Logen-Blog [86]: Über Hamann und die anderen Alten
Ein großer Autor und ein nach wie vor ergreifendes Stück: Johann Georg Hamann und Thornton Wilders Our town (Unsere kleine Stadt), das Jean Paul vermutlich gemocht hätte – so wie er Hamann nicht allzu sehr mochte: zuviel literarische „Speckgewülste und Hitzblattern“.
Und die sog. Klassische Bildung? Wie hält es der Winkelschullehrer und Hofmeister damit? In einem gewaltigen Exkurs, der „zwei Erzieh-Idiotismen“ enthält, möchte er beweisen, „daß und warum das Studium der Alten niedersinke und daß es zweitens wenig verschlage“. Hier wird sich jeder, der einst an Cicero, Cäsar oder Augustinus litt, genüsslich die Hände reiben, obwohl es weniger um „die Alten“ selbst geht als um ihre Kinder: die Neulateiner und Nachahmer, die noch im 18. Jahrhundert in der sog. Toten Sprache ihre Werke verfassen.
Wer nun glaubt, daß im theoretischen Exkurs nur der Staub einer erledigten Philologenschelte begraben liegt, irrt. Wenn man in Stimmung ist und den Text zügig liest, macht das durchaus Spaß: man kommt auf den Geschmack, weil der Geschmack sich an Jean Pauls Thesen und Antithesen bildet. Ja, es macht Spaß, von Autoren zu lesen, die man nie erforschen wird. Es macht Freude, einzelne Lehrsätze aufzugreifen, die vom Speziellen ins Allgemeine gleiten.
Per exemplum: „Die Alten fühlten den Wert der Alten – nicht; und ihre Einfachheit wird bloß von denen genossen, von denen sie nicht erreicht werden, von uns.“ Ist es nicht immer so: daß man, befangen in der Schönheit des Lebens, es selbst nicht wahrnimmt? Vorgestern kam ich wieder auf diese einzigartige, einzigartig bewegende Stelle[1] in Thornton Wilders Our town, jenem Wunder- und Meisterstück des Alten, das, vor einem Dreivierteljahrhundert geschrieben (eine Ewigkeit für ein Theaterstück), so wahr und so unverbraucht ist wie am Premierentag. Oder: „Die reinen einfachen Sitten und Wendungen eines Älplers oder Tirolers bewundert weder der eigne Besitzer, noch sein Landsmann, sondern der gebildete Hof, der sie nicht erreichen kann.“ Damit wird die Situation des „Salontirolers“[2] treffend beschrieben - auch die des Thailandtouristen, des Reisenden, der so gern in „exotische“ Gegenden reist. „Die Alten schrieben“, sagt der Lehrer, „mit einem unwillkürlichen Geschmack, ohne damit zu lesen – wie die jetzigen genievollen Autoren, z.B. Hamann, mit weit mehr Geschmack lesen als schreiben“. So entdeckt der Kenner der zeitgenössischen Literatur „Speckgewülste und Hitzblattern an den sonst gesunden Kindern eines Plato, Äschylus, sogar eines Cicero“ – bei der Erwähnung des Namens „Hamann“ gibt es bei mir das pure, proustsche Synapsengewitter. Denke ich an Johann Georg Hamann, so assoziiere ich sofort zwei Situationen: ich sehe mich, mit dem Reclamheft der Aesthetica in nuce und der Sokratischen Denkwürdigkeiten in der Hand, im Volkspark Wilmersdorf sitzen. Ich sehe mich im Hörsaal in der Rostlaube der FU an der Habelschwerdter Alle, als Lothar Markschies – einer jener durch Sachlichkeit und größte Kenntnisse der Literaturgeschichte prägenden Professoren – seine exzellente Vorlesung über den Sturm und Drang hielt. Damals las ich Hamann, den zu