so hoch. Vielleicht sollte ich ihn doch mal anschreiben, wer weiß, er hat neben Fernsehen und Zocken noch ein anderes Interesse, das ist nicht selbstverständlich, selbst wenn es eine Harfe ist. Wir könnten versuchen, die Zeitfenster zu synchronisieren, die uns zustehen, um den Müll runterzubringen, und uns sogar mal in echt treffen.
7
Gleich soll unsere Pizza kommen. Ich halte am Fenster Ausschau, Mama und Papa stehen im Flur wie Hunde, die auf ihr Herrchen warten. Nur hat man alle Hunde eingeschläfert, weil ja keiner mehr Gassigehen darf. Als es dann klingelt, seit Monaten zum ersten Mal, erschrecken wir, den Klang hatten wir schon komplett vergessen. Mama drückt den Summer, Papa reißt die Wohnungstür auf. Das Tappen im Treppenhaus. Hallo, Sie hatten bestellt, zweimal Speciale und eine Margherita, macht dreiundzwanzig Euro und vierhundert für die Lieferung, bitte. Kann ich das bar zahlen, hehe, scherzt Papa, zieht aber natürlich doch nur die Karte über das Lesegerät, bitteschön, stimmt so. Das Bargeld wurde längst abgeschafft. Ich glaube, man hatte einfach keine Verwendung mehr dafür. Papa bezahlt jedenfalls die vollen 450 Euro und gibt die Differenz als Trinkgeld, weil er sich einen kleinen Vorteil verschaffen will. Mama und Papa spannen die Muskeln an. Und als der Lieferant sagt, danke, voll lieb, und die Arme etwas öffnet, gibt es bei uns im Flur ein heftiges Gerangel, das Mama für sich entscheiden kann. Sie springt dem Immunen in die Arme und lässt sich zum Dank für das Trinkgeld kurz drücken. Das bisschen Körperkontakt mit einem Fremden ist wahrscheinlich fast wie Rausgehen. Papa ist sauer, aber er kann sich nicht beschweren, beim letzten Mal voriges Jahr durfte er, und Umarmungen gibt es nur eine, mehr ist pro Bestellung nicht enthalten. Die Pizza war auch schon kalt, wir mussten sie noch einmal kurz in den Ofen schieben.
8
Als wir nach dem Essen kurz durchlüften, beginnt der Harfenist noch einmal zu klimpern, obwohl er sein Instrument sonst nie am Abend spielt. Er hat sogar sein Fenster heimlich gekippt. Irgendwie muss er die Verriegelung geknackt haben, ohne den Alarm auszulösen, denn seine Lüftzeiten sind eigentlich vormittags und längst vorbei. Ich glaube, er will mich locken. Ich schicke ihm per PN ein Gedicht, sofort hört sein Spiel auf. Oh, schöne Zeit! wo voller Geigen / Der Himmel hing, wo Elfenreigen / Und Nixentanz und Koboldscherz / Umgaukelt mein märchentrunkenes Herz! Die Antwort kommt binnen Sekunden. Er bringt seinen Müll immer dienstags runter, kurz nach uns, das ist zu schaffen, wenn ich etwas trödle und mich hinter den Tonnen versteckt halte. Ich google, wie man die Fenstersperre umgeht, aber der Suchbegriff ist geblockt. Wir sind nicht allein, selbst wenn es sich manchmal so anfühlt. Der Gedanke erschreckt und beruhigt zugleich. Vielleicht finden sie ja doch noch den Impfstoff, auch wenn es sich im Homeoffice schlecht weiterforschen lässt. Ich habe irgendwo gelesen, ein Virologe hat sich heimlich so lange absichtlich infiziert, bis er irgendwann genug Antikörper hatte und immun war. Jetzt ist er damit beschäftigt, sein altes Labor herzurichten, um weiterzuforschen. Aber es geht das Gerücht um, Wildschweine hätten inzwischen sein Labor zerstört und alle tiefgefrorenen Hefekulturen gefressen, die er für die Forschung gebraucht hätte. Der Natur kommt man nicht bei. Letzte Woche wurde unter meinem Schlafzimmerfenster eine Hauskatze von einem Wolfsrudel gerissen. Gekämpft hat sie aber wie ein Löwe.
