Kultur trotz Corona: „Balkoniaden“. Von Dagmar Leupold
Dagmar Leupold hat für ihr schriftstellerisches Werk etliche Auszeichnungen erhalten, darunter den Tukan-Preis für den Roman Unter der Hand. Sie leitet das Studio Literatur und Theater an der Universität Tübingen. Ihr Roman Die Witwen war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Dagmar Leupold lebt in München. Ihr letzter Roman Lavinia erschien im August 2019.
Mit dem folgenden Text beteiligt sie sich an „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
*
Balkoniaden
Wer, wie ich, einen Balkon hat, der nicht zur Straße, sondern zu einer ganzen Serie von Innenhöfen und -gärten hinausgeht, für den wird das Gebot der Stunde – Distanziert euch! – akustisch konterkariert. Wie in einem Amphitheater ist jeder Laut, auch der geflüsterte, im gesamten Rund wunderbar deutlich zu vernehmen. Ich habe Nähe-Erlebnisse der intimsten Art, Stimmen werden mir vertraut, deren Träger ich nicht kenne, auch nicht erkennen würde, träfe ich sie im Supermarkt um die Ecke oder in der Eisdiele zwei Straßen weiter. Man wird zum – ja, wie nennt man die akustische Analogie zum Voyeur? – zum Ohrenzeugen.
Da dringen Corona-Erziehungsstrategien („Power dein Kind aus“) herauf, da spielen sich Beziehungskisten und -dramen („Mich kannst du nicht streamen!“) als Hörspiel ab, da sind die hilflosen Trostversuche einsamer Großeltern am Telefon („Du hast doch immer so gern Puzzle gelegt“). Neben der akustisch vernehmbaren gibt es aber auch stumme Gesellschaft: Auf dem wackligen Balkontischchen liegen drei Bücher, scheinbar spielerisch-wahllos aus dem Regal gezogen, nein, eigentlich entliehen, denn die eigenen Bestände werden in dieser Zeit verheißungsvoll unbekannt wie die einer öffentlichen Bibliothek. Zuoberst Walter Benjamins wunderbare autobiographische Skizzen „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“. Loggien lautet der Titel des Texts, der in der Fassung letzter Hand den Auftakt macht.
Nichts kräftigte [meine Erinnerung] inniger als der Blick in Höfe, von deren dunklen Loggien eine [...] für mich die Wiege war, in die die Stadt den neuen Bürger legte. [...] Alles wurde mir im Hof zum Wink.
Das Tröstliche und das Zwittrige an Balkonen ist hier genau erfasst, man sitzt allein darauf und ist doch verbunden. Sie gehören einerseits dem intimen, privaten Bereich – Wiege – an und sind doch gleichzeitig Teil des öffentlichen Raums, gewissermaßen sein Aushang: für die Bürger der Stadt.
Während meine Ohren nun die Verbindung zum Draußen halten, versinke ich lesend in Innenwelten. Gerade wird ja allenthalben das Loblied aufs Lesen angestimmt, diese mobile Immobilität, dieses Im-Sitzen-Reisen. Und ja, das tut bei so hochdosiert verordneter Stillhaltung ausgesprochen gut. Und über das Lesen (und Wiederlesen) erweist sich auch der ein oder andere literarische Text als Blaupause für das Pandemie-Geschehen und, nicht weniger wichtig, dessen politische Verwaltung. Ein Geschehen, das wir, mangels Erfahrung, als singulär und überwältigend erleben.
Das was Lesen jenseits von Kanons, Bildungshuberei und Schulfolter eigentlich ist, kommt nun aufs Schönste zum Vorschein: nämlich ein Wahrnehmungskorrektiv, Unterhaltung, Erfahrungszuwachs und -austausch, Trost. Allein mit Benjamins Loggien bin ich, auf meinem Balkon, schon weniger allein.
