Ein gemeinsames Buch von Geflüchteten und Einheimischen über das Ankommen
Während der Flüchtlingskrise wurden München und sein Hauptbahnhof weltweit zu Symbolen der Solidarität und großer Hilfsbereitschaft. Doch das eigentliche Ankommen beginnt meist erst nach dem Willkommen und ist ein langer Prozess. Wie kann das Ankommen gelingen? Muss man sich für einen neuen Lebensort von der alten Heimat lösen? Kommt man jemals ganz an?
Eine Gruppe Münchner Kulturschaffender öffnet diesen Fragen Räume. Unter dem Motto Meet your neighbours stellt sie regelmäßig KünstlerInnen aus aller Welt vor, die es aus ganz unterschiedlichen Gründen nach Deutschland verschlagen hat. Das vorliegende Buch sammelt ihre Erfahrungen. Es ist im Nachgang des Festivals Acht Mal Ankommen entstanden, an dem auch das Literaturportal Bayern als Kooperationspartner beteiligt war.
Mal erzählerisch, mal lyrisch, ob nachdenklich oder humorvoll: Fast immer greifen im Ankommen Vergangenheit und Zukunft ineinander, Verlust und Neuanfang, Trauer und Hoffnung. Und weil es stets beide Seiten braucht, kommen auch Einheimische zu Wort. Der Band soll so nicht zuletzt an das erinnern, womit jedes Ankommen beginnt: ein Gespräch.
Am 6.11.2018 findet in der Monacensia die offizielle Premiere des Buches statt. Dabei lesen: Banu Acun, Angelica Ammar, Barbra Breeze Anderson, Heike Geißler, Martin Lickleder und James Tugume. Wir publizieren vorab das Vorwort der Herausgeber Katja Huber, Silke Kleemann und Fridolin Schley. (Alle Autorinnen und Autoren siehe unten.)
*
Im April 2016 fand in München der erste Abend unserer Begegnungsreihe Meet your neighbours statt. Björn Bicker führte in der Buchhandlung Isarflimmern mit der syrischen Dramaturgin Rania Mleihi ein Gespräch über die Liebe und vieles mehr. Auf diesen Abend folgten in den nächsten beiden Jahren im losen Takt sechzehn weitere Veranstaltungen in Buchhandlungen, Bibliotheken, Kulturzentren, Museen und im Literaturhaus der Stadt. Dabei stellten wir Menschen verschiedenster Herkunft vor, die auf ihrer Flucht nach Deutschland gekommen sind. Die Bandbreite reichte von einem Dichter über einen Mathematiker bis zu einem Basketballer, von einer Archäologin über eine Theaterautorin bis zu einer Filmemacherin, und immer war das Motto: Wir reden nicht übereinander, wir reden miteinander.
Aktuell besteht unsere Münchner Gruppe aus den Kulturschaffenden Lena Gorelik, Marion Hertle, Sandra Hoffmann, Katja Huber, Silke Kleemann, Martin Lickleder, Denijen Pauljević, Kathrin Reikowski, Fridolin Schley, Andreas Unger und Nora Zapf. Doch daneben war von Anfang an unser Eindruck, in der Stadt von einer breiten Öffentlichkeit unterstützt zu werden: den Buchhändler*innen, die uns ihre Läden öffnen und selbst mit Begeisterung dabei sind, dem Literaturportal Bayern, das einen Publikationsraum im Netz bietet, und natürlich von den vielen Bürger*innen, die die Veranstaltungen mit Interesse und Zuspruch verfolgen, aber auch kontroverse Diskussionen nicht scheuen. Dazu kommt Unterstützung aus Berlin durch unsere Kooperation mit dem Aktionsbündnis WIR MACHEN DAS, insbesondere mit Annika Reich und Rebecca Ellsäßer, auf deren Initiative die Begegnungsreihe ursprünglich zurückgeht.
Kathrin Reikowski, Afraa Batous, Silke Kleemann (v.l.) © Verena Kathrein; alle Fotos vom Festival "Acht Mal Ankommen"
Diese verzweigte Zusammenarbeit trägt das Projekt weit über die Stadtgrenzen hinaus und motiviert uns durch das Wissen, dass anderswo andere Ähnliches versuchen und wir gemeinsam eine größere Reichweite haben, denn: Wir wollen mit Meet your neighbours auch ein Statement setzen für eine offene, humane Gesellschaft – dafür, trotz der vielen derzeitigen Schreckensszenarien und eines ständig suggerierten Notwehr-Modus empfänglich und handlungsfähig zu bleiben, wie Heike Geißler es in ihrem Text formuliert: »Ich will in keiner Gesellschaft leben, die aus Verunsicherung und Zukunftsangst Einschlussszenarien entwickelt. (…) Wir brauchen einen stärkeren Protest, eine Protestroutine. Einen in den Alltag integrierbaren Protest.«
Den bisherigen Höhepunkt der Reihe bildete im Februar 2018 das Festival Acht Mal Ankommen in der Münchner Monacensia, die uns vor allem in Person von Lisa-Katharina Förster großes Engagement entgegenbrachte. Für das Festival hatten wir einige unserer bisherigen Gäste eingeladen, Beiträge zum Thema Ankommen zu erstellen. Ob als Texte oder Filme – immer ging es darin um das eigene Selbstverständnis rund um den Neuanfang in Deutschland. Wir selbst und sichtlich auch das Publikum waren tief beeindruckt von den Werken, die aus der Konfrontation mit einem meist schmerzlichen Teil der eigenen Vergangenheit entstanden waren, und der rückhaltlosen Offenheit, mit der die Künstler*innen sie auf der Bühne vorstellten.