seiner Zeit schwer Umstrittenen: ein heller, unorthodoxer Kopf, der mich durch seine eigentümliche Denkweise faszinierte. Hamann war zwar ein Kritiker der Aufklärung, doch diskreditierte ihn dies, glaube (!) ich, nicht vor den Augen einer Vernunft, die in dieser Aufklärungskritik vielleicht eine eigene Art von Illumination entdeckte. Hamanns Stil fand ich damals sehr lebendig; Jean Paul meinte zwar, daß er „Speckgewülste“ besitze, aber wenn ich Jean Paul lese, müsste ich ebenso feststellen, daß reine Klarheit etwas durchaus Anderes ist. Er scheint mir da im Glashaus zu sitzen, aber vielleicht meinte er ja auch nur die Art und Weise, wie Hamann mit der antiken Sprache umging, indem er in den Fußnoten original griechisch und lateinisch zitierte. Allein es macht immer noch Spaß, sich in Hamanns polemische Welt zu begeben: „Das Publicum in Griechenland laß die Denkwürdigkeiten des Aristoteles über die Naturgeschichte der Thiere, und Alexander verstand sie. Wo ein gemeiner Leser nichts als Schimmel sehen möchte, wird der Affect der Freundschaft Ihnen, Meine Herren, in diesen Blättern vielleicht ein mikroskopisch Wäldchen entdecken.“
Ja, es macht Freude, im „Magus des Nordens“ (wie Hamann genannt wurde) einen Autor und dessen „Speckgewülste und Hitzblattern“ wiederzuentdecken. Immerhin ist er einer der übrig gebliebenen älteren Autoren – ganz im Gegensatz zu Balzac, der inzwischen – außer von einigen Kryptophilologen – völlig vergessen wurde.
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[1] Wer das Stück kennt, wird sofort begreifen, um welche Stelle es hier geht. Wer nicht weiß, was gemeint ist, sollte sich sofort das Stück besorgen und lesen. Tolle et lege!, wie einer der großen Alten gesagt hätte. [2] Wie meine Mutter immer die aus den Städten anreisenden Touristen im Bayerischen Wald, einem der Gräber meiner Jugend, bezeichnete.
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Ein großer Autor und ein nach wie vor ergreifendes Stück: Johann Georg Hamann und Thornton Wilders Our town (Unsere kleine Stadt), das Jean Paul vermutlich gemocht hätte – so wie er Hamann nicht allzu sehr mochte: zuviel literarische „Speckgewülste und Hitzblattern“.
Und die sog. Klassische Bildung? Wie hält es der Winkelschullehrer und Hofmeister damit? In einem gewaltigen Exkurs, der „zwei Erzieh-Idiotismen“ enthält, möchte er beweisen, „daß und warum das Studium der Alten niedersinke und daß es zweitens wenig verschlage“. Hier wird sich jeder, der einst an Cicero, Cäsar oder Augustinus litt, genüsslich die Hände reiben, obwohl es weniger um „die Alten“ selbst geht als um ihre Kinder: die Neulateiner und Nachahmer, die noch im 18. Jahrhundert in der sog. Toten Sprache ihre Werke verfassen.
Wer nun glaubt, daß im theoretischen Exkurs nur der Staub einer erledigten Philologenschelte begraben liegt, irrt. Wenn man in Stimmung ist und den Text zügig liest, macht das durchaus Spaß: man kommt auf den Geschmack, weil der Geschmack sich an Jean Pauls Thesen und Antithesen bildet. Ja, es macht Spaß, von Autoren zu lesen, die man nie erforschen wird. Es macht Freude, einzelne Lehrsätze aufzugreifen, die vom Speziellen ins Allgemeine gleiten.
