Katja Huber und ihre Erinnerungen an die Zeitenwende 1989/1990
Das diesjährige Literaturfest München neigt sich dem Ende entgegen und einige „Fragen an die Welt nach 1989" konnten im Laufe der letzten zwei Wochen beantwortet werden. In ihrem Text liefert die Autorin Katja Huber einige Antworten darauf, wie sie den Mauerfall und die Zeit danach erlebt hat. Vorgestellt und disktutiert wurde der Text im Rahmen des forum:autoren am 23. November im Literaturhaus München.
*
Unsere Geschichte
Es gibt Menschen in meinem Bekannten- und Freundeskreis, in deren selbstverfasster Vita steht „Jahrgang Mauerbau". Das fand ich immer wahnsinnig beeindruckend: Name, Familienname, Wuuummms – Zeitgeschichte! Ich weiß von niemandem in meinem Bekannten- und Freundeskreis, in dessen Vita „Jahrgang Mauerfall" steht. Jahrgang Mauerbau ist heute 58, Jahrgang Mauerfall 30, und beide haben – genau wie alle anderen irgendwann in diese Welt Geborene – das 'Vorher' nicht miterlebt. Ein Bewusstsein über die Veränderung, den Wechsel, die Wende konnte also erst im Nachhinein entstehen.
Wenn ich nun im Jahr 2019 damit anfange, meinen Jahrgang in Bezug zum Mauerfall zu setzen, bedarf es erst mal nur eines einzigen großen Wortes, nämlich: Volljährigkeit. K. H., geboren in Weilheim in Oberbayern, Volljährigkeit im – Wuuummms – Jahr des Mauerfalls. Wuuummms – Zeitgeschichte! Volljährigkeit heißt auch: Ein erlebtes Vorher ist vorhanden, erste Anflüge von Bewusstsein könnten sich bereits entwickelt haben.
Meine frühesten Erinnerungen dieser Volljährigkeit im Wendejahr: Freitag, 10. November, ein Uhr morgens, Telefonat mit meinem euphorischen, bilderbesoffenen, zeitgeschichtlich – Wuuummms – direkt aus dem Alltag gerissenen Vater in Charlottenburg, Westberlin: „Kattl, des ist der Waaaahnsinn! Niemals hätte ich das für möglich gehalten, nie-i-mals!" [1]
Freitag, 10. November, Nachmittagsunterricht Dramatisches Gestalten. [2] Wir reden über die Ereignisse der Vornacht (und wie lange sie wohl andauern werden), darüber, wer von uns mit wem in West-Berlin telefoniert hat, wem beim Fernsehschauen wann die Tränen gekommen sind und über weitere spannende Aspekte des Watcher's High. Über familiäre Schicksalsschläge wird selbstverständlich auch berichtet, etwa so: „Meine Mutter und meine Großeltern, damals in Berlin. Und dann plötzlich diese Mauer, total schlimm – für alle! Von einem Tag auf den anderen konnten sie ihre Putzfrau aus dem Osten nicht mehr sehen, und die konnte bei ihnen auch nicht mehr sauber machen".
Bilder
Oktober 1990, Gymnasium Weilheim: Wiedervereinigungsfeier in der Turnhalle, Anwesenheitspflicht. Der Direktor verliert Worte, die sich, so groß sie auch sein mögen, zu keinem Ganzen fügen. Dann der Moment, auf den wir von Deutsch-, Sozialkunde- und sogar von Ethiklehrern schon seit Wochen eingeschworen wurden: Bei der Hymne wird aufgestanden und mitgesungen. Das Deutschlandlied ertönt, und ein Teil von uns streckt schweigend die nicht vollständig geballte Siegerfaust zum Himmel, in der sich eine eigens für diesen Anlass erworbene Banane befindet.
Mein persönliches Bild vom „ehemaligen DDR-Bürger" setzt sich im Oktober 1990 im Wesentlichen aus drei Eindrücken und Erfahrungen zusammen: ein Titelbild der Satirezeitschrift titanic, ein viertägiger Besuch im Leipziger Plattenbau bei Manuela und Boris, mit den Highlights 'Abwechselnd Marlboro Lights und KARO-Zigaretten rauchen vor der Kaufhalle' sowie 'Barfußtanz im DiskoKlub hinter der Kaufhalle'. Und mit sehr viel Kopfschütteln, das zwar von vielen gedachten „Waaaaahnsinn!"s begleitet wird, das sich aber sowohl aus damaliger als auch aus heutiger Sicht schwerlich als Euphorie oder gar als gegenseitiges Verstehen-Wollen interpretieren ließe. Anders ausgedrückt: Wir fanden es auch Scheiße, dass mündige Bürger unseres Landes Jahrhunderte lang auf einen Telefonanschluss oder einen Kleinstwagen warten mussten. Aber deshalb musste man doch jetzt nicht derart auf McDonald's und King Konsum abfahren, meine Güte!