Das Moment der Berührung, der Horizonterweiterung durch das Teilen von Geschichten, wollen wir mit dem vorliegenden Band fortsetzen. Die acht Beiträge des Festivals bilden den Ausgangspunkt für eine deutlich größere Sammlung und eine Weitung des gemeinsamen Themas. Insgesamt 38 Autor*innen, Einheimische wie Neuankömmlinge, haben uns Texte zur Verfügung gestellt. Ihnen allen gilt größter Dank.
Links: Lena Gorelik mit Nora Zapf und Sandra Hoffmann, rechts mit Denijen Pauljević und Suli Kurban © Verena Kathrein
Der Aufbruch und das Ankommen von Geflüchteten steht hier neben jenen von Menschen, die das Reisen, das Wohnen an wechselnden Orten oder das Weltbürger-Sein als selbstverständlichen Bestandteil ihres Lebensentwurfs sehen; es stehen Erfahrungen von Menschen, die immer wieder an Ländergrenzen abgewiesen wurden, neben denen von solchen, die als Wissenschaftler an Universitäten in verschiedenen Ländern der Welt arbeiten.
Dieses konzeptionelle Nebeneinander mag auf den ersten Blick unerhört wirken. Vermischt es nicht Luxusprobleme der einen mit den existenziellsten Nöten anderer? Doch dass sich die sozialen und wirtschaftlichen Umstände nicht gleichsetzen lassen, wird jedem Leser bewusst sein – sodass man in einem zweiten Schritt durchaus darüber nachdenken kann, welche Gemeinsamkeiten und Verbindungen möglicherweise gerade in ganz unterschiedlichen Erfahrungen des Ankommens vorliegen. Fast folgerichtig sind die meisten Beiträge sehr persönlich geworden, ohne dass dies Vorgabe gewesen wäre.
Zudem ist das Nebeneinander nicht unerhörter als die Realität, die die Texte abbilden oder anklingen lassen, verdichtet zur Reportage, dokumentarischer oder fiktionaler Erzählung, zu Essay und Lyrik. Die Realität, die heute von vielen ganz anders empfunden wird als 2015, im Sommer der Willkommenskultur. Dieser fand besonders in München medienwirksamen Ausdruck.
Der örtliche Bezug ist uns wichtig: Hier wurde der Hauptbahnhof vor drei Jahren weltweit zum Ort und Symbol von Solidarität und Hilfsbereitschaft. Hier ist Meet your neighbours zu Hause, hier leben die meisten neuen Nachbarn aus unserer Reihe, und hier gibt es immer noch sehr viel unermüdliches Engagement. Aber auch hier ist eben ein alarmierender Wandel spürbar, ein aufziehender kalter Wind, sind Rechtsruck und Fremdenfeindlichkeit längst bis weit in die Mitte von Gesellschaft und Politik vorgedrungen, leisten Spitzenpolitiker mit zynischen Begriffen wie »Asyltourismus« einer gefährlichen Erosion unserer humanitären Staatsräson Vorschub. Hier gehen Zehntausende friedlich gegen die rigorose Verschärfung der Asylpolitik auf die Straße und müssen sich in Folgschaft rechtspopulistischer Umkehrungsrhetorik dafür ihrerseits von der Landesregierungspartei als Hetzer diffamieren lassen.
Überkommene Selbstbilder
Nicht zuletzt aufgrund solcher Entwicklungen muss ein Buch über das Ankommen über Episoden reiner Ankunft hinausgehen. Ankommen – das ist eher die lange Strecke, das sind die Mühen der Ebene. Manchmal dauert es Jahre, und manch einer kommt nie wirklich an, obwohl er längst da ist. Oder es sogar schon immer war.
Im Titel Wir sind hier mögen solche Ambivalenzen anklingen. Sie prägen das Ankommen als Ineinander von Vergangenheit und Zukunft, Verlust und Neuanfang, aber auch als Zusammentreffen von denen, die Neuland erreichen, und jenen, die sie empfangen. Denn was würde es über den Stand unserer Gesellschaft aussagen, wenn im Jahr 2018 eindimensional nur über das Ankommen von geflohenen Menschen gesprochen und geschrieben würde?
