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22.09.2020, 15:33 Uhr
SAID
Kultur trotz Corona

Kultur trotz Corona: Über das Tian'anmen-Massaker 1989. „der flüsterer“ von SAID

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Zeitungsausschnitt der "Times" vom 5. Juni 1989

SAID (* 1947 in Teheran), kam 1965 als Student nach München. Nach dem Sturz des Schah 1979 kehrte er wieder zurück in seine iranische Heimat, sah aber unter dem Regime der Mullahs keine Möglichkeit zu bleiben. Seither lebt er in München – als deutschsprachiger Dichter aus dem Iran. Von 1995 bis 1996 war er Vizepräsident, von 2000 bis 2002 Präsident des deutschen P.E.N.-Zentrums. Für sein literarisches Schaffen in deutscher Sprache erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Adelbert-von-Chamisso-Preis (2002), den Literaturpreis des Freien Deutschen Autorenverbands (2010), den Friedrich-Rückert-Preis (2016) und zuletzt den Alfred-Müller-Felsenburg-Preis für aufrechte Literatur (2017).

Mit dem folgenden Text, der sich aus heutiger Perspektive mit dem politischen Ereignis am 4. Juni 1989, dem Tian'anmen-Massaker, auseinandersetzt, beteiligt sich SAID an Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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der flüsterer

4. Juni 1989

die gassen nähern sich lautlos, als hätten sie keine absichten. lautlos wie die ratten, die nun aus ihren löchern herauskriechen. man wispert von panzern nah dem großen platz. in den umliegenden straßen beginnen die ratten schon mit der vorarbeit. passanten, die das wort „ich“ gebrauchen, sind gefährdet.

in solchen momenten ruft man nach mir.

ich habe meine methode: erst genau hinschauen. vielleicht geschieht das alles nur in einem laboratorium. mit einer pinzette herausgegriffen – nadel und zwirn zur hand. man weiß ja, die kontrollmonitore werden selten eingeschaltet, nur im falle eines krieges gegen die aggressoren aus dem ausland.

doch meine erfahrung gebietet, mich vorerst nicht zu äußern, wenn der staat handelt. selbst wenn die bürger ihren schritt beschleunigen. da sie die ratten kennen und ihren sinn für die ordnung.

wie auch immer, meine maxime lautet: hauptsache, es geschieht nicht viel, hauptsache der große platz bleibt stehen. ich fürchte nur die bilder, die ich sehe. hier besitzt jeder ein smartphone und schädigt damit dem ansehen unseres landes.

inmitten dieser sorgen entdecke ich eine kleine monatsrose am rande des asphalts. will sie etwa der volksrepublik paroli bieten? vergessen wir das detail. ich werde dafür bezahlt, die details zu registrieren, die adäquat sind. aus denen entwickle ich eine strategie, nicht für diese stadt mit ihren millionen menschen, sondern für die zukunft.

ich lockere meine krawatte, gehe herum und memoriere, was man über mich erzählt.

– er ist ein zerknitterter flüsterer.

ich habe nie verstanden, wie die leute auf das adjektiv gekommen sind, zerknittert. eigentlich bin ich das ewige maskottchen, eine art botschafter für sondermissionen. mein blick sucht in den gesichtern, ich will die unruhestifter dingfest machen. dabei ist aus meiner sicht die sache sehr einfach: die ruhe kehrte ein, wenn die bürger nur zu hause blieben.

die demonstranten verstummen bei meinem anblick. ich weiß, sie nennen meinen namen nie.

bei diesem staatsvolk hat meine namenlosigkeit tradition. sie erzählen sich:

– der flüsterer zögert nur sekunden, bevor er zuschlägt.

doch ich schlage nie zu, ich lege nie hand an. meine objekte sind nicht körper, sondern blicke, stimmen und gerüchte. ich behandle meine sachgebiete gewissenhaft. böse zungen behaupten, bis zur seelenlosigkeit. aber was hat der staat mit der seele zu tun?

man sagt über mich auch, der flüsterer habe die visage eines falschen zeugen. aber meine mission besteht darin, präzise zu berichten, ohne leidenschaft, ohne präferenzen. den rest erledigt der staat. mit welchen mitteln, kümmert mich nicht.

– die ratten werden in diesem sommer viel zu fressen haben.

auch dieser satz stammt nicht von mir, ratten ekeln mich an. ich ernähre mich weder von ratten noch von panzern, wie man von mir behauptet. freilich, panzer haben nicht gelernt, ungebärdige mit geduld zu behandeln. ein junger mann stellt sich ihnen ganz allein entgegen. das foto sieht man zeitgleich in der ganzen welt wie die ergreifende schlußszene eines hollywood-films.

dennoch, ich muß meine pflicht tun. ich flüstere, bis die panzer sich zurückziehen. ich flüstere sätze, die nur für eingeweihte bestimmt sind. mein rapport wird eine fließende erzählung sein. ich flüstere so lange, bis wörter und panzer zusammenpassen.

ich gehe durch die reihen und höre diskret zu. die demonstranten verlieren ihr gedächtnis und produzieren weiter billigwaren für den export.

der sommer geht bald zu ende und bringt kein narrativ. übrig bleibt das bild einer masse, die durch die dunkelheit stapft, blind und ziellos –

bis die ruhe wiederhergestellt ist.

dann kommt die zeit für besinnung und korrekturen. bald darauf verzichtet der staat gänzlich auf die verhöre, damit die bürger nicht an ihren eigenen antworten ersticken.

das ganze dauert nur einen tag. die folgende nacht lernt nicht viel von den studenten. mit ihren kleinen runden brillen breiten sie am tag darauf zeitungen auf dem großen platz aus und fahren mit der hand über die buchstaben. man könnte meinen, sie suchen zwischen den zeilen nach einer wahrheit.

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