Das Konsumverhalten meiner Mitmenschen aus den neuen Bundesländern mag mich und meine Mitmenschen aus den alten Bundesländern in den 1990ern genervt haben, über Alternativen zum Kapitalismus … habe ich nicht nachgedacht. Dass fremdenfeindliche Übergriffe in Deutschland seit der Wende eine neue Dimension erreichten, ließ zwar Beklommenheit in mir aufsteigen, aber …, genau: aber: was?
Zurück zu den Komponenten, die zur Wendezeit mein damaliges Bild vom „ehemaligen DDR-Bürger" ausmachten: titanic, Manuela und Boris in der Leipziger Platte und, Komponente drei: ein Ausflug von West- irgendwohin nach Ostberlin, zum Broiler-Essen, bei dem die Bedienung die Order meiner Freundin „Einen Tequila zum Verdauen" in etwa mit „Noch eine doofe Ansage, dann Verhauen" kontert. [3]
Ein westliches Wesen
Wenn ich heute an die Wiedervereinigungsfeier in der Turnhalle denke, möchte ich dieses selbstgefällige Wesen mit der Banane in der Hand mit aller Vehemenz von seinem hohen und hohlen Baum der Dummheit schütteln. Doch was soll die Selbstdistanzierung, hier soll es um eine Auseinandersetzung gehen – um die ich mich doch nachweislich immer redlich bemüht habe: Als Radio-Redakteurin habe ich Beiträge zu rechter Gewalt im Osten betreut. Als Radio-Journalistin habe ich Wenderomane rezensiert, zu diversen 3. Oktobern und 9. Novembern nach 1989 Interviews geführt und beispielsweise im Osten geborene Musiker in meinem Alter befragt: „Wie fühlt sich das denn jetzt so an: immer so, und dann PLÖTZLICH so?" Damals haben sie gesagt, „Was wollt Ihr eigentlich? Wir machen Musik und fertig!" Heute sagen manche: „Ihr habt uns unsere Identität genommen, vollständig." Heute frage ich nicht mehr.
Um mir mein damaliges westliches Wesen in Bezug zum Osten zu vergegenwärtigen, habe ich in Taschenkalendern geblättert [4] und Erinnerungsstücke zusammengesucht. Auf meinem Schreibtisch liegt ein dickes Fotoalbum, beschriftet mit:
SÜDAMERIKA 1991/92
DDR 1992
PORTUGAL 1993
Auf den Seiten, die der „DDR 1992" gewidmet sind: Zwei Menschenbeine und drei Stuhlbeine im Bauhaus Dessau. Mein sich am frühen Morgen vor unserem Reise-Auto [5] die Zähne putzender Freund vorm Ernst Barlach Haus, Güstrow, ein gestrandeter Fisch vor dem Hintergrund der Seebrücke Ahlbeck. Nein, wie Kolonialherren und -Herrinnen sehen wir nicht aus in unseren Flohmarkt-Klamotten und mit unseren so wachen Blicken, eher wie Abenteurer und Entdeckerinnen, die bereit sind, eine faszinierende Spezies zu erforschen oder zumindest zu erleben, noch bevor …, bevor… – wahrscheinlich: bevor es zu spät ist.
Zwei Tage nachdem wir Rostock mit zwei Tassen Kaffee und zwei Fotos abgehandelt haben, beginnen die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen, von denen wir aus dem Autoradio erfahren. So was wie „Krass!" oder „Unfassbar!" und „Oh Mann, dieses ganze Zusammenwachsen fängt ja echt maximal beschissen an!" hat mein Freund damals sicherlich gesagt – ohne zu überreißen, was da gerade vor sich geht. Und sowas wie „Ja, krass!" habe ich ihm sicherlich geantwortet. Und ganz ohne Worte waren wir uns ganz einig, dass wir ein perfektes Timing hatten, auf dieser „DDR"-Reise im August 1992. Denn Rostock-Lichtenhagen war dort, und wir waren mittlerweile zwar noch im Osten, aber schon nahe der Klosterruine Eldena. Und das war auch gut so, weil Rostock-Lichtenhagen zwar ein Riesenproblem war, aber eben nicht unser Problem. Nicht unsere Geschichte.
