Schullesereihe „So fremd wie wir Menschen": Eine Erzählung von Birgit Müller-Wieland
Birgit Müller-Wieland, 1962 in Oberösterreich geboren, studierte Germanistik und Psychologie in Salzburg und promovierte anschließend über Peter Weiss. Die Autorin von Gedichten, Prosa, Essays und Libretti erhielt für ihre Veröffentlichungen zahlreiche Auszeichnungen. Sie lebt in Berlin und München. Ihr aktueller Roman Flugschnee wurde 2017 für den Deutschen Buchpreis nominiert.
Im Rahmen der Schullesereihe So fremd wie wir Menschen des Literaturportals Bayern war die Autorin im Februar 2018 in der Anton-Heilingbrunner-Realschule in Wasserbug am Inn zu Gast, um mit den Schülerinnen und Schülern über die deutsche Zuwanderungspolitik, Flucht und Fremdsein zu diskutieren. Zur Einführung las sie eine Geschichte, die Kriegs-, Flucht- und Fremdheitserfahrungen im Mikrokosmos einer deutschen Familie nach 1945 thematisiert.
*
Der Geigenbauer
1
Meine erste Erinnerung ist ein Schaben und Fräsen und der Geruch von Holz.
Es fiel flockig von oben herab. Es bedeckte allmählich während des Tages den Boden, abends wurde es weggekehrt.
Ich saß unter dem Tisch, rundherum rieselte Holzschnee.
Zwischen den Flocken sah ich zwei Beine, um die abgewetzte Hosen schlotterten.
Die Beine endeten in schiefen Schuhen, die einmal braun gewesen sein mußten.
Manchmal wackelten die Beine, hin und wieder auch die Schuhe. Dann sank das Holz wie Staub herunter, und oben war das Sägen, Schnalzen und Surren, während ich hustete und schluckte.
Als ich ein wenig älter wurde, kroch ich unter dem Tisch hervor und sah dem Großvater zu.
Sein Rücken war gebogen über dem Tisch, die graue Weste baumelte. Seine Arme bewegten sich leicht, sie hielten eine Feile in der Hand, eine kleine Säge, ein Schmirgelpapier. Der Tisch war voll mit leichtgewölbten Platten aus verschiedenen Hölzern, Ahornholz, Tannenholz, Ebenholz.
Aus ihnen formte der Großvater einzelne Teile und nannte alle bei ihren besonderen Namen: Zargen, Wirbel, Schnecke, Frosch.
Nur ich durfte ihm zusehen, wenn er an seiner Geige baute.
„Du kannst deinen Mund halten, du kannst hierbleiben“, sagte er, „wenn du einen Laut von dir gibst, fliegst du raus“.
Ich fragte nicht, warum ich keinen Laut von mir geben durfte.
Der Großvater wollte, daß die Geige sprachlos entstand, also gut.
Niemals wollte ich ihn enttäuschen.
Als aus der Katze, die bei uns wohnte, merkwürdige Geräusche kamen, weil sie ein um den Schwanz gebundenes Drahtgestell hinter sich herzog, sagte er ohne aufzublicken: „Nimm das ab.“
Es sei richtig, wenn die Katze mich ihr ganzes Leben lang nun meiden würde, sagte er, nachdem ich sie befreit hatte.
Als hätte sie seine Worte verstanden, tat die Katze nun genau das: Wenn sie mich sah, bekam sie ein Fell aus Stacheln und knurrte wie ein Hund.
Niemals wieder ließ sie mich in ihre Nähe.
Mein Großvater, so kam es mir vor, machte sein ganzes Leben nichts anderes, als eine Geige zu bauen. Vor meiner Geburt war er zwar Maurer gewesen und antifaschistischer Held, wie ich von meiner Mutter wußte, aber auch da hatte er immer an der Geige gebaut.
Es schien mir selbstverständlich zu sein.
Solange ich klein war, lebte ich in der Überzeugung, daß der Krieg etwas sei, das zurückgekehrte Männer veranlasste, ihre ganze Zeit und Hingabe in den Bau einer Geige zu legen, die niemals fertig wird.
