Thomas Palzers philosophische Kolumne: Über Authentizität
Der Münchner Schriftsteller Thomas Palzer arbeitet, oft unter philosophischen Fragestellungen, neben dem literarischen Schreiben auch als Autor für Radio und Fernsehen. Für seinen Roman Ruin erhielt er 2005 den Tukan-Preis. Zuletzt veröffentlichte er den Roman Nachtwärts und sein neues Essaybuch Vergleichende Anatomie. Im Literaturportal Bayern reflektiert Thomas Palzer regelmäßig über philosophische Themen, die sich im weiteren Feld von Bibliothek – Schrift – Archiv bewegen. Im fünften Teil seiner Kolumne beschäftigt er sich mit dem trügerischen Echt-Sein, dem Charakter der Authentizität.
*
Dass man ständig und überall „man selbst“ sein soll, ist eine Folge der Reformation, die dem Innen gegenüber dem Außen den Vorrang gegeben hat – verbunden mit dem Imperativ, aufrichtig man selbst zu sein. Zu den Folgen dieses protestantischen Aufrichtigkeitsprinzips gehört, dass der öffentliche Raum heute kolonisiert wird von Zeitgenossen, die rücksichtslos sie selbst sind – und lauthals mit Luftgeistern konferieren, am Krabbeltisch ihr Sandwich verschlingen oder während der gesamten Dauer ihrer Shopping-Tour an einem Smoothie nuckeln. All die Genannten sind unbedingt authentisch, sind immer und unentwegt über sich selbst verfügend – sind autos ontos, selbstseiend. Man kann sich fragen, warum es Zeiten gegeben hat, die es für notwendig erachteten, dass öffentlicher Raum ein Raum der Repräsentation ist – nicht einer der Authentizität. Es müssen glückliche Zeiten gewesen sein.
Ohnehin ist Authentizität eine Fiktion, denn sie behauptet, dass nichts sonst im Spiel sei. Es ist aber immer noch etwas anderes im Spiel, wenn vom Echten die Rede ist, vom Unverfälschten. Schon der Begriff verrät, dass das Echte mit dem Falschen dialektisch zusammengeschlossen ist. Das eine ist ohne das andere einfach nicht zu haben. Wo echt gesagt wird, ist immer auch das Falsche und Gefälschte mitgemeint.
Im Marketing spielt die Authentizitätsfiktion eine große Rolle – und auch in der Literatur, wie man an Figuren wie Karl Ove Knausgård studieren kann. „Wer Ich sagt“, sagt Felix Philipp Ingold, „hat sich damit noch nicht entschieden, die Wahrheit zu sagen.“ Das Publikum will das aber glauben. Und deshalb lässt sich mit dieser Erkenntnis literarisch etwas anfangen, man denke nur an die raffinierte und folgenreiche Eröffnung von Rousseaus Bekenntnissen: „Ich beginne ein Unternehmen, welches beispiellos dasteht und bei dem ich keinen Nachahmer finden werde. Ich will der Welt einen Menschen in seiner ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich selber sein.“ Eine geniale Finte! Doch selten wird begriffen, dass diese Finte keine Lüge ist – sie ist vielmehr: Form, figura. Darin liegt die Pointe. Authentizitätsfiktion ist eine literarische Strategie und Form.
Nicht nur in der Literatur oder in der multimedialen figura überhaupt – in der Plastik, der Malerei, der Rhetorik – findet sich die Kraft, Wirklichkeit auf je besondere Art und Weise zu erschließen – auch der Mensch selbst verfügt wie jedes Lebewesen über dieses Vermögen. Dieses Vermögen heißt: mimesis. Mimesis ist nicht einfach nur imitatio, Nachahmung, Mimesis ist vielmehr schöpferische Neubildung, poeisis, die gegenüber dem Original auf einen gewissen Abstand besteht, auf Eigenständigkeit. Der Mensch gewinnt dadurch Form und Bildung, indem er zu sich auf Distanz geht. Manieren sind eine Form der Selbstdistanz.
Mimesis ist zugleich eingebettete Form, ist die Gabe, sich in Umgebungen, Konstellationen, Situationen und Figurationen einzufühlen, einzufinden, einzumachen. Der Mensch ist folglich insofern mimetisch begabt, als er es ist, der sich selbst im Hinblick auf seine räumliche und zeitliche Lage nachbildet und bildet. Er selbst ist lebendige Form. Oder, anders gesagt: ein Anagramm, also etwas, das sich selbst um- und umschreibt.