___________
[1] Auch die 1971 von Münster nach Berlin gezogene Freundin meines in den 1980ern Jahren für mehrere Jahre in Berlin lebenden Vaters, mein seit Anfang der 1970er Jahre in Berlin lebender Onkel sowie meine Tante, die für mich seit meiner Kindheit ein Synonym für Berlin ist, schätzten und liebten zum Zeitpunkt des Mauerfalls die kreativen und gesellschaftlichen Möglichkeiten einer – Westberliner Insel. Auch sie waren euphorisiert und völlig überrascht. NIEMAND hätte das JEMALS für möglich gehalten, nicht in zehn Jahren, nicht in dreißig, überhaupt nicht!, gaben sie mir zu verstehen.
[2] Den Grundkurs Dramatisches Gestalten besuchten Ende der 1980er Jahre im Gymnasium Weilheim, zumindest ihrer Selbstwahrnehmung nach, die Aufgeweckten, die Kritischen, die Nonkonformen, die mit Gestaltungswillen.
[3] Das Ereignis fand wenige Wochen nach dem Mauerfall statt. Auch damals war natürlich schon völlig klar, was meine Freundin und ich noch nicht intuitiv erfassen konnten: Wir mussten uns unsere Strukturen im ehemaligen Osten erst schaffen (lassen), um uns dort so selbstverständlich wie im Westen zu bewegen. Dass die zaghaft aufkeimende Frage des „Ostens" nach Identität vom Westen sehr bald schon mit 'blühenden Landschaften', Tequila und Einführung ausnahmslos ALLER Konsum- und käuflich erwerbbaren Kulturgüter beantwortet werden sollte, überblickten wir beim Verdauen eines gefühlt acht Kilogramm schweren Broilers noch nicht vollständig.
[4] Eintrag vom 3. Oktober 1990: „Flaggen hissen! Feuerwerk!"
[5] Selbstverständlich war dieses Auto mit Matratze und Campingkocher ausgestattet, denn auf die Idee, mit unserem weltoffenen Trip durch die neuen Bundesländer auch gleich deren Tourismus anzukurbeln, kamen wir nicht. Die Strukturen für diesen Tourismus mussten ja ohnehin erst noch geschaffen werden.
Katja Huber und ihre Erinnerungen an die Zeitenwende 1989/1990>
Das diesjährige Literaturfest München neigt sich dem Ende entgegen und einige „Fragen an die Welt nach 1989" konnten im Laufe der letzten zwei Wochen beantwortet werden. In ihrem Text liefert die Autorin Katja Huber einige Antworten darauf, wie sie den Mauerfall und die Zeit danach erlebt hat. Vorgestellt und disktutiert wurde der Text im Rahmen des forum:autoren am 23. November im Literaturhaus München.
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Unsere Geschichte
Es gibt Menschen in meinem Bekannten- und Freundeskreis, in deren selbstverfasster Vita steht „Jahrgang Mauerbau". Das fand ich immer wahnsinnig beeindruckend: Name, Familienname, Wuuummms – Zeitgeschichte! Ich weiß von niemandem in meinem Bekannten- und Freundeskreis, in dessen Vita „Jahrgang Mauerfall" steht. Jahrgang Mauerbau ist heute 58, Jahrgang Mauerfall 30, und beide haben – genau wie alle anderen irgendwann in diese Welt Geborene – das 'Vorher' nicht miterlebt. Ein Bewusstsein über die Veränderung, den Wechsel, die Wende konnte also erst im Nachhinein entstehen.
Wenn ich nun im Jahr 2019 damit anfange, meinen Jahrgang in Bezug zum Mauerfall zu setzen, bedarf es erst mal nur eines einzigen großen Wortes, nämlich: Volljährigkeit. K. H., geboren in Weilheim in Oberbayern, Volljährigkeit im – Wuuummms – Jahr des Mauerfalls. Wuuummms – Zeitgeschichte! Volljährigkeit heißt auch: Ein erlebtes Vorher ist vorhanden, erste Anflüge von Bewusstsein könnten sich bereits entwickelt haben.