In meiner Vorstellung war in allen Nachkriegswohnungen und den halb gebauten Häusern ein Schaben und Fräsen zu hören, ein Schnalzen und Surren und abends das müde, gleichmäßige Geräusch des Kehrens und Wegtragens von Abfall und schließlich das Geräusch des Verschließens einer Tür.
Lange fiel mir nicht auf, daß die Geige niemals fertig wurde.
Ich sah, daß der Großvater arbeitete, Tag für Tag, und daß nichts ihn so aus der Ruhe bringen konnte wie unangemeldeter Besuch oder ein Krankenhausaufenthalt oder irgendwelche familiären Angelegenheiten – eine Hochzeit oder ein Begräbnis –, Angelegenheiten, die seine Aufmerksamkeit und Anwesenheit erforderten und die er stumm und sichtbar unbeteiligt über sich ergehen ließ.
Auch andere Menschen waren stumm und unbeteiligt bei diesen Anlässen, das sah ich an Mutter, aber mein Großvater, so empfinde ich das heute, hatte hinter seiner Stummheit eine Sprache.
Diese Sprache arbeitete in ihm, und dieses Arbeiten drückte sich in einem Zucken aus, das unter den Augen begann, sich von den Wangen über den Hals bis in Arme und Beine fortsetzte, sodaß schließlich sein ganzer Körper zuckte und meine Mutter gezwungen war, ihn rasch aus dem Friedhof oder der Gaststätte hinauszuleiten und nach Hause zu bringen, wo er sich innerhalb kürzester Zeit beruhigte und schließlich, entspannt geworden, zu seiner Geige in die Werkstatt ging.
Eines Nachts wurde ich geweckt von nie gehörten Tönen. Es war wie ein Singen, aber ein Singen aus der Hölle.
Ich schlich diesem Höllengesang hinterher und entdeckte schließlich am Küchenboden die Katze.
Ich glaube, daß kein Knochen in ihrem Körper nicht gebrochen war.
Sie hatte sich noch ins Haus schleppen können, während das Auto oder Motorrad längst schon vom Nachtdunkel verschluckt war.
Ein Streifen Mondlicht fiel auf den Boden. Die Katze erschrak noch in ihrem Sterben vor mir.
Ich hockte am Boden, konnte mich nicht mehr bewegen.
Ich wagte nicht, mir die Ohren zuzuhalten.
Am nächsten Tag begrub ich sie und schnitzte einen Futternapf.
„Nimm das“, sagte mein Großvater, es war ein Stück wertvolles Ahornholz.
Ich schnitzte einen Fisch, legte ihn im Napf auf das Grab.
Als ich größer wurde, begann ich zu fragen.
„Warum spielst du mir nicht etwas vor?“ bettelte ich.
Er sah mich erstaunt an, als hätte ich etwas gefragt, das außerhalb seines Denkens lag.
Er blieb einige Zeit stehen, eine Feile in der Hand. Er schüttelte nicht einmal den Kopf.
Ich wiederholte die Frage.
Aus dem Inneren des Großvaters kam ein schweres Atmen. Er hob die Hand vor das Gesicht, als müsste er etwas abwehren.
Mit der anderen Hand zog er mich kurz und heftig an sich heran. Ich hörte das Jagen seines Blutes.
Voller Scham preßte ich meinen Kopf an seinen Bauch. Ich hatte ihm wehgetan, ich hatte etwas falsch gemacht, aber ich wußte nicht, was.
Meine Zeit in der Werkstatt wurde kürzer, die Schule begann.
Mit dem Lesen und Schreiben sickerte auch die Erkenntnis ein, daß ich dumm gewesen war.
Der Großvater arbeitete doch nicht seit Urzeiten an einer einzigen Geige!
Er mußte im Laufe der Jahre viele Geigen gebaut haben!
Warum war mir nicht früher aufgefallen, daß die Geigen einmal dunkelbraun, einmal rotbraun, einmal ockergelb ausfielen?
Außerdem erlebte ich, daß er die Geige wegsperrte, sobald er jemanden durch die leicht verschmierten Fenster auf die Werkstatt zukommen sah, die Nachbarin oder den Genossen von der Kreisleitung oder seinen Freund Fritz, der ihn zum Kartenspielen abholte.