Deren Ankommen beinhaltet, bewirkt und fordert schließlich ein Ankommen derer, die diese Gesellschaft bisher auszumachen meinten. Das Ankommen in einer neuen Lebensrealität und einem neuen, manchmal desillusionierten Selbstbild, wie Annika Reich es in ihrem Text nachzeichnet: »So wie Integration das falsche Konzept ist, weil es nur von einer Richtung aus denkt, so ist auch Ankommen, wenn es nur das (Nicht)-Ankommen der anderen denkt, falsch.« Vielmehr geht es darum, ebenso das eigene Selbstverständnis »als weltoffene, die Rechte des Einzelnen achtende Europäerin« als bequemen, zur Passivität verleitenden blinden Fleck zu erkennen, als Wunschprojektion, für die andere den Preis bezahlen müssen; denn dieses Europa, offen und solidarisch den demokratischen Freiheitsrechten verpflichtet, existiert nicht mehr – und hat vielleicht so nie existiert. Fragil ist damit nicht nur die Situation vieler Neuankömmlinge, sondern auch unsere eigene Position als Bürger, die aus dieser Erschütterung heraus ihr »Europäischsein « überhaupt erst neu und aktiv schaffen müssen. Annika Reich nennt das Performative Citizenship.
Silke Kleemann und Katja Huber // Auftritt der Band jisr (Die Brücke): Ehab Abou Fakher, Roman Bunka, Mohcine Ramdan // Franziska Sperr (Writers in Exile) © Verena Kathrein
Diese vielschichtige Wechselseitigkeit ist eine Herausforderung, ein jahrelanger, anstrengender Prozess. Er trägt weniger sichtbare Tragik und weniger Pathos und Glanz als die unmittelbare Ankunft – und sollte umso beharrlicher von einer mündigen Gesellschaft gestaltet, nicht nur gefordert werden. Einer Gesellschaft, die Anstrengung genauso aushalten, Konflikte austragen muss wie ein Miteinander fördern und ein Nebeneinanderher akzeptieren. Eine Gesellschaft, die die eigene Geschichte immer mitzudenken hat und es sich schon deshalb gar nicht leisten kann, so zu tun, als hätte sie es bei den Migrationsbewegungen der Gegenwart mit einem historisch einmaligen Phänomen zu tun.
2015 war für viele der Sommer der Euphorie. Politisch ist davon praktisch nichts geblieben. 2018 ist der Sommer des Asylstreits. Wo Deutschland zumindest für ein paar Monate eine Vorreiterrolle innehatte, ist es heute ein weitgehend auf Abwehr ausgerichtetes Land. Und folgt darin einem fast gesamteuropäischen Trend. Auch gegen diesen möchte Wir sind hier einen Beitrag leisten.
Die Koffer sind uns Gefängnis und Haus
Dass ein Buch, das sich der Vielfalt verschrieben hat, seine heterogene Gestalt bewahren muss, versteht sich von selbst. Doch auch in einem Wimmelbild lassen sich Muster erkennen, dringen einzelne Unterhaltungen aus dem vielstimmigen Durcheinander, wenn auch keinesfalls zwingend in harmonischen, sondern ebenso in dissonanten Zusammenklängen.
So scheint es mitunter, als würden einzelne Beiträge aufeinander hören und motivisch antworten, etwa wenn Yamen Hussein in einem Abschiedsbrief schreibt: »Die Koffer reichen nicht aus! Ich habe dir schon mal gesagt, dass die Koffer der Flüchtlinge im Exil nie ausreichen, egal wie groß sie sind!«, denn in diesen, so Fady Jomar in seinem Gedicht Koffer, »stecken Gesichter / Salz, Geduld und verworrene Stimmen, / Gedränge, Geschichten und Menschen«, sie sind »groß und schwer geworden, / sind uns Gefängnis und Haus«; doch das »Dach dieses Hauses«, lesen wir wiederum bei Mariam Meetra, »stürzt seit Jahren schon über mir ein, / in allen Himmelsrichtungen ist es zerborsten«. Ramy Al-Asheq bewahrt in seinen inneren Koffern alle Erinnerungen, »man hat sie verschlossen, damit man nicht immer sehen muss, was drinnen ist«, und holt stattdessen »aus dem Rucksack, was ihr sehen wollt. Mitleiderregende Tränen (…), vorgefertigte Sätze über den ›Kulturschock‹«.
Von links: Fridolin Schley, Yamen Hussein, Ayeda Alavie, Martin Lickleder
Einige Autor*innen nähern sich dem Ankommen eher über seine Ursprungsbewegung, den Aufbruch: als Flucht aus dem syrischen Kriegsinferno, wie Afraa Batous sie beschreibt, oder als Reise, gewissermaßen in umgekehrter Richtung, wie Sandra Hoffmann sie nach Tirana / Albanien antritt, dem oft vergessenen Aufbruchsort vieler fliehender Roma. Sind ihre Eindrücke und Gespräche dort nicht zuletzt Zeichen einer skrupulösen Reflexion über den Standpunkt des Beobachters, so berichtet auch Angelica Ammar nicht nur von Momar, der immer wieder an den Verlockungen Europas abprallt, sondern hinterfragt darüber hinaus, ob sie mit ihrem Flüchtlingsengagement eine Art »Abbitte« leistet – für die eigene Privilegiertheit, aber ebenso für die »Unfähigkeit, mein Leben zu begreifen, meine Sinnsuche. (…) Wie oft hatte ich mich schon aus meinem eigenen Leben fortgestohlen, hatte Uni, Stadt, Land gewechselt. Weil die Ideen immer so viel weiter tragen als die Wirklichkeit.«
In andere Beiträge drängt die aktuelle Wirklichkeit mit teils unvorhergesehener Vehemenz hinein. Wenn Banu Acun dem bleibenden Fremdheitsgefühl türkischer Einwanderer in Deutschland nachgeht, »wo wir immer wieder daran erinnert werden, dass wir Türken und anders sind«, oder Mercedes Lauenstein abwägt, wie viel Alltagsrassismus in einer scheinbar einfachen Frage nach der Herkunft liegt, dann bilden dafür plötzlich ebenso unweigerlich die Debatten um Mesut Özil und #MeTwo den Hintergrund wie jene um die zivile Seenotrettung für die Reportage von Andreas Unger über die Fischer von Lampedusa, die seit vielen Jahren geflohene Menschen aus dem Mittelmeer ziehen, aber selbst kaum einmal gefragt werden, wie es ihnen eigentlich dabei geht.