Meine frühesten Erinnerungen dieser Volljährigkeit im Wendejahr: Freitag, 10. November, ein Uhr morgens, Telefonat mit meinem euphorischen, bilderbesoffenen, zeitgeschichtlich – Wuuummms – direkt aus dem Alltag gerissenen Vater in Charlottenburg, Westberlin: „Kattl, des ist der Waaaahnsinn! Niemals hätte ich das für möglich gehalten, nie-i-mals!" [1]
Freitag, 10. November, Nachmittagsunterricht Dramatisches Gestalten. [2] Wir reden über die Ereignisse der Vornacht (und wie lange sie wohl andauern werden), darüber, wer von uns mit wem in West-Berlin telefoniert hat, wem beim Fernsehschauen wann die Tränen gekommen sind und über weitere spannende Aspekte des Watcher's High. Über familiäre Schicksalsschläge wird selbstverständlich auch berichtet, etwa so: „Meine Mutter und meine Großeltern, damals in Berlin. Und dann plötzlich diese Mauer, total schlimm – für alle! Von einem Tag auf den anderen konnten sie ihre Putzfrau aus dem Osten nicht mehr sehen, und die konnte bei ihnen auch nicht mehr sauber machen".
Bilder
Oktober 1990, Gymnasium Weilheim: Wiedervereinigungsfeier in der Turnhalle, Anwesenheitspflicht. Der Direktor verliert Worte, die sich, so groß sie auch sein mögen, zu keinem Ganzen fügen. Dann der Moment, auf den wir von Deutsch-, Sozialkunde- und sogar von Ethiklehrern schon seit Wochen eingeschworen wurden: Bei der Hymne wird aufgestanden und mitgesungen. Das Deutschlandlied ertönt, und ein Teil von uns streckt schweigend die nicht vollständig geballte Siegerfaust zum Himmel, in der sich eine eigens für diesen Anlass erworbene Banane befindet.
Mein persönliches Bild vom „ehemaligen DDR-Bürger" setzt sich im Oktober 1990 im Wesentlichen aus drei Eindrücken und Erfahrungen zusammen: ein Titelbild der Satirezeitschrift titanic, ein viertägiger Besuch im Leipziger Plattenbau bei Manuela und Boris, mit den Highlights 'Abwechselnd Marlboro Lights und KARO-Zigaretten rauchen vor der Kaufhalle' sowie 'Barfußtanz im DiskoKlub hinter der Kaufhalle'. Und mit sehr viel Kopfschütteln, das zwar von vielen gedachten „Waaaaahnsinn!"s begleitet wird, das sich aber sowohl aus damaliger als auch aus heutiger Sicht schwerlich als Euphorie oder gar als gegenseitiges Verstehen-Wollen interpretieren ließe. Anders ausgedrückt: Wir fanden es auch Scheiße, dass mündige Bürger unseres Landes Jahrhunderte lang auf einen Telefonanschluss oder einen Kleinstwagen warten mussten. Aber deshalb musste man doch jetzt nicht derart auf McDonald's und King Konsum abfahren, meine Güte!
Das Konsumverhalten meiner Mitmenschen aus den neuen Bundesländern mag mich und meine Mitmenschen aus den alten Bundesländern in den 1990ern genervt haben, über Alternativen zum Kapitalismus … habe ich nicht nachgedacht. Dass fremdenfeindliche Übergriffe in Deutschland seit der Wende eine neue Dimension erreichten, ließ zwar Beklommenheit in mir aufsteigen, aber …, genau: aber: was?
Zurück zu den Komponenten, die zur Wendezeit mein damaliges Bild vom „ehemaligen DDR-Bürger" ausmachten: titanic, Manuela und Boris in der Leipziger Platte und, Komponente drei: ein Ausflug von West- irgendwohin nach Ostberlin, zum Broiler-Essen, bei dem die Bedienung die Order meiner Freundin „Einen Tequila zum Verdauen" in etwa mit „Noch eine doofe Ansage, dann Verhauen" kontert. [3]
Ein westliches Wesen
Wenn ich heute an die Wiedervereinigungsfeier in der Turnhalle denke, möchte ich dieses selbstgefällige Wesen mit der Banane in der Hand mit aller Vehemenz von seinem hohen und hohlen Baum der Dummheit schütteln. Doch was soll die Selbstdistanzierung, hier soll es um eine Auseinandersetzung gehen – um die ich mich doch nachweislich immer redlich bemüht habe: Als Radio-Redakteurin habe ich Beiträge zu rechter Gewalt im Osten betreut. Als Radio-Journalistin habe ich Wenderomane rezensiert, zu diversen 3. Oktobern und 9. Novembern nach 1989 Interviews geführt und beispielsweise im Osten geborene Musiker in meinem Alter befragt: „Wie fühlt sich das denn jetzt so an: immer so, und dann PLÖTZLICH so?" Damals haben sie gesagt, „Was wollt Ihr eigentlich? Wir machen Musik und fertig!" Heute sagen manche: „Ihr habt uns unsere Identität genommen, vollständig." Heute frage ich nicht mehr.