Kaum hörte er das Quietschen des Gartentürchens zehn Meter vor der Werkstatt, das die Eintretenden verriet, bevor man sie erkennen konnte, öffnete er rasch und geübt den Schrank neben dem Tisch, legte die Geige oder ihre Teile hinein, sperrte zweimal ab und tat so, als schnitze er an einer kleinen Truhe, die immer in seiner Nähe war.
„Es muß niemand wissen“, sagte er und zwinkerte mir zu, „weißt du. Das ist unser Geheimnis“.
Wie stolz ich war! Was für ein Geheimnis! Mit heißen Wangen streckte ich ihm meine Hand entgegen und wir schüttelten feierlich unsere Hände, und noch heute kann ich ihn spüren, diesen warmen, rauhen Druck zwischen uns.
Aber was passierte mit den fertigen Geigen?
Irgendwann bohrte sich diese Frage in meinen Kopf.
Versteckte er sie irgendwo oder warf er sie etwa weg, zertrümmerte oder verheizte er sie, weil sie ihm nicht perfekt genug erschienen?
Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen. Ich sah ja, mit welcher Liebe er an jedem Holzkörper hing, wie vorsichtig seine klobigen Finger wurden, wenn er über die Maserungen des Holzes strich.
Die Neugier piesackte mich.
„Was sind das für Zeichen?“
Ich hielt ihm eine Partitur unter die Nase, die ich zwischen den wenigen Büchern bei uns gefunden hatte, Mozart las ich, Eine kleine Nachtmusik. Ich wollte, daß er mir diese Sprache erklärte, den Zusammenhang zwischen den hellen und gefüllten Kringeln, den Fähnchen und Linien, in denen etwas verborgen war.
Ich wußte, daß sie eine Welt von Klängen öffnen konnten.
Und zwar wußte ich das, weil am Ende unserer Straße ein Haus stand, aus dessen offenen Fenstern immer wieder Musik nach draußen drang.
Ich kletterte auf den Baum vor dem Haus und konnte so zwischen den Zweigen ins Innere des obersten Stockwerks lugen.
Durch zwei Fenster beobachtete ich jeden Samstagnachmittag eine Familie beim Musizieren.
Die Familie bestand aus Vater, Mutter, vier Söhnen und einer Tochter.
Sie hatten Blätter vor sich auf silbrigen Vorrichtungen, die sich zusammenlegen ließen. Die Tochter spielte Trompete. Die Mutter saß am Klavier, ich konnte das Klavier nicht sehen, nur den Oberkörper und das Profil der Frau.
Die vier Söhne spielten Posaune, Cello, Kontrabass und Saxophon.
Die Namen dieser blitzenden und kurvigen und für mich damals kuriosen Instrumente lernte ich erst später kennen.
Das einzige Instrument, das mir vertraut war, wurde vom Vater gespielt, die Geige.
Durch die zwei Fenster erblickte ich Arme, Oberkörper, Gesichter und Instrumente, nichts war vollständig, alles Stückwerk. Es war ein lebendiges Puzzle. Die fehlenden Teile fügten sich zusammen in meinem Kopf.
Wenn sie endlich zu spielen begannen, vergaß ich die Ungemütlichkeit meines Sitzes. Ich wußte nicht, was sie spielten.
Es kam gedämpft auf mich zu und ließ mich auf wunderliche Weise mit dem Baum zusammenwachsen.
Einmal spielte ich mit dem Gedanken, zu fragen, ob ich nicht bei den Eltern des Mädchens Geige lernen dürfte oder vielleicht Klavier. Wir hatten das Geld natürlich nicht, das war sicher ein Grund, warum ich diese Idee sofort wieder verwarf.
Im Nachhinein scheint mir aber, daß etwas anderes wesentlicher war: Die Vorstellung, sich in ihre Nähe vorzuwagen, war einfach zu überwältigend, die Zimmer zu betreten, in denen das Mädchen lebte, die Luft einzusaugen, die es mit seinen Eltern und Brüdern gemeinsam atmete, ja, eindeutig, es war zuviel.
Ich war zwölf Jahre alt, und ich wußte nicht, was es war, das mich auf den Baum zog, mich mit heißen Fäden eingesponnen hatte, zu einer mageren Larve mutieren ließ, im ewigen Wartezustand hin auf irgendein zukünftiges Schlüpfen.