Man muss, sagt Dieter Henrich, sein Leben führen, d. h. gestalten, ihm eine Form geben. Formlos kann man nicht leben, auch wenn angesichts mancher Zeitgenossen es so scheinen will. Man verleiht dem Leben mimetisch eine Form, etwa, wie die Romantiker, indem man ihm die Form der Sehnsucht aufprägt. „Jede Sehnsucht nach einem Ding ist schon der Weg zu ihm, der eigentlichste Weg.“ (Rudolf Borchardt)
Übersetzt heißt das: Kennzeichen der Wirklichkeit ist ihre Ambiguität, der Umstand, dass sie ständig neu und anders und auf je besondere Weise erschlossen werden kann, umgeschrieben, umgedeutet, sogar umgangen. Wirklichkeit ist mehrdeutig. Wie buchstäblich ein-fältig dagegen die Vorstellung des Authentischen! „Das Streben nach Authentizität“, meint der Kulturphilosoph Wolfgang Engler, entspräche der „gesellschaftlichen Leitfiktion des unverfälschten Einsseins mit sich“. Wären wir je eins mit uns, wäre das eine Katastrophe.
Authentizität ist das Erbe des Protestantismus. Es gibt keine Wahrheit – außer Ich. Die Welt und mit ihm das Selbst sind in den Verstand verlegt. Das soll mit Authentizität gesagt sein. Bei diesem Aufrichtigkeitsfuror ist jedoch eine radikale Abwertung der Fiktion mitinbegriffen, bedenkt man, dass Fiktion die einzige Wahrheit darstellt, zu der wir Zugang haben. Wahrheit ist wahrgenommen und für wahr genommen sein. Fiktion leitet sich ab vom lateinischen fingere, gestalten, formen. Da wir von der Wirklichkeit immer mitbetroffen, d. h. in ihr mimetisch eingebettet sind, formen wir diese durch unser bloßes Sein im Da. Wir nehmen das Dasein wahr, anverwandeln es uns. Darin liegt keine Fälschung, vielmehr sind es die angeblich objektiven Apparate, die fälschen, denn Objektivität ist wie Authentizität eine Fiktion. Objektivität tut so, als gäbe es ein Außen, von dem aus das Leben beobachtet werden könnte. Ein Außerhalb gibt es aber nicht. Wir sind immer mittendrin.
In uns verschmilzt das lateinische facere, machen, mit dem lateinischen fingere, erfinden: das Machen mit dem Erdichten, der Fakt mit der Fiktion. Darum ist das Authentische eine Fiktion – und nur die Fiktion authentisch.
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Der Münchner Schriftsteller Thomas Palzer arbeitet, oft unter philosophischen Fragestellungen, neben dem literarischen Schreiben auch als Autor für Radio und Fernsehen. Für seinen Roman Ruin erhielt er 2005 den Tukan-Preis. Zuletzt veröffentlichte er den Roman Nachtwärts und sein neues Essaybuch Vergleichende Anatomie. Im Literaturportal Bayern reflektiert Thomas Palzer regelmäßig über philosophische Themen, die sich im weiteren Feld von Bibliothek – Schrift – Archiv bewegen. Im fünften Teil seiner Kolumne beschäftigt er sich mit dem trügerischen Echt-Sein, dem Charakter der Authentizität.
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Dass man ständig und überall „man selbst“ sein soll, ist eine Folge der Reformation, die dem Innen gegenüber dem Außen den Vorrang gegeben hat – verbunden mit dem Imperativ, aufrichtig man selbst zu sein. Zu den Folgen dieses protestantischen Aufrichtigkeitsprinzips gehört, dass der öffentliche Raum heute kolonisiert wird von Zeitgenossen, die rücksichtslos sie selbst sind – und lauthals mit Luftgeistern konferieren, am Krabbeltisch ihr Sandwich verschlingen oder während der gesamten Dauer ihrer Shopping-Tour an einem Smoothie nuckeln. All die Genannten sind unbedingt authentisch, sind immer und unentwegt über sich selbst verfügend – sind autos ontos, selbstseiend. Man kann sich fragen, warum es Zeiten gegeben hat, die es für notwendig erachteten, dass öffentlicher Raum ein Raum der Repräsentation ist – nicht einer der Authentizität. Es müssen glückliche Zeiten gewesen sein.
Ohnehin ist Authentizität eine Fiktion, denn sie behauptet, dass nichts sonst im Spiel sei. Es ist aber immer noch etwas anderes im Spiel, wenn vom Echten die Rede ist, vom Unverfälschten. Schon der Begriff verrät, dass das Echte mit dem Falschen dialektisch zusammengeschlossen ist. Das eine ist ohne das andere einfach nicht zu haben. Wo echt gesagt wird, ist immer auch das Falsche und Gefälschte mitgemeint.