9
Und wenn einmal auch noch der Rest unseres sozialen Gefüges zusammenbrechen wird und wir wie die Höhlenmenschen, um nicht zu verhungern, unsere Wohnungen verlassen, dann werden wir in die Wälder gehen, als neue Jäger und Sammler. Im Dickicht ist das Reh versteckt, / Das tränend seine Wunden leckt. Ich habe nie einen Vogel gebraten, aber in einer der ewigen Wiederholungen einer alten Doku (für neue bekommen sie gar nicht das Personal zusammen) habe ich gesehen, wie man Spatzen mithilfe von Drahtkäfigen fängt. Ich bin bereit.
Kultur trotz Corona: „Waldeinsamkeit zwanzigdreißig“. Von Philip Krömer>
Philip Krömer (*1988 in Amberg) studierte Germanistik und Buchwissenschaft. Er ist Mitbegründer des Homunculus Verlags und lebt als freier Schriftsteller und Vater zweier Söhne in Erlangen. Ausgezeichnet wurde er u.a. beim open mike Berlin (2015) und LITERATUR UPDATE der Literaturstiftung Bayern (2019). 2016 erschien sein hochgelobter Debütroman Ymir oder: Aus der Hirnschale der Himmel. Im Oktober 2019 folgte der Erzählungsband Ein Vogel ist er nicht – Neun Umschreibungen bei Topalian & Milani, Ulm. Im Sommer 2020 wurde Philip Krömer der Kulturpreis der Stadt Nürnberg zugesprochen.
Mit dem folgenden Text beteiligt sich Philip Krömer an „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
*
Waldeinsamkeit zwanzigdreißig
Wie haben mich lieblich die Elfen umflattert!
Ein luftiges Völkchen! das plaudert und schnattert!
Ein bisschen stechend ist der Blick,
Verheißend ein süßes, doch tödliches Glück.
- Heinrich Heine
1
In den Hangars verrosten die Flugzeuge, auf den toten Gleisen stehen tote Züge, die niemand mehr mit obszönen Schriftzügen beschmiert, die bereits bis über die Räder Moos angesetzt haben. Die Autobahnen überwuchert, der Asphalt bricht auf, Blumen sprießen. Rehe im Hinterhof, die jede Scheu vor den Menschen verloren haben, wer aber runtergeht, um sie aus der Nähe zu betrachten, und dabei von einer Drohne erwischt wird, dem stellen sie für drei Tage Fernsehen und W-Lan ab, und den möchte ich sehen, den das kaltlässt. Wiederholungstäter müssen auf Warmwasser verzichten, bekommen nur noch Grundnahrungsmittel (Wasser/Brot) geliefert, aber da muss man sich schon sehr uneinsichtig gezeigt haben. Der Verstoß gegen die Schutzauflagen ist heute neben der Cyberkriminalität die einzige Straftat, die man sich noch zuschulden kommen lassen kann. Was in den Wohnungen selbst passiert, interessiert nicht.
2
Dort sitzen wir alle zu Hause, und jeder für sich. Wer einsam war, der wird es bleiben. Glücklich, wer eine kleine Familie hat, in einer WG lebt oder noch bei seinen Eltern. Diogenes bleibt in seiner verdammten Tonne. Das kam so: Man glaubte, die Neuinfektionen unter Kontrolle zu haben, und ging vor die Tür, da rollte Welle um Welle an. Einen Monat draußen, drei drinnen, einen draußen, drei drinnen, bis man die Tür einfach zu ließ. Die offizielle Verordnung, der GROßE EINSCHLUSS, war dann nur noch eine Formalität.