Einmal noch begegneten wir uns zufällig auf der Straße.
Ich schlug die Augen nieder, als ich das Mädchen erkannte, das hellbraune Haar unter ihrer Mütze, meine Beine waren aus Watte, das Herz schlug im Kopf.
So wankte ich an ihr vorbei.
„Na, du übst wohl fleißig?“ höhnte sie mir hinterher.
Wie ferngesteuert ging ich weiter.
Was wußte sie von mir? Meinte sie das Instrument, das ich noch gar nicht spielen konnte? Hatten sie mich gesehen auf dem Baum?
Später, als ich zu mir kam, abends im Bett, der heiße Schreck: Sie dachte wohl, ich sei so jemand wie die Nachbarin oder Fritz, „mein lieber Freund“, wie ihn Großvater nannte, jemand also, der Leute ausspioniert ...
Und dann war die Wohnung plötzlich leer, ich konnte es gut von meinem Baumsitz aus sehen, alles war leer, wie tot.
Die Familie sei in einen anderen Stadtteil gezogen, hörte ich von der Nachbarin, die die Augen rollte.
Aber meine Mutter wußte, was wirklich passiert war.
„Sie sind rüber”, sagte sie, „alle zusammen – aber, was ... was hast du denn ...“
In der Werkstatt sah ich weiterhin jede Geige in fast fertigem Zustand, ihr wochenlanges, monatelanges Wachsen, bevor sie plötzlich verschwand, als wäre sie über Nacht zu Staub zerfallen. Nichts blieb übrig von ihr, nichts, außer der spezielle Geruch von Holz und Lack und Rosshaaren, der in der Werkstatt hing.
Es gab niemanden, der die Geigen kaufte oder dem sie von meinem Großvater geschenkt worden wären.
Was also passierte mit ihnen?
Ich strich um die Werkstatt, er hatte die Vorhänge zugezogen, ich legte meine Ohren an die Wände, doch nichts war zu hören, nichts, nur das Rauschen meines eigenen Bluts.
An jenen Tagen, an denen eine Geige vor ihrer Vollendung stand, kam der Großvater nächtelang nicht zu uns in die Wohnung.
Meine Mutter, müde von der Arbeit in der Textilfabrik, sah in der Küche auf vom Nähzeug.
„Laß ihn in Ruhe“, murmelte sie.
2
Am Abend des Tages, an dem wir erfahren hatten, was mit Großvater geschehen war, trat ich aus der Küche in den Flur, schloß die Wohnungstür und ging zur Werkstatt.
Die Tür war nur angelehnt, sie knarrte ihr vertrautes Geräusch, und während ich sie vorsichtig öffnete, verstand ich plötzlich, was dies für ein Ort war.
Der Raum roch schwach nach Holz und stark nach Fäulnis, vermutlich lagen noch Teller mit Essensresten unter dem Klappbett. Der Großvater pflegte sie zu stapeln und zu vergessen.
Ja, es sollte stinken, es war mir recht.
Bis zum Himmel sollte es stinken.
Ich sah die Werkzeuge an ihren krummen Nägeln an der Wand hängen. Der Besen, mit dem der Großvater den Boden gekehrt hatte, lehnte in der für ihn vorgesehenen Ecke. Der Tisch, von dem die Holzflocken all die Jahre hindurch herabgeschneit waren, schien mir bleich wie ein Knochen im Halbdunkel entgegen.
Ich setzte mich auf das Bett und kam erst wieder zu mir, als die Tür knarrte und jemand in den Raum trat, der längst schon im Finstern lag.
Es mußten wohl Stunden vergangen sein auf diesem Bett, kalt war mir, ich hatte die Großvaterdecke um die Schultern gezogen, die Zeit war versickert vom Diesigen ins Dunkle, geschmolzen in einen einzigen hellen Augenblick, in ein Bild, in eine außerordentliche Tat.
„Komm“, flüsterte meine Mutter, sie hielt sich ein Taschentuch vor Nase und Mund.
Und als ich nicht antwortete und sitzenblieb, ein Kegel aus Filz und Erschöpfung, setzte sie sich zu mir und legte den Arm um meine Schulter.
Wir schwiegen, aber unsere Erinnerungen sprachen miteinander.