Im Marketing spielt die Authentizitätsfiktion eine große Rolle – und auch in der Literatur, wie man an Figuren wie Karl Ove Knausgård studieren kann. „Wer Ich sagt“, sagt Felix Philipp Ingold, „hat sich damit noch nicht entschieden, die Wahrheit zu sagen.“ Das Publikum will das aber glauben. Und deshalb lässt sich mit dieser Erkenntnis literarisch etwas anfangen, man denke nur an die raffinierte und folgenreiche Eröffnung von Rousseaus Bekenntnissen: „Ich beginne ein Unternehmen, welches beispiellos dasteht und bei dem ich keinen Nachahmer finden werde. Ich will der Welt einen Menschen in seiner ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich selber sein.“ Eine geniale Finte! Doch selten wird begriffen, dass diese Finte keine Lüge ist – sie ist vielmehr: Form, figura. Darin liegt die Pointe. Authentizitätsfiktion ist eine literarische Strategie und Form.
Nicht nur in der Literatur oder in der multimedialen figura überhaupt – in der Plastik, der Malerei, der Rhetorik – findet sich die Kraft, Wirklichkeit auf je besondere Art und Weise zu erschließen – auch der Mensch selbst verfügt wie jedes Lebewesen über dieses Vermögen. Dieses Vermögen heißt: mimesis. Mimesis ist nicht einfach nur imitatio, Nachahmung, Mimesis ist vielmehr schöpferische Neubildung, poeisis, die gegenüber dem Original auf einen gewissen Abstand besteht, auf Eigenständigkeit. Der Mensch gewinnt dadurch Form und Bildung, indem er zu sich auf Distanz geht. Manieren sind eine Form der Selbstdistanz.
Mimesis ist zugleich eingebettete Form, ist die Gabe, sich in Umgebungen, Konstellationen, Situationen und Figurationen einzufühlen, einzufinden, einzumachen. Der Mensch ist folglich insofern mimetisch begabt, als er es ist, der sich selbst im Hinblick auf seine räumliche und zeitliche Lage nachbildet und bildet. Er selbst ist lebendige Form. Oder, anders gesagt: ein Anagramm, also etwas, das sich selbst um- und umschreibt.
Man muss, sagt Dieter Henrich, sein Leben führen, d. h. gestalten, ihm eine Form geben. Formlos kann man nicht leben, auch wenn angesichts mancher Zeitgenossen es so scheinen will. Man verleiht dem Leben mimetisch eine Form, etwa, wie die Romantiker, indem man ihm die Form der Sehnsucht aufprägt. „Jede Sehnsucht nach einem Ding ist schon der Weg zu ihm, der eigentlichste Weg.“ (Rudolf Borchardt)
Übersetzt heißt das: Kennzeichen der Wirklichkeit ist ihre Ambiguität, der Umstand, dass sie ständig neu und anders und auf je besondere Weise erschlossen werden kann, umgeschrieben, umgedeutet, sogar umgangen. Wirklichkeit ist mehrdeutig. Wie buchstäblich ein-fältig dagegen die Vorstellung des Authentischen! „Das Streben nach Authentizität“, meint der Kulturphilosoph Wolfgang Engler, entspräche der „gesellschaftlichen Leitfiktion des unverfälschten Einsseins mit sich“. Wären wir je eins mit uns, wäre das eine Katastrophe.
Authentizität ist das Erbe des Protestantismus. Es gibt keine Wahrheit – außer Ich. Die Welt und mit ihm das Selbst sind in den Verstand verlegt. Das soll mit Authentizität gesagt sein. Bei diesem Aufrichtigkeitsfuror ist jedoch eine radikale Abwertung der Fiktion mitinbegriffen, bedenkt man, dass Fiktion die einzige Wahrheit darstellt, zu der wir Zugang haben. Wahrheit ist wahrgenommen und für wahr genommen sein. Fiktion leitet sich ab vom lateinischen fingere, gestalten, formen. Da wir von der Wirklichkeit immer mitbetroffen, d. h. in ihr mimetisch eingebettet sind, formen wir diese durch unser bloßes Sein im Da. Wir nehmen das Dasein wahr, anverwandeln es uns. Darin liegt keine Fälschung, vielmehr sind es die angeblich objektiven Apparate, die fälschen, denn Objektivität ist wie Authentizität eine Fiktion. Objektivität tut so, als gäbe es ein Außen, von dem aus das Leben beobachtet werden könnte. Ein Außerhalb gibt es aber nicht. Wir sind immer mittendrin.
In uns verschmilzt das lateinische facere, machen, mit dem lateinischen fingere, erfinden: das Machen mit dem Erdichten, der Fakt mit der Fiktion. Darum ist das Authentische eine Fiktion – und nur die Fiktion authentisch.