Ich schlage das zweite Buch auf, Heinrich von Kleists Theatertexte, blättere und stoße auf „Robert Guiskard“, ein Fragment gebliebenes frühes Drama, das vom Heerführer der Normannen, eben jenem Robert Guiskard, berichtet, der Byzanz erobern will, wo längst die Pest wütet. Er selbst hat sich bereits angesteckt, verschweigt dies allerdings. Gerüchteweise wird dennoch davon geraunt, die Soldaten sind beunruhigt:
Guiskard, lachend:
Vom Pesthauch angeweht! Ihr seid wohl toll, ihr! / Ob ich wie einer ausseh, der die Pest hat? / Der ich in Lebensfüll hier vor euch stehe? / Der seiner Glieder jegliches beherrscht / [...] / Mein Leib ward jeder Krankheit mächtig noch. / Und wärs die Pest auch, so versichr‘ ich euch: / an diesen Knochen nagt sie selbst sich krank!
Ein frühes Lehrstück in Sachen alternative Fakten – ich habe beim Lesen dieser Protz-Passage die Pressekonferenzen im Rosengarten des Weißen Hauses förmlich vor Augen, nichts fehlt – bis auf die rote Krawatte in Überlänge.
Die Sonne ist gewandert und beleuchtet das dritte Buch, strenges schwarz-weißes Cover, „Mohn und Gedächtnis“, von Paul Celan. Der Titel des Gedichts? Corona. Mit diesen Versen endet es:
es ist Zeit, daß man weiß! / Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt, / daß der Unrast ein Herz schlägt. / Es ist Zeit, daß es Zeit wird. / Es ist Zeit.
So passgenaue Lektüren? Höre ich einwenden. Ja und nein. Lesen ist eben immer auch ein lustvolles Blättern, war da nicht eine Stelle rechts oben? In der Nähe eines Sonnenmilchflecks vom vorletzten Urlaub? Halb Zufall, halb Fahnden – und unversehens begegnen wir dem Gesuchten. Ganz ohne Google Maps.
Eine kräftige Frauenstimme ertönt aus der Tiefe des Hofgartens: „Lea-Marie, kommst du zum Essen?“
Da habe ich den Braten längst gerochen. Und trolle mich meinerseits in die Küche.
Kultur trotz Corona: „Balkoniaden“. Von Dagmar Leupold>
Dagmar Leupold hat für ihr schriftstellerisches Werk etliche Auszeichnungen erhalten, darunter den Tukan-Preis für den Roman Unter der Hand. Sie leitet das Studio Literatur und Theater an der Universität Tübingen. Ihr Roman Die Witwen war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Dagmar Leupold lebt in München. Ihr letzter Roman Lavinia erschien im August 2019.
Mit dem folgenden Text beteiligt sie sich an „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
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Balkoniaden
Wer, wie ich, einen Balkon hat, der nicht zur Straße, sondern zu einer ganzen Serie von Innenhöfen und -gärten hinausgeht, für den wird das Gebot der Stunde – Distanziert euch! – akustisch konterkariert. Wie in einem Amphitheater ist jeder Laut, auch der geflüsterte, im gesamten Rund wunderbar deutlich zu vernehmen. Ich habe Nähe-Erlebnisse der intimsten Art, Stimmen werden mir vertraut, deren Träger ich nicht kenne, auch nicht erkennen würde, träfe ich sie im Supermarkt um die Ecke oder in der Eisdiele zwei Straßen weiter. Man wird zum – ja, wie nennt man die akustische Analogie zum Voyeur? – zum Ohrenzeugen.
Da dringen Corona-Erziehungsstrategien („Power dein Kind aus“) herauf, da spielen sich Beziehungskisten und -dramen („Mich kannst du nicht streamen!“) als Hörspiel ab, da sind die hilflosen Trostversuche einsamer Großeltern am Telefon („Du hast doch immer so gern Puzzle gelegt“). Neben der akustisch vernehmbaren gibt es aber auch stumme Gesellschaft: Auf dem wackligen Balkontischchen liegen drei Bücher, scheinbar spielerisch-wahllos aus dem Regal gezogen, nein, eigentlich entliehen, denn die eigenen Bestände werden in dieser Zeit verheißungsvoll unbekannt wie die einer öffentlichen Bibliothek. Zuoberst Walter Benjamins wunderbare autobiographische Skizzen „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“. Loggien lautet der Titel des Texts, der in der Fassung letzter Hand den Auftakt macht.