Ohne daß wir uns ansahen, wanderten unsere Gedanken zurück zum Morgen dieses Tages, den ich nie vergessen werde.
Es war der Morgen, an dem der ABV, also unser Abschnittsbevollmächtigter, und zwei Volkspolizisten läuteten und uns fragten, ob wir die und die seien, und meine Mutter ein spitzes Gesicht bekam und sagte, das wüßten sie doch.
Einen Moment, bevor sie geläutet hatten, war mir etwas vor der Tür aufgefallen, an der ich soeben zufällig vorübergegangen war.
Ich hatte etwas gehört, das wie ein Seufzen geklungen hatte. Ja, die Dielen, die normalerweise lautstark ächzten, hatten nur geseufzt, weil sie so leise aufgetreten waren.
Ich fand meine Mutter mutig, obwohl klar war, daß uns nichts passieren konnte: Schließlich waren wir wer. Eine Familie mit einem Helden.
Das wußten alle, vor allem der ABV, aber auch Frau Schulze und die anderen Lehrer in der Schule, weswegen ich manchmal bessere Noten bekam, als ich verdiente.
Die uniformierten Volkspolizisten waren sehr jung, das fiel sogar mir auf, und Schweißperlen traten ihnen auf den blassen Hautabschnitt zwischen Augenbrauen und Uniformmütze.
Dann sagte der rechte, daß es um Großvater ginge, und der linke, Genosse Braunmann, der Vater meiner Mutter, sei tot.
„Wo“, fragte Mutter, und das war logisch, weil der Großvater schon seit sieben Tagen, wie es später im Protokoll hieß, „abgängig“ war.
„Sie hätten Meldung erstatten müssen“, sagte der ABV kühl.
Einen Moment war es still.
„Ich kann mir nicht vorstellen“, erwiderte Mutter langsam, indem sie jedes Wort betonte, „daß es unseren Sicherheitsorganen nicht bekannt ist, wo sich einer unserer Bürger aufhält“.
Der ABV fixierte sie, zückte einen Notizblock und schrieb etwas auf.
Sie lügen. Das war es, was plötzlich in meinem Kopf hämmerte.
Großvater war doch immer wieder zurückgekehrt!
Auch wenn er über eine Woche nicht nach Hause gekommen war, irgendwann hatte er wieder in der Küche gestanden, hatte sich Kaffee gekocht, war einfach wieder da gewesen, und nie wußten wir, von welchen Orten er zurückgekehrt war wie ein streunender, alter Kater!
Später wurde mir klar, daß er in dieser Zeit Dinge organisiert hatte, Spiritusöl, Färbemittel, Werkzeug, all die vielen Gegenstände, die man zum Bauen einer Geige braucht, Rosshaare und Tropenholz für die Bögen, die er bei Witwen von sächsischen Geigenbauern kaufte, die noch über Lager von vor dem Krieg verfügten.
„Wo“, kam es erneut aus meiner kerzengeraden Mutter.
Und ich dachte: Wie.
Denn daß Großvater einfach so – wie ein normaler Mensch – sterben könnte, das war so ausgeschlossen wie ein Sprung über die Mauer.
Ich sehe uns an einem sonnigen Vormittag in Begleitung zweier junger schwitzender Volkspolizisten und des ABV durch die Straßen gehen, mit der Straßenbahn fahren und in den Zug steigen, der am Ostbahnhof wartete. Die Leute wichen zur Seite, sahen uns aber, wenn ich mich umdrehte, neugierig nach.
Vielleicht hielten sie meine Mutter und mich für ein Verbrecherpaar oder für Republikflüchtige, auf frischer Tat ertappt oder Doppelagenten, die nun verhaftet oder auf dem Weg zur Hinrichtung waren.
Auf jeden Fall beschloß ich auf dieser Fahrt, in meinem späteren Leben eine richtige Uniform zu tragen.
An die Fahrt erinnere ich mich nur mehr verschwommen.
Wir fuhren hinaus aus Berlin, hinein in die Weite von Brandenburg, die Kiefern leuchteten im vormittäglichen Licht.
In Storkow hielten wir, und zwei weitere Volkspolizisten warteten auf uns in einem Auto.