© Verena Kathrein / Laura Velte
Mehrere Texte rücken diese gegenwärtigen Entwicklungen in eine oft vernachlässigte historische Perspektive, aus der sich viel lernen ließe: In Der Syrer meiner Mutter erzählt Friedrich Ani von seinem Vater, der in den 60er-Jahren in die bayerischen Provinz kam, wo »Blut dicker ist als Kuhfladen« und die Einwohner sich seiner trotzdem »wie einem andershäutigen Bruder erbarmten und ihn sein ließen, wie er war.«
Ariel Magnus veranschaulicht entlang überlieferter Aufzeichnungen seiner Familie ihr jahrzehntelanges Hin und Zurück zwischen Deutschland und Südamerika – bis keiner mehr weiß, »ob wir kommen oder gehen, oder ob unser Platz vielleicht im Dazwischen« ist.
Ein buchstäbliches Fundstück und eminent wichtiges Zeitdokument ist auch der im Nachlass von Rudolf Ohlbaum entdeckte Bericht eines Besuchs im Flüchtlingslager II, München-Allach aus dem Jahre 1949. Vier Jahre nach Kriegsende waren dort noch immer hunderte deutscher Flüchtlinge und Heimatvertriebene in Baracken zusammengepfercht. Heute, 70 Jahre später, spricht aus vielen Sätzen eine frappierende Aktualität: »Wer aber darf die Menschen verurteilen, wenn sie nicht immer Sitte und Recht achten, so lange sie in Verhältnissen zu leben gezwungen sind, die ein Hohn auf Recht und Sitte und alle Menschenwürde sind?«
Geschriebene Worte, ich
Natürlich sind etliche der hier versammelten Ansätze so individuell, dass sie sich gegen jede Zuordnung sperren. So erkennt Martin Lickleder in Aufbruch und Rückkehr ein musikalisches Prinzip, findet sich Denijen Pauljević auf einmal in einem serbischen Kindermärchen gefangen und beschreibt Lena Gorelik, die mit elf Jahren als Kontingentflüchtling nach Deutschland gelangte, ihr jahrelanges Ankommen als allmähliche Ich-Gewinnung durch Sprache, ein verschlungenes Ringen von Wörtergier und familiärem Schweigen: »diese eine Freude, wenn man nach dem passenden Artikel zum Wort nicht mehr suchen muss. Der Baum und das Gebüsch, der Teebeutel, das ist das Ding mit dem Faden dran, das man in die Teetasse hängt, ein westliches Wunder. (…) Wie aus einer Bewegungslosigkeit aufzuwachen: Er kann das, der Hals, den Kopf erheben. Geschriebene Worte, ich. Ich bin es, die der Sprache befiehlt.«
Dies ist nur ein kleiner Teil der Stimmen. All die hier Genannten stehen stellvertretend für das gesamte Konvolut, ein Ganzes aus Verschiedenem, das sich vielleicht noch am ehesten in einem Satz von Rania Mleihi vereinen lässt: »Man wird nirgendwo ankommen, solange man Angst hat.« So soll der Band nicht zuletzt an das erinnern, womit jedes Ankommen beginnt: ein Gespräch, ein Erzählen, das seit Tausendundeine Nacht die Angst in Schach zu halten versucht, das Nähe und Verbundenheit stiftet, aus Fremden Mitmenschen werden lässt – und manchmal Freunde.
Von links: Andreas Unger, Denijen Pauljević, Rania Mleihi, Katja Huber, James Tugume, Sandra Hoffmann © Verena Kathrein
Alle Autorinnen und Autoren des Buches:
Banu Acun, Galal Alahmadi, Ramy Al-Asheq, Ayeda Alavie, Raaed Al Kour, Angelica Ammar, Friedrich Ani, Afraa Batous, Daniel Bayerstorfer, Linda Benedikt, Björn Bicker, Barbra Breeze Anderson, Rebecca Ellsäßer, Heike Geißler, Lena Gorelik, Sandra Hoffmann, Katja Huber, Yamen Hussein, Fady Jomar, Silke Kleemann, Björn Kuhligk, Suli Kurban, Mercedes Lauenstein, Martin Lickleder, Ariel Magnus, Mariam Meetra, Rania Mleihi, Rudolf Ohlbaum, Denijen Pauljević, Georg Picot, Annika Reich, Kathrin Reikowski, Fridolin Schley, Johano Strasser, James Tugume, Andreas Unger, Senthuran Varatharajah und Nora Zapf.