Nichts kräftigte [meine Erinnerung] inniger als der Blick in Höfe, von deren dunklen Loggien eine [...] für mich die Wiege war, in die die Stadt den neuen Bürger legte. [...] Alles wurde mir im Hof zum Wink.
Das Tröstliche und das Zwittrige an Balkonen ist hier genau erfasst, man sitzt allein darauf und ist doch verbunden. Sie gehören einerseits dem intimen, privaten Bereich – Wiege – an und sind doch gleichzeitig Teil des öffentlichen Raums, gewissermaßen sein Aushang: für die Bürger der Stadt.
Während meine Ohren nun die Verbindung zum Draußen halten, versinke ich lesend in Innenwelten. Gerade wird ja allenthalben das Loblied aufs Lesen angestimmt, diese mobile Immobilität, dieses Im-Sitzen-Reisen. Und ja, das tut bei so hochdosiert verordneter Stillhaltung ausgesprochen gut. Und über das Lesen (und Wiederlesen) erweist sich auch der ein oder andere literarische Text als Blaupause für das Pandemie-Geschehen und, nicht weniger wichtig, dessen politische Verwaltung. Ein Geschehen, das wir, mangels Erfahrung, als singulär und überwältigend erleben.
Das was Lesen jenseits von Kanons, Bildungshuberei und Schulfolter eigentlich ist, kommt nun aufs Schönste zum Vorschein: nämlich ein Wahrnehmungskorrektiv, Unterhaltung, Erfahrungszuwachs und -austausch, Trost. Allein mit Benjamins Loggien bin ich, auf meinem Balkon, schon weniger allein.
Ich schlage das zweite Buch auf, Heinrich von Kleists Theatertexte, blättere und stoße auf „Robert Guiskard“, ein Fragment gebliebenes frühes Drama, das vom Heerführer der Normannen, eben jenem Robert Guiskard, berichtet, der Byzanz erobern will, wo längst die Pest wütet. Er selbst hat sich bereits angesteckt, verschweigt dies allerdings. Gerüchteweise wird dennoch davon geraunt, die Soldaten sind beunruhigt:
Guiskard, lachend:
Vom Pesthauch angeweht! Ihr seid wohl toll, ihr! / Ob ich wie einer ausseh, der die Pest hat? / Der ich in Lebensfüll hier vor euch stehe? / Der seiner Glieder jegliches beherrscht / [...] / Mein Leib ward jeder Krankheit mächtig noch. / Und wärs die Pest auch, so versichr‘ ich euch: / an diesen Knochen nagt sie selbst sich krank!
Ein frühes Lehrstück in Sachen alternative Fakten – ich habe beim Lesen dieser Protz-Passage die Pressekonferenzen im Rosengarten des Weißen Hauses förmlich vor Augen, nichts fehlt – bis auf die rote Krawatte in Überlänge.
Die Sonne ist gewandert und beleuchtet das dritte Buch, strenges schwarz-weißes Cover, „Mohn und Gedächtnis“, von Paul Celan. Der Titel des Gedichts? Corona. Mit diesen Versen endet es:
es ist Zeit, daß man weiß! / Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt, / daß der Unrast ein Herz schlägt. / Es ist Zeit, daß es Zeit wird. / Es ist Zeit.
So passgenaue Lektüren? Höre ich einwenden. Ja und nein. Lesen ist eben immer auch ein lustvolles Blättern, war da nicht eine Stelle rechts oben? In der Nähe eines Sonnenmilchflecks vom vorletzten Urlaub? Halb Zufall, halb Fahnden – und unversehens begegnen wir dem Gesuchten. Ganz ohne Google Maps.
Eine kräftige Frauenstimme ertönt aus der Tiefe des Hofgartens: „Lea-Marie, kommst du zum Essen?“
Da habe ich den Braten längst gerochen. Und trolle mich meinerseits in die Küche.