So ein Aufwand – Großvater mußte einen wichtigen Tod gestorben sein.
Wir fuhren an einem Ort vorbei, den die Volkspolizisten wie Neu-Bös-Tön aussprachen.
Dann stoppte das Auto, und wir gingen, zu siebt heftig schwitzend, aber aus verschiedenen Gründen, in den Wald hinein.
Ich hatte wohl das Wichtigste falsch verstanden, denn im Wald, den wir auf einem Forstweg einige Zeit durchwanderten, würden wir keinen toten Großvater vorfinden, Genosse Braunmann sei, so der ABV, zur Untersuchung auf dem Weg nach Berlin.
Ich sah Mutter ins Gesicht, zog ein wenig an ihren Fingern, aber die hingen wie nasse Salatblätter an ihrer Hand herunter. Ich wischte mir die Hand an der Hose ab und beschleunigte meine Schritte wie sie.
Es war kühl und mild in diesem Wald, der Boden sandig, wir gingen und gingen.
Manchmal blieben wir stehen, weil die zwei hiesigen Volkspolizisten sich nicht im Klaren waren über die Aufzeichnungen, die sie in Händen hielten wie einen Lageplan für eine Schatzsuche.
Den Lageplan hatte ein Förster aus Neu-Boston angefertigt, er hatte den Großvater offenbar gefunden, aber konnte oder durfte uns nicht persönlich führen.
Die zwei Volkspolizisten berieten sich flüsternd und erregt, ich sah einem Käfer vor meinen Schuhspitzen zu, der einen anderen, offenbar toten, auf dem Rücken schleppte.
Ich weiß nicht, warum, aber plötzlich schob sich mein Fuß vor, ich konnte es nicht verhindern, plötzlich war mein Schuh über dem toten und dem noch lebenden Käfer, es knackte, und dann hatten sich die beiden geeinigt und sagten: „Einfach nach vorn und links“.
Meine Mutter ging starren Blickes geradeaus, ihr ganzer Körper schien seit dem Morgen kantiger geworden zu sein, einer der Volkspolizisten sagte: „Gleich ...“,
Zweige schlugen mir ins Gesicht, und dann standen wir auf einer Lichtung.
Zuerst sah ich gar nichts außer Grün und Sonnenlicht, aber dann fielen mir die kleinen Hügel auf, etwas größere Maulwurfshügel, sie waren kreisförmig angelegt in einer seltsamen Ordnung, wie es schien, ein Kreis nach dem andern.
Der Mund meiner Mutter war ein wilder Strich.
Ihre Augen weiteten sich, sie schwankte leicht, und einer der Berliner trat neben sie und faßte sie unter den Arm.
Sie wehrte sich nicht.
Das fand ich äußerst beunruhigend.
Die übrigen Volkspolizisten nahmen die Mützen ab und wischten sich die Stirnen.
Der ABV öffnete den obersten Knopf seines Hemdkragens.
Ich stellte mich neben einen Maulwurfshügel, alle standen stumm und hörbar atmend in der nun stechenden Mittagssonne.
Durch die Grasbüschel war meine Sicht getrübt gewesen, denn nun erkannte ich, daß der Maulwurfshügel aufgebrochen war wie ein Grab.
Es sah aus, als hätte jemand mit gezieltem Spatenstich die Erde umgegraben.
Gleich daneben sah die Erde genauso aus, sandige Erde, graubraun und löchrig, ich trat von einem Hügel zum nächsten, und in jedem Hügel sah ich in ein Loch hinein.
Dann hörte ich ein Räuspern und einer der Männer sagte, wir sollten ihm folgen.
Wir gingen an den Kreisen vorbei, ich wollte die Erdhaufen zählen, aber die anderen gingen zu schnell.
„Hier“, sagte einer von den Neu-Bostonern am Waldrand.
Der Übergang von der gleißenden Sonne ins Schwarz des Waldes blendete.
Im Spiel von Schatten und Licht brach etwas Riesiges hervor, ich duckte mich im ersten Moment wie vor einem großen Tier.
Aber im zweiten Moment sah ich, daß es ein Kunstwerk war.
Es türmte sich auf vor uns in merkwürdigen Formen. Heute erscheint es mir wie eine wilde Geometrie von Rundungen und Geraden, rotschimmernd, braun.