Ein gemeinsames Buch von Geflüchteten und Einheimischen über das Ankommen >
Während der Flüchtlingskrise wurden München und sein Hauptbahnhof weltweit zu Symbolen der Solidarität und großer Hilfsbereitschaft. Doch das eigentliche Ankommen beginnt meist erst nach dem Willkommen und ist ein langer Prozess. Wie kann das Ankommen gelingen? Muss man sich für einen neuen Lebensort von der alten Heimat lösen? Kommt man jemals ganz an?
Eine Gruppe Münchner Kulturschaffender öffnet diesen Fragen Räume. Unter dem Motto Meet your neighbours stellt sie regelmäßig KünstlerInnen aus aller Welt vor, die es aus ganz unterschiedlichen Gründen nach Deutschland verschlagen hat. Das vorliegende Buch sammelt ihre Erfahrungen. Es ist im Nachgang des Festivals Acht Mal Ankommen entstanden, an dem auch das Literaturportal Bayern als Kooperationspartner beteiligt war.
Mal erzählerisch, mal lyrisch, ob nachdenklich oder humorvoll: Fast immer greifen im Ankommen Vergangenheit und Zukunft ineinander, Verlust und Neuanfang, Trauer und Hoffnung. Und weil es stets beide Seiten braucht, kommen auch Einheimische zu Wort. Der Band soll so nicht zuletzt an das erinnern, womit jedes Ankommen beginnt: ein Gespräch.
Am 6.11.2018 findet in der Monacensia die offizielle Premiere des Buches statt. Dabei lesen: Banu Acun, Angelica Ammar, Barbra Breeze Anderson, Heike Geißler, Martin Lickleder und James Tugume. Wir publizieren vorab das Vorwort der Herausgeber Katja Huber, Silke Kleemann und Fridolin Schley. (Alle Autorinnen und Autoren siehe unten.)
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Im April 2016 fand in München der erste Abend unserer Begegnungsreihe Meet your neighbours statt. Björn Bicker führte in der Buchhandlung Isarflimmern mit der syrischen Dramaturgin Rania Mleihi ein Gespräch über die Liebe und vieles mehr. Auf diesen Abend folgten in den nächsten beiden Jahren im losen Takt sechzehn weitere Veranstaltungen in Buchhandlungen, Bibliotheken, Kulturzentren, Museen und im Literaturhaus der Stadt. Dabei stellten wir Menschen verschiedenster Herkunft vor, die auf ihrer Flucht nach Deutschland gekommen sind. Die Bandbreite reichte von einem Dichter über einen Mathematiker bis zu einem Basketballer, von einer Archäologin über eine Theaterautorin bis zu einer Filmemacherin, und immer war das Motto: Wir reden nicht übereinander, wir reden miteinander.
Aktuell besteht unsere Münchner Gruppe aus den Kulturschaffenden Lena Gorelik, Marion Hertle, Sandra Hoffmann, Katja Huber, Silke Kleemann, Martin Lickleder, Denijen Pauljević, Kathrin Reikowski, Fridolin Schley, Andreas Unger und Nora Zapf. Doch daneben war von Anfang an unser Eindruck, in der Stadt von einer breiten Öffentlichkeit unterstützt zu werden: den Buchhändler*innen, die uns ihre Läden öffnen und selbst mit Begeisterung dabei sind, dem Literaturportal Bayern, das einen Publikationsraum im Netz bietet, und natürlich von den vielen Bürger*innen, die die Veranstaltungen mit Interesse und Zuspruch verfolgen, aber auch kontroverse Diskussionen nicht scheuen. Dazu kommt Unterstützung aus Berlin durch unsere Kooperation mit dem Aktionsbündnis WIR MACHEN DAS, insbesondere mit Annika Reich und Rebecca Ellsäßer, auf deren Initiative die Begegnungsreihe ursprünglich zurückgeht.
Kathrin Reikowski, Afraa Batous, Silke Kleemann (v.l.) © Verena Kathrein; alle Fotos vom Festival "Acht Mal Ankommen"
Diese verzweigte Zusammenarbeit trägt das Projekt weit über die Stadtgrenzen hinaus und motiviert uns durch das Wissen, dass anderswo andere Ähnliches versuchen und wir gemeinsam eine größere Reichweite haben, denn: Wir wollen mit Meet your neighbours auch ein Statement setzen für eine offene, humane Gesellschaft – dafür, trotz der vielen derzeitigen Schreckensszenarien und eines ständig suggerierten Notwehr-Modus empfänglich und handlungsfähig zu bleiben, wie Heike Geißler es in ihrem Text formuliert: »Ich will in keiner Gesellschaft leben, die aus Verunsicherung und Zukunftsangst Einschlussszenarien entwickelt. (…) Wir brauchen einen stärkeren Protest, eine Protestroutine. Einen in den Alltag integrierbaren Protest.«
Den bisherigen Höhepunkt der Reihe bildete im Februar 2018 das Festival Acht Mal Ankommen in der Münchner Monacensia, die uns vor allem in Person von Lisa-Katharina Förster großes Engagement entgegenbrachte. Für das Festival hatten wir einige unserer bisherigen Gäste eingeladen, Beiträge zum Thema Ankommen zu erstellen. Ob als Texte oder Filme – immer ging es darin um das eigene Selbstverständnis rund um den Neuanfang in Deutschland. Wir selbst und sichtlich auch das Publikum waren tief beeindruckt von den Werken, die aus der Konfrontation mit einem meist schmerzlichen Teil der eigenen Vergangenheit entstanden waren, und der rückhaltlosen Offenheit, mit der die Künstler*innen sie auf der Bühne vorstellten.