Um mir mein damaliges westliches Wesen in Bezug zum Osten zu vergegenwärtigen, habe ich in Taschenkalendern geblättert [4] und Erinnerungsstücke zusammengesucht. Auf meinem Schreibtisch liegt ein dickes Fotoalbum, beschriftet mit:
SÜDAMERIKA 1991/92
DDR 1992
PORTUGAL 1993
Auf den Seiten, die der „DDR 1992" gewidmet sind: Zwei Menschenbeine und drei Stuhlbeine im Bauhaus Dessau. Mein sich am frühen Morgen vor unserem Reise-Auto [5] die Zähne putzender Freund vorm Ernst Barlach Haus, Güstrow, ein gestrandeter Fisch vor dem Hintergrund der Seebrücke Ahlbeck. Nein, wie Kolonialherren und -Herrinnen sehen wir nicht aus in unseren Flohmarkt-Klamotten und mit unseren so wachen Blicken, eher wie Abenteurer und Entdeckerinnen, die bereit sind, eine faszinierende Spezies zu erforschen oder zumindest zu erleben, noch bevor …, bevor… – wahrscheinlich: bevor es zu spät ist.
Zwei Tage nachdem wir Rostock mit zwei Tassen Kaffee und zwei Fotos abgehandelt haben, beginnen die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen, von denen wir aus dem Autoradio erfahren. So was wie „Krass!" oder „Unfassbar!" und „Oh Mann, dieses ganze Zusammenwachsen fängt ja echt maximal beschissen an!" hat mein Freund damals sicherlich gesagt – ohne zu überreißen, was da gerade vor sich geht. Und sowas wie „Ja, krass!" habe ich ihm sicherlich geantwortet. Und ganz ohne Worte waren wir uns ganz einig, dass wir ein perfektes Timing hatten, auf dieser „DDR"-Reise im August 1992. Denn Rostock-Lichtenhagen war dort, und wir waren mittlerweile zwar noch im Osten, aber schon nahe der Klosterruine Eldena. Und das war auch gut so, weil Rostock-Lichtenhagen zwar ein Riesenproblem war, aber eben nicht unser Problem. Nicht unsere Geschichte.
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[1] Auch die 1971 von Münster nach Berlin gezogene Freundin meines in den 1980ern Jahren für mehrere Jahre in Berlin lebenden Vaters, mein seit Anfang der 1970er Jahre in Berlin lebender Onkel sowie meine Tante, die für mich seit meiner Kindheit ein Synonym für Berlin ist, schätzten und liebten zum Zeitpunkt des Mauerfalls die kreativen und gesellschaftlichen Möglichkeiten einer – Westberliner Insel. Auch sie waren euphorisiert und völlig überrascht. NIEMAND hätte das JEMALS für möglich gehalten, nicht in zehn Jahren, nicht in dreißig, überhaupt nicht!, gaben sie mir zu verstehen.
[2] Den Grundkurs Dramatisches Gestalten besuchten Ende der 1980er Jahre im Gymnasium Weilheim, zumindest ihrer Selbstwahrnehmung nach, die Aufgeweckten, die Kritischen, die Nonkonformen, die mit Gestaltungswillen.
[3] Das Ereignis fand wenige Wochen nach dem Mauerfall statt. Auch damals war natürlich schon völlig klar, was meine Freundin und ich noch nicht intuitiv erfassen konnten: Wir mussten uns unsere Strukturen im ehemaligen Osten erst schaffen (lassen), um uns dort so selbstverständlich wie im Westen zu bewegen. Dass die zaghaft aufkeimende Frage des „Ostens" nach Identität vom Westen sehr bald schon mit 'blühenden Landschaften', Tequila und Einführung ausnahmslos ALLER Konsum- und käuflich erwerbbaren Kulturgüter beantwortet werden sollte, überblickten wir beim Verdauen eines gefühlt acht Kilogramm schweren Broilers noch nicht vollständig.
[4] Eintrag vom 3. Oktober 1990: „Flaggen hissen! Feuerwerk!"
[5] Selbstverständlich war dieses Auto mit Matratze und Campingkocher ausgestattet, denn auf die Idee, mit unserem weltoffenen Trip durch die neuen Bundesländer auch gleich deren Tourismus anzukurbeln, kamen wir nicht. Die Strukturen für diesen Tourismus mussten ja ohnehin erst noch geschaffen werden.