„Nein, das gibts doch nicht“, sagte ein Kind neben mir.
Die Kinderstimme war voll mit einem Staunen, das von sehr weit her kam.
Dann setzte sich meine Mutter einfach auf den Boden.
Sie lehnte sich an einen Baum und schloß die Augen.
Die Männer traten von einem Bein auf das andere, schnauften.
Rundherum waren die Geräusche des Waldes zu hören.
Zweigeknacken, Vogelrufe, Getrappel von unzähligen kleinen Hufen und Pfoten, Kratz-und Schmatzlaute. Mir kam es vor, als könnte ich unter meinen Füßen das Wachsen und Wühlen hören, während ich vor dem Berg stand, dessen Einzelteile nun klar sichtbar wurden, die feine Rundung, das Schimmern der Körper, der Schnecken, der Wirbel, die Saiten glitzerten wie Silberfäden, Spinnweben, die aus frischem und moderndem Holz wuchsen, mit Würmern und Käfern, die ihre leuchtendgrünen Panzer zeigten, neue, in die Luft ragende und wieder zerbröselnde Bögen, der Berg voller Geigen, so ist es in meiner Erinnerung, war ein atmender, verwesender Organismus, Naturwerk, Kunst.
Weil niemand etwas tat, wagte ich mich nahe heran und sah, daß die Bögen mit Bändern an den Geigen befestigt waren. Viele waren fasrig geworden, ausgebleicht, erdverkrustet, aber man konnte noch Zeichen erkennen auf diesen Bändern, und dann sah ich Buchstaben auf den noch neueren Bändern, und dann versuchte ich zu lesen.
Der Förster hatte den toten Großvater liegend mit dem Spaten in der Hand gefunden.
Da sich in den Wäldern ringsum einiges „Gesindel“, wie der Volkspolizist sagte, „herumtrieb“, das die reichlich vorhandenen Totenschädel und Helme und all das
„andere Zeugs“ aus dem Zweiten Weltkrieg ausgrub und verkaufte oder irgendwelche merkwürdigen Riten damit trieb, hatte der Förster anfangs gedacht, der Großvater wäre auch so einer.
Dann hatte er entdeckt, daß Großvater nicht über einem Helm, sondern über einer Geige gelegen hatte.
Als die Polizei angekommen war und alles untersuchte, hatten sie bemerkt, daß der Bogen mit einem Band an der Geige angeklebt war – und auf diesem Band in schwarzen Druckbuchstaben ein Name stand.
Großvater war also gestorben, als er soeben im Begriff war, ein Grab für eine Geige zu schaufeln.
Sie hatten die ganze Lichtung ausgehoben und eine Geige nach der anderen gefunden, in unterschiedlichen Beschaffenheiten und Auflösungserscheinungen.
Jede Geige trug einen anderen Namen.
Uns wurde eine Liste vorgelegt in der Wachstube in Neu-Boston. Sie seien hier nämlich von der schnellen Truppe, sagte einer der Volkspolizisten.
Meine Mutter trank einen Schluck Wasser, bevor sie sich über das Papier beugte.
Sie kenne niemanden, sagte sie nach einer Weile.
Wie lange wir da saßen auf Großvaters Klappbett, Mutter und ich, kann ich nicht mehr sagen. Irgendwann knipste sie die Funzel über dem Tisch an.
„Ich zeig dir was“, sagte sie mit einem scheuen Lächeln, „aber das bleibt unser Geheimnis“.
Ich hatte noch nie ein Geheimnis mit meiner Mutter gehabt.
Mutter zog ein Foto aus ihrer Rocktasche hervor. Ihre Haltung bedeutete, daß sie mich alt genug fand. Daß ich groß genug war für die wichtigen Dinge.
Ich starrte das Foto an. Zuerst fiel mir auf, daß seine Teile von durchsichtiger Klebefolie zusammengehalten wurden. Es zeigte, von oben aufgenommen, einen Kreis von Männern. Jeder spielte ein Instrument.
Ziehharmonika, Klarinette, Flöte, Trompete, Geige, Oboe, Posaune.
Andere sahen ihnen zu.
Die, die spielten, trugen gestreifte Kleidung.
Die anderen trugen Uniformen.