Das Moment der Berührung, der Horizonterweiterung durch das Teilen von Geschichten, wollen wir mit dem vorliegenden Band fortsetzen. Die acht Beiträge des Festivals bilden den Ausgangspunkt für eine deutlich größere Sammlung und eine Weitung des gemeinsamen Themas. Insgesamt 38 Autor*innen, Einheimische wie Neuankömmlinge, haben uns Texte zur Verfügung gestellt. Ihnen allen gilt größter Dank.
Links: Lena Gorelik mit Nora Zapf und Sandra Hoffmann, rechts mit Denijen Pauljević und Suli Kurban © Verena Kathrein
Der Aufbruch und das Ankommen von Geflüchteten steht hier neben jenen von Menschen, die das Reisen, das Wohnen an wechselnden Orten oder das Weltbürger-Sein als selbstverständlichen Bestandteil ihres Lebensentwurfs sehen; es stehen Erfahrungen von Menschen, die immer wieder an Ländergrenzen abgewiesen wurden, neben denen von solchen, die als Wissenschaftler an Universitäten in verschiedenen Ländern der Welt arbeiten.
Dieses konzeptionelle Nebeneinander mag auf den ersten Blick unerhört wirken. Vermischt es nicht Luxusprobleme der einen mit den existenziellsten Nöten anderer? Doch dass sich die sozialen und wirtschaftlichen Umstände nicht gleichsetzen lassen, wird jedem Leser bewusst sein – sodass man in einem zweiten Schritt durchaus darüber nachdenken kann, welche Gemeinsamkeiten und Verbindungen möglicherweise gerade in ganz unterschiedlichen Erfahrungen des Ankommens vorliegen. Fast folgerichtig sind die meisten Beiträge sehr persönlich geworden, ohne dass dies Vorgabe gewesen wäre.
Zudem ist das Nebeneinander nicht unerhörter als die Realität, die die Texte abbilden oder anklingen lassen, verdichtet zur Reportage, dokumentarischer oder fiktionaler Erzählung, zu Essay und Lyrik. Die Realität, die heute von vielen ganz anders empfunden wird als 2015, im Sommer der Willkommenskultur. Dieser fand besonders in München medienwirksamen Ausdruck.
Der örtliche Bezug ist uns wichtig: Hier wurde der Hauptbahnhof vor drei Jahren weltweit zum Ort und Symbol von Solidarität und Hilfsbereitschaft. Hier ist Meet your neighbours zu Hause, hier leben die meisten neuen Nachbarn aus unserer Reihe, und hier gibt es immer noch sehr viel unermüdliches Engagement. Aber auch hier ist eben ein alarmierender Wandel spürbar, ein aufziehender kalter Wind, sind Rechtsruck und Fremdenfeindlichkeit längst bis weit in die Mitte von Gesellschaft und Politik vorgedrungen, leisten Spitzenpolitiker mit zynischen Begriffen wie »Asyltourismus« einer gefährlichen Erosion unserer humanitären Staatsräson Vorschub. Hier gehen Zehntausende friedlich gegen die rigorose Verschärfung der Asylpolitik auf die Straße und müssen sich in Folgschaft rechtspopulistischer Umkehrungsrhetorik dafür ihrerseits von der Landesregierungspartei als Hetzer diffamieren lassen.
Überkommene Selbstbilder
Nicht zuletzt aufgrund solcher Entwicklungen muss ein Buch über das Ankommen über Episoden reiner Ankunft hinausgehen. Ankommen – das ist eher die lange Strecke, das sind die Mühen der Ebene. Manchmal dauert es Jahre, und manch einer kommt nie wirklich an, obwohl er längst da ist. Oder es sogar schon immer war.
Im Titel Wir sind hier mögen solche Ambivalenzen anklingen. Sie prägen das Ankommen als Ineinander von Vergangenheit und Zukunft, Verlust und Neuanfang, aber auch als Zusammentreffen von denen, die Neuland erreichen, und jenen, die sie empfangen. Denn was würde es über den Stand unserer Gesellschaft aussagen, wenn im Jahr 2018 eindimensional nur über das Ankommen von geflohenen Menschen gesprochen und geschrieben würde?