Per exemplum: „Die Alten fühlten den Wert der Alten – nicht; und ihre Einfachheit wird bloß von denen genossen, von denen sie nicht erreicht werden, von uns.“ Ist es nicht immer so: daß man, befangen in der Schönheit des Lebens, es selbst nicht wahrnimmt? Vorgestern kam ich wieder auf diese einzigartige, einzigartig bewegende Stelle[1] in Thornton Wilders Our town, jenem Wunder- und Meisterstück des Alten, das, vor einem Dreivierteljahrhundert geschrieben (eine Ewigkeit für ein Theaterstück), so wahr und so unverbraucht ist wie am Premierentag. Oder: „Die reinen einfachen Sitten und Wendungen eines Älplers oder Tirolers bewundert weder der eigne Besitzer, noch sein Landsmann, sondern der gebildete Hof, der sie nicht erreichen kann.“ Damit wird die Situation des „Salontirolers“[2] treffend beschrieben - auch die des Thailandtouristen, des Reisenden, der so gern in „exotische“ Gegenden reist. „Die Alten schrieben“, sagt der Lehrer, „mit einem unwillkürlichen Geschmack, ohne damit zu lesen – wie die jetzigen genievollen Autoren, z.B. Hamann, mit weit mehr Geschmack lesen als schreiben“. So entdeckt der Kenner der zeitgenössischen Literatur „Speckgewülste und Hitzblattern an den sonst gesunden Kindern eines Plato, Äschylus, sogar eines Cicero“ – bei der Erwähnung des Namens „Hamann“ gibt es bei mir das pure, proustsche Synapsengewitter. Denke ich an Johann Georg Hamann, so assoziiere ich sofort zwei Situationen: ich sehe mich, mit dem Reclamheft der Aesthetica in nuce und der Sokratischen Denkwürdigkeiten in der Hand, im Volkspark Wilmersdorf sitzen. Ich sehe mich im Hörsaal in der Rostlaube der FU an der Habelschwerdter Alle, als Lothar Markschies – einer jener durch Sachlichkeit und größte Kenntnisse der Literaturgeschichte prägenden Professoren – seine exzellente Vorlesung über den Sturm und Drang hielt. Damals las ich Hamann, den zu seiner Zeit schwer Umstrittenen: ein heller, unorthodoxer Kopf, der mich durch seine eigentümliche Denkweise faszinierte. Hamann war zwar ein Kritiker der Aufklärung, doch diskreditierte ihn dies, glaube (!) ich, nicht vor den Augen einer Vernunft, die in dieser Aufklärungskritik vielleicht eine eigene Art von Illumination entdeckte. Hamanns Stil fand ich damals sehr lebendig; Jean Paul meinte zwar, daß er „Speckgewülste“ besitze, aber wenn ich Jean Paul lese, müsste ich ebenso feststellen, daß reine Klarheit etwas durchaus Anderes ist. Er scheint mir da im Glashaus zu sitzen, aber vielleicht meinte er ja auch nur die Art und Weise, wie Hamann mit der antiken Sprache umging, indem er in den Fußnoten original griechisch und lateinisch zitierte. Allein es macht immer noch Spaß, sich in Hamanns polemische Welt zu begeben: „Das Publicum in Griechenland laß die Denkwürdigkeiten des Aristoteles über die Naturgeschichte der Thiere, und Alexander verstand sie. Wo ein gemeiner Leser nichts als Schimmel sehen möchte, wird der Affect der Freundschaft Ihnen, Meine Herren, in diesen Blättern vielleicht ein mikroskopisch Wäldchen entdecken.“
Ja, es macht Freude, im „Magus des Nordens“ (wie Hamann genannt wurde) einen Autor und dessen „Speckgewülste und Hitzblattern“ wiederzuentdecken. Immerhin ist er einer der übrig gebliebenen älteren Autoren – ganz im Gegensatz zu Balzac, der inzwischen – außer von einigen Kryptophilologen – völlig vergessen wurde.
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[1] Wer das Stück kennt, wird sofort begreifen, um welche Stelle es hier geht. Wer nicht weiß, was gemeint ist, sollte sich sofort das Stück besorgen und lesen. Tolle et lege!, wie einer der großen Alten gesagt hätte. [2] Wie meine Mutter immer die aus den Städten anreisenden Touristen im Bayerischen Wald, einem der Gräber meiner Jugend, bezeichnete.