Annika Reich über ihr wankendes europäisches Selbstverständnis
Annika Reich, 1973 in München geboren, lebt in Berlin und ist Schriftstellerin und Aktivistin. Ihre Romane und Kinderbücher erscheinen im Carl Hanser Verlag, zuletzt der Roman „Die Nächte auf ihrer Seite" (2015) sowie die Kinderbuchreihe rund um LOTTO (2016 und 2018). Seit 2013 ist sie Mitherausgeberin und Kolumnistin von 10nach8 bei Zeit Online. 2015 hat sie das Aktionsbündnis WIR MACHEN DAS mitgegründet und ist seither im Leitungsteam und Künstlerische Leiterin des preisgekrönten Literaturportals für Autorinnen aus Krisengebieten WEITER SCHREIBEN. Der folgende Beitrag ist für die Anthologie „Wir sind hier. Geschichten über das Ankommen“ entstanden, an der das Literaturportal Bayern als Kooperationspartner beteiligt war.
*
Aufbruch aus dem Angekommensein
Schattenseiten, Kippfiguren
Buchumschlag von „Wir sind hier. Geschichten über das Ankommen“ (Allitera Verlag)
Als ich darüber nachdachte, was ich zum Thema Ankommen schreiben könnte, dachte ich zuerst, ich könnte die Geschichte der jungen, damals schwangeren Irakerin Esra erzählen, die ich 2015 mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn an einem Freitagabend im strömenden Regen eingeladen hatte, sich in mein Auto zu setzen, und seither bei ihrem Ankommen in Berlin begleite. Die Geschichte meiner Freundin Esra, mit der alles begann. Doch dann wurde mir klar: Wenn ich von Esras Ankommen erzähle und nicht von dem Aufbruch aus meinem Angekommensein, dann drücke ich mich wieder darum zu verstehen, wie sehr meine Geschichten des Immer-schon-Angekommenseins mit den Schwierigkeiten des Ankommens der hierher geflohenen Menschen zusammenhängen.
So wie Integration das falsche Konzept ist, weil es nur von einer Richtung aus denkt, so ist auch Ankommen, wenn es nur das (Nicht-)Ankommen der anderen denkt, falsch.
Annika Reich beim Festival Acht Mal Ankommen in der Monacensia, in Kooperation u.a. mit WIR MACHEN DAS und dem Literaturportal Bayern © Verena Kathrein
All das bedeutet für mich, dass ich nicht vom Nichtwissenwollen in das Nichtstunkönnen fliehe. Es bedeutet für mich auch, dass ich nicht nur selbst aktiv werde, sondern die Citizenship, von der ich bisher ausgegangen bin, selbst herstellen muss. Ich muss also herstellen, was ich bisher fälschlicherweise in den Teil von mir, der sich als Europäerin sieht, hineinprojiziert habe. Ich muss aus dem (ungerechtfertigten) Gefühl, auf der „sicheren Seite“ zu stehen, heraustreten, das gesamte Bild aushalten und aus dieser Perspektive ein Europäischsein neu schaffen, dass das Wertesystem, von dem ich ausgegangen bin, erst herstellt.
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Annika Reich, 1973 in München geboren, lebt in Berlin und ist Schriftstellerin und Aktivistin. Ihre Romane und Kinderbücher erscheinen im Carl Hanser Verlag, zuletzt der Roman „Die Nächte auf ihrer Seite" (2015) sowie die Kinderbuchreihe rund um LOTTO (2016 und 2018). Seit 2013 ist sie Mitherausgeberin und Kolumnistin von 10nach8 bei Zeit Online. 2015 hat sie das Aktionsbündnis WIR MACHEN DAS mitgegründet und ist seither im Leitungsteam und Künstlerische Leiterin des preisgekrönten Literaturportals für Autorinnen aus Krisengebieten WEITER SCHREIBEN. Der folgende Beitrag ist für die Anthologie „Wir sind hier. Geschichten über das Ankommen“ entstanden, an der das Literaturportal Bayern als Kooperationspartner beteiligt war.
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Aufbruch aus dem Angekommensein
Schattenseiten, Kippfiguren
Buchumschlag von „Wir sind hier. Geschichten über das Ankommen“ (Allitera Verlag)
Als ich darüber nachdachte, was ich zum Thema Ankommen schreiben könnte, dachte ich zuerst, ich könnte die Geschichte der jungen, damals schwangeren Irakerin Esra erzählen, die ich 2015 mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn an einem Freitagabend im strömenden Regen eingeladen hatte, sich in mein Auto zu setzen, und seither bei ihrem Ankommen in Berlin begleite. Die Geschichte meiner Freundin Esra, mit der alles begann. Doch dann wurde mir klar: Wenn ich von Esras Ankommen erzähle und nicht von dem Aufbruch aus meinem Angekommensein, dann drücke ich mich wieder darum zu verstehen, wie sehr meine Geschichten des Immer-schon-Angekommenseins mit den Schwierigkeiten des Ankommens der hierher geflohenen Menschen zusammenhängen.
So wie Integration das falsche Konzept ist, weil es nur von einer Richtung aus denkt, so ist auch Ankommen, wenn es nur das (Nicht-)Ankommen der anderen denkt, falsch.
Annika Reich beim Festival Acht Mal Ankommen in der Monacensia, in Kooperation u.a. mit WIR MACHEN DAS und dem Literaturportal Bayern © Verena Kathrein
All das bedeutet für mich, dass ich nicht vom Nichtwissenwollen in das Nichtstunkönnen fliehe. Es bedeutet für mich auch, dass ich nicht nur selbst aktiv werde, sondern die Citizenship, von der ich bisher ausgegangen bin, selbst herstellen muss. Ich muss also herstellen, was ich bisher fälschlicherweise in den Teil von mir, der sich als Europäerin sieht, hineinprojiziert habe. Ich muss aus dem (ungerechtfertigten) Gefühl, auf der „sicheren Seite“ zu stehen, heraustreten, das gesamte Bild aushalten und aus dieser Perspektive ein Europäischsein neu schaffen, dass das Wertesystem, von dem ich ausgegangen bin, erst herstellt.