3
Es heißt, die Augen seien das Fenster zur Seele, doch eigentlich ist das Fenster das Fenster zur Seele, denn hier drinnen passiert nicht mehr viel, und Seele braucht immer zumindest ein wenig Bewegung. Papa ruft uns ans Wohnzimmerfenster, unten prescht einer auf seinem Lieferfahrrad über die aufplatzende Straße, dem steht die ganze Welt offen: ein „Außenseiter“. „Abseits der Gesellschaft, einer Gruppe Stehender; jemand, der seine eigenen Wege geht“, steht im Duden zu dem Begriff. Nur war der Außenseiter früher der Ausgeschlossene. Heute ist es der Glückliche, der eine Infektion hinter sich hat, und dabei so viele Antikörper bilden konnte, dass er immun gegen das Virus wurde. Der Lieferant dreht quer zur Fahrbahn noch einen Slalom um die blinden Ampeln und rauscht von dannen, dem Empfänger von Pizza oder Thai-Curry entgegen, der ein halbes Vermögen dafür ausgegeben hat, nicht mit der Drohne beliefert zu werden, sondern einen richtigen Menschen vor der Tür stehen zu haben, der fragt: Sie hatten bestellt, dreimal Pizza, ja? An normalen Tagen würden wir jetzt vor Neid vergehen, aber heute spüren wir die Vorfreude.
4
In den Fabrikhallen hantieren Roboter und automatische Lastenkräne, den Einkauf bringt die Drohne und der Rest ist Homeoffice und Homeschooling und #stayathome immerfort.
5
Weil wir uns die letzten Wochen ganz besonders auf die Nerven gegangen sind, hat Papa, der als Autor arbeitet, ein Versöhnungsangebot gemacht, nicht ganz uneigennützig. Er hat 450 Euro Honorar für eine Science-Fiction-Story bekommen, und die hauen wir gleich auf den Kopf. Auch wir lassen uns Essen liefern. Von einer echten Person. Das ist außerdem billiger, als einen Außenseiter für einen Friendjob zu mieten, der dann für eine Stunde vorbeikommt und in der Küche ein Bierchen trinkt und mit dir quatscht. So viele Geschichten kann Papa gar nicht verkaufen, dass wir dafür genug Geld übrighätten. Übrigens sollte die Story eigentlich den Titel Bundesrepublik Dunkelheit tragen, aber Papa fand ihn zu „prätentiös“, und er sei doch ein seriöser Autor. Er hat sie dann anders genannt, und um uns seine angebliche „Ernsthaftigkeit“ zu demonstrieren, hat er lauter Scheiß gemacht, wie früher, vor dem GROßEN EINSCHLUSS. Er hat das Finale von Don Giovanni gesungen, und Mama hat geweint, weil er so schlecht singt, und weil er das so lange schon nicht mehr gemacht hat. Tu m’invitasti a cena, il tuo dover or sai, rispondimi: verrai tu a cenar meco? Tief aus der Brust, mit all den erhabenen Bühnengesten, aber lauter schiefen Tönen.
6
Was ich mich ehrlich frage: Sind wir schon die letzte Generation? Wenn das noch ewig so weitergeht, wie sollen sich dann überhaupt neue Paare kennenlernen und verlieben und miteinander Kinder zeugen? Die Außenseiter vererben ihre Immunität auch nicht, also bleiben sie lieber unter sich, und nur die wenigsten pflanzen sich fort, weil sie alle ihre Privilegien verlieren würden. Ab auf dein Zimmer, statt frei wie ein Vogel. Tinder funktioniert zwar noch, aber nur, weil irgendwer irgendwie die Server am Laufen hält. Das Unternehmen selbst ist längst bankrott. Die Auswahl beim Swipen zeigt mir wieder nur den Nachbarn von nebenan, nicht hässlich und eigentlich im passenden Alter, aber der übt früh morgens immer Harfe, man hört es durch die Wand, und das will ja nun wirklich keiner. Die Mauer, die unsere Hinterhöfe trennt, ist immerhin gar nicht so hoch. Vielleicht sollte ich ihn doch mal anschreiben, wer weiß, er hat neben Fernsehen und Zocken noch ein anderes Interesse, das ist nicht selbstverständlich, selbst wenn es eine Harfe ist. Wir könnten versuchen, die Zeitfenster zu synchronisieren, die uns zustehen, um den Müll runterzubringen, und uns sogar mal in echt treffen.