Deren Ankommen beinhaltet, bewirkt und fordert schließlich ein Ankommen derer, die diese Gesellschaft bisher auszumachen meinten. Das Ankommen in einer neuen Lebensrealität und einem neuen, manchmal desillusionierten Selbstbild, wie Annika Reich es in ihrem Text nachzeichnet: »So wie Integration das falsche Konzept ist, weil es nur von einer Richtung aus denkt, so ist auch Ankommen, wenn es nur das (Nicht)-Ankommen der anderen denkt, falsch.« Vielmehr geht es darum, ebenso das eigene Selbstverständnis »als weltoffene, die Rechte des Einzelnen achtende Europäerin« als bequemen, zur Passivität verleitenden blinden Fleck zu erkennen, als Wunschprojektion, für die andere den Preis bezahlen müssen; denn dieses Europa, offen und solidarisch den demokratischen Freiheitsrechten verpflichtet, existiert nicht mehr – und hat vielleicht so nie existiert. Fragil ist damit nicht nur die Situation vieler Neuankömmlinge, sondern auch unsere eigene Position als Bürger, die aus dieser Erschütterung heraus ihr »Europäischsein « überhaupt erst neu und aktiv schaffen müssen. Annika Reich nennt das Performative Citizenship.
Silke Kleemann und Katja Huber // Auftritt der Band jisr (Die Brücke): Ehab Abou Fakher, Roman Bunka, Mohcine Ramdan // Franziska Sperr (Writers in Exile) © Verena Kathrein
Diese vielschichtige Wechselseitigkeit ist eine Herausforderung, ein jahrelanger, anstrengender Prozess. Er trägt weniger sichtbare Tragik und weniger Pathos und Glanz als die unmittelbare Ankunft – und sollte umso beharrlicher von einer mündigen Gesellschaft gestaltet, nicht nur gefordert werden. Einer Gesellschaft, die Anstrengung genauso aushalten, Konflikte austragen muss wie ein Miteinander fördern und ein Nebeneinanderher akzeptieren. Eine Gesellschaft, die die eigene Geschichte immer mitzudenken hat und es sich schon deshalb gar nicht leisten kann, so zu tun, als hätte sie es bei den Migrationsbewegungen der Gegenwart mit einem historisch einmaligen Phänomen zu tun.
2015 war für viele der Sommer der Euphorie. Politisch ist davon praktisch nichts geblieben. 2018 ist der Sommer des Asylstreits. Wo Deutschland zumindest für ein paar Monate eine Vorreiterrolle innehatte, ist es heute ein weitgehend auf Abwehr ausgerichtetes Land. Und folgt darin einem fast gesamteuropäischen Trend. Auch gegen diesen möchte Wir sind hier einen Beitrag leisten.
Die Koffer sind uns Gefängnis und Haus
Dass ein Buch, das sich der Vielfalt verschrieben hat, seine heterogene Gestalt bewahren muss, versteht sich von selbst. Doch auch in einem Wimmelbild lassen sich Muster erkennen, dringen einzelne Unterhaltungen aus dem vielstimmigen Durcheinander, wenn auch keinesfalls zwingend in harmonischen, sondern ebenso in dissonanten Zusammenklängen.
So scheint es mitunter, als würden einzelne Beiträge aufeinander hören und motivisch antworten, etwa wenn Yamen Hussein in einem Abschiedsbrief schreibt: »Die Koffer reichen nicht aus! Ich habe dir schon mal gesagt, dass die Koffer der Flüchtlinge im Exil nie ausreichen, egal wie groß sie sind!«, denn in diesen, so Fady Jomar in seinem Gedicht Koffer, »stecken Gesichter / Salz, Geduld und verworrene Stimmen, / Gedränge, Geschichten und Menschen«, sie sind »groß und schwer geworden, / sind uns Gefängnis und Haus«; doch das »Dach dieses Hauses«, lesen wir wiederum bei Mariam Meetra, »stürzt seit Jahren schon über mir ein, / in allen Himmelsrichtungen ist es zerborsten«. Ramy Al-Asheq bewahrt in seinen inneren Koffern alle Erinnerungen, »man hat sie verschlossen, damit man nicht immer sehen muss, was drinnen ist«, und holt stattdessen »aus dem Rucksack, was ihr sehen wollt. Mitleiderregende Tränen (…), vorgefertigte Sätze über den ›Kulturschock‹«.
Von links: Fridolin Schley, Yamen Hussein, Ayeda Alavie, Martin Lickleder
Einige Autor*innen nähern sich dem Ankommen eher über seine Ursprungsbewegung, den Aufbruch: als Flucht aus dem syrischen Kriegsinferno, wie Afraa Batous sie beschreibt, oder als Reise, gewissermaßen in umgekehrter Richtung, wie Sandra Hoffmann sie nach Tirana / Albanien antritt, dem oft vergessenen Aufbruchsort vieler fliehender Roma. Sind ihre Eindrücke und Gespräche dort nicht zuletzt Zeichen einer skrupulösen Reflexion über den Standpunkt des Beobachters, so berichtet auch Angelica Ammar nicht nur von Momar, der immer wieder an den Verlockungen Europas abprallt, sondern hinterfragt darüber hinaus, ob sie mit ihrem Flüchtlingsengagement eine Art »Abbitte« leistet – für die eigene Privilegiertheit, aber ebenso für die »Unfähigkeit, mein Leben zu begreifen, meine Sinnsuche. (…) Wie oft hatte ich mich schon aus meinem eigenen Leben fortgestohlen, hatte Uni, Stadt, Land gewechselt. Weil die Ideen immer so viel weiter tragen als die Wirklichkeit.«
In andere Beiträge drängt die aktuelle Wirklichkeit mit teils unvorhergesehener Vehemenz hinein. Wenn Banu Acun dem bleibenden Fremdheitsgefühl türkischer Einwanderer in Deutschland nachgeht, »wo wir immer wieder daran erinnert werden, dass wir Türken und anders sind«, oder Mercedes Lauenstein abwägt, wie viel Alltagsrassismus in einer scheinbar einfachen Frage nach der Herkunft liegt, dann bilden dafür plötzlich ebenso unweigerlich die Debatten um Mesut Özil und #MeTwo den Hintergrund wie jene um die zivile Seenotrettung für die Reportage von Andreas Unger über die Fischer von Lampedusa, die seit vielen Jahren geflohene Menschen aus dem Mittelmeer ziehen, aber selbst kaum einmal gefragt werden, wie es ihnen eigentlich dabei geht.
© Verena Kathrein / Laura Velte
Mehrere Texte rücken diese gegenwärtigen Entwicklungen in eine oft vernachlässigte historische Perspektive, aus der sich viel lernen ließe: In Der Syrer meiner Mutter erzählt Friedrich Ani von seinem Vater, der in den 60er-Jahren in die bayerischen Provinz kam, wo »Blut dicker ist als Kuhfladen« und die Einwohner sich seiner trotzdem »wie einem andershäutigen Bruder erbarmten und ihn sein ließen, wie er war.«
Ariel Magnus veranschaulicht entlang überlieferter Aufzeichnungen seiner Familie ihr jahrzehntelanges Hin und Zurück zwischen Deutschland und Südamerika – bis keiner mehr weiß, »ob wir kommen oder gehen, oder ob unser Platz vielleicht im Dazwischen« ist.
Ein buchstäbliches Fundstück und eminent wichtiges Zeitdokument ist auch der im Nachlass von Rudolf Ohlbaum entdeckte Bericht eines Besuchs im Flüchtlingslager II, München-Allach aus dem Jahre 1949. Vier Jahre nach Kriegsende waren dort noch immer hunderte deutscher Flüchtlinge und Heimatvertriebene in Baracken zusammengepfercht. Heute, 70 Jahre später, spricht aus vielen Sätzen eine frappierende Aktualität: »Wer aber darf die Menschen verurteilen, wenn sie nicht immer Sitte und Recht achten, so lange sie in Verhältnissen zu leben gezwungen sind, die ein Hohn auf Recht und Sitte und alle Menschenwürde sind?«
Geschriebene Worte, ich
Natürlich sind etliche der hier versammelten Ansätze so individuell, dass sie sich gegen jede Zuordnung sperren. So erkennt Martin Lickleder in Aufbruch und Rückkehr ein musikalisches Prinzip, findet sich Denijen Pauljević auf einmal in einem serbischen Kindermärchen gefangen und beschreibt Lena Gorelik, die mit elf Jahren als Kontingentflüchtling nach Deutschland gelangte, ihr jahrelanges Ankommen als allmähliche Ich-Gewinnung durch Sprache, ein verschlungenes Ringen von Wörtergier und familiärem Schweigen: »diese eine Freude, wenn man nach dem passenden Artikel zum Wort nicht mehr suchen muss. Der Baum und das Gebüsch, der Teebeutel, das ist das Ding mit dem Faden dran, das man in die Teetasse hängt, ein westliches Wunder. (…) Wie aus einer Bewegungslosigkeit aufzuwachen: Er kann das, der Hals, den Kopf erheben. Geschriebene Worte, ich. Ich bin es, die der Sprache befiehlt.«
Dies ist nur ein kleiner Teil der Stimmen. All die hier Genannten stehen stellvertretend für das gesamte Konvolut, ein Ganzes aus Verschiedenem, das sich vielleicht noch am ehesten in einem Satz von Rania Mleihi vereinen lässt: »Man wird nirgendwo ankommen, solange man Angst hat.« So soll der Band nicht zuletzt an das erinnern, womit jedes Ankommen beginnt: ein Gespräch, ein Erzählen, das seit Tausendundeine Nacht die Angst in Schach zu halten versucht, das Nähe und Verbundenheit stiftet, aus Fremden Mitmenschen werden lässt – und manchmal Freunde.
Von links: Andreas Unger, Denijen Pauljević, Rania Mleihi, Katja Huber, James Tugume, Sandra Hoffmann © Verena Kathrein
Alle Autorinnen und Autoren des Buches:
Banu Acun, Galal Alahmadi, Ramy Al-Asheq, Ayeda Alavie, Raaed Al Kour, Angelica Ammar, Friedrich Ani, Afraa Batous, Daniel Bayerstorfer, Linda Benedikt, Björn Bicker, Barbra Breeze Anderson, Rebecca Ellsäßer, Heike Geißler, Lena Gorelik, Sandra Hoffmann, Katja Huber, Yamen Hussein, Fady Jomar, Silke Kleemann, Björn Kuhligk, Suli Kurban, Mercedes Lauenstein, Martin Lickleder, Ariel Magnus, Mariam Meetra, Rania Mleihi, Rudolf Ohlbaum, Denijen Pauljević, Georg Picot, Annika Reich, Kathrin Reikowski, Fridolin Schley, Johano Strasser, James Tugume, Andreas Unger, Senthuran Varatharajah und Nora Zapf.