7
Gleich soll unsere Pizza kommen. Ich halte am Fenster Ausschau, Mama und Papa stehen im Flur wie Hunde, die auf ihr Herrchen warten. Nur hat man alle Hunde eingeschläfert, weil ja keiner mehr Gassigehen darf. Als es dann klingelt, seit Monaten zum ersten Mal, erschrecken wir, den Klang hatten wir schon komplett vergessen. Mama drückt den Summer, Papa reißt die Wohnungstür auf. Das Tappen im Treppenhaus. Hallo, Sie hatten bestellt, zweimal Speciale und eine Margherita, macht dreiundzwanzig Euro und vierhundert für die Lieferung, bitte. Kann ich das bar zahlen, hehe, scherzt Papa, zieht aber natürlich doch nur die Karte über das Lesegerät, bitteschön, stimmt so. Das Bargeld wurde längst abgeschafft. Ich glaube, man hatte einfach keine Verwendung mehr dafür. Papa bezahlt jedenfalls die vollen 450 Euro und gibt die Differenz als Trinkgeld, weil er sich einen kleinen Vorteil verschaffen will. Mama und Papa spannen die Muskeln an. Und als der Lieferant sagt, danke, voll lieb, und die Arme etwas öffnet, gibt es bei uns im Flur ein heftiges Gerangel, das Mama für sich entscheiden kann. Sie springt dem Immunen in die Arme und lässt sich zum Dank für das Trinkgeld kurz drücken. Das bisschen Körperkontakt mit einem Fremden ist wahrscheinlich fast wie Rausgehen. Papa ist sauer, aber er kann sich nicht beschweren, beim letzten Mal voriges Jahr durfte er, und Umarmungen gibt es nur eine, mehr ist pro Bestellung nicht enthalten. Die Pizza war auch schon kalt, wir mussten sie noch einmal kurz in den Ofen schieben.
8
Als wir nach dem Essen kurz durchlüften, beginnt der Harfenist noch einmal zu klimpern, obwohl er sein Instrument sonst nie am Abend spielt. Er hat sogar sein Fenster heimlich gekippt. Irgendwie muss er die Verriegelung geknackt haben, ohne den Alarm auszulösen, denn seine Lüftzeiten sind eigentlich vormittags und längst vorbei. Ich glaube, er will mich locken. Ich schicke ihm per PN ein Gedicht, sofort hört sein Spiel auf. Oh, schöne Zeit! wo voller Geigen / Der Himmel hing, wo Elfenreigen / Und Nixentanz und Koboldscherz / Umgaukelt mein märchentrunkenes Herz! Die Antwort kommt binnen Sekunden. Er bringt seinen Müll immer dienstags runter, kurz nach uns, das ist zu schaffen, wenn ich etwas trödle und mich hinter den Tonnen versteckt halte. Ich google, wie man die Fenstersperre umgeht, aber der Suchbegriff ist geblockt. Wir sind nicht allein, selbst wenn es sich manchmal so anfühlt. Der Gedanke erschreckt und beruhigt zugleich. Vielleicht finden sie ja doch noch den Impfstoff, auch wenn es sich im Homeoffice schlecht weiterforschen lässt. Ich habe irgendwo gelesen, ein Virologe hat sich heimlich so lange absichtlich infiziert, bis er irgendwann genug Antikörper hatte und immun war. Jetzt ist er damit beschäftigt, sein altes Labor herzurichten, um weiterzuforschen. Aber es geht das Gerücht um, Wildschweine hätten inzwischen sein Labor zerstört und alle tiefgefrorenen Hefekulturen gefressen, die er für die Forschung gebraucht hätte. Der Natur kommt man nicht bei. Letzte Woche wurde unter meinem Schlafzimmerfenster eine Hauskatze von einem Wolfsrudel gerissen. Gekämpft hat sie aber wie ein Löwe.
9
Und wenn einmal auch noch der Rest unseres sozialen Gefüges zusammenbrechen wird und wir wie die Höhlenmenschen, um nicht zu verhungern, unsere Wohnungen verlassen, dann werden wir in die Wälder gehen, als neue Jäger und Sammler. Im Dickicht ist das Reh versteckt, / Das tränend seine Wunden leckt. Ich habe nie einen Vogel gebraten, aber in einer der ewigen Wiederholungen einer alten Doku (für neue bekommen sie gar nicht das Personal zusammen) habe ich gesehen, wie man Spatzen mithilfe von Drahtkäfigen fängt. Ich bin bereit.