Ich wußte, was das für Uniformen waren und daß die Sträflingskleidung jene war, die ich in Buchenwald gesehen hatte.
Was sollte das? Meine Mutter drehte wortlos das Foto um.
Lemberg stand da, ohne Jahreszahl.
Ich mußte niesen, schneuzte mich und sah meine Mutter fragend an.
Sie hob und senkte die Schultern.
3
Wäre mein Großvater kein antifaschistischer Held gewesen, wäre die ganze Sache, da bin ich sicher, für uns anders ausgegangen.
Die Volkspolizisten und der ABV fuhren damals mit uns nach Hause und räumten am nächsten Tag die Werkstatt um. Sie fanden nichts, was geholfen hätte, die Sache zu verstehen, und trugen alles fort, was Großvater zum Bau seiner Geigen angeschafft hatte.
Mutter sah ihnen nach, mit verschränkten Armen.
In den Wochen danach kamen auch immer wieder Leute von der Stasi.
Wir konnten ihnen nur berichten, was wir all die Jahre hindurch erlebt hatten, und weil Mutter und ich nie von unseren ersten Aussagen abwichen und offenbar vertrauenswürdig erschienen, gaben sie irgendwann auf.
Es war in dieser Zeit, daß Mutter meine Großmutter erwähnte, einige Male.
„Du weißt ja, daß sie bei meiner Geburt gestorben ist“, sagte sie.
Ja, wußte ich.
Aber das war mir neu: „Zuerst hat sie Flöte spielen gelernt, später Geige.“
Nach dem Mauerfall habe ich alles unternommen, um zu erfahren, was Lemberg war für meinen Großvater.
Erst da wurden die Archive geöffnet, erst da durfte ich auf seinen Spuren reisen, konnte Dokumente lesen.
All die Jahre fühlte ich, daß es eine Verbindung gab zwischen dem Foto mit den musizierenden Häftlingen und zuhörenden Offizieren, das ich immer bei mir trug, und den mit Namen gekennzeichneten Geigen, die Großvater in der brandenburgischen Erde vergraben hatte.
Er sei offenbar verrückt geworden, las ich in den Stasi-Unterlagen, habe es aber durchaus schlau, um nicht zu sagen mit perfider Verschlagenheit verstanden, seine völlig sinnfreie Tätigkeit vor der sozialistischen Gemeinschaft zu verheimlichen.
Keine Rede war mehr vom Helden, der mit einer Widerstandsgruppe gegen die Nazis zusammengearbeitet hatte.
Nichts war mehr von der Hochachtung in diesen Unterlagen zu spüren, die der Großvater in der DDR genossen hatte.
Wie gut, dachte ich, daß du konspirative Arbeit gewöhnt warst.
Irgendwann hielt ich ein seltsames Papier in der Hand, ich mußte mich setzen.
Es war eine Liste, auf der sein Name stand.
Eine Liste von Mitgliedern der Waffen-SS, die in Lemberg stationiert gewesen waren.
Zuerst dachte ich, es könne nur eine Verwechslung sein, Namensgleichheit.
Das Papier wackelte in meinen Händen.
Großvater war doch kein Mörder gewesen, sondern genau das Gegenteil!
„Ob er ein Mörder war“, sagte meine Mutter, als ich ihr meine Nachforschungen zeigte, „weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß er schwer verwundet wurde. Er sprach nie darüber, was geschehen ist. Warum er sich nach seiner Genesung kurz vor Kriegsende einer Gruppe anschloß, die versuchte, Menschen zu verstecken, jüdische vor allem, aber auch andere, die verfolgt wurden."
Sie sah durch mich hindurch, als erblickte sie etwas in dem Raum weit hinter mir.
„Sie müssen alle ein Grab bekommen”, sagte sie schließlich. „Das sagte er immer wieder. Alle müssen ein Grab bekommen.”
***
Seit Jahren ist die sogenannte Flüchtlingskrise ein zentrales gesellschaftliches Thema. Auch das Literaturportal Bayern beteiligt sich mit mehreren Projekten: 2015 war es Kooperationspartner der Buchpublikation Fremd, einer Anthologie gegen Fremdenfeindlichkeit, es hat zudem etliche Lesungen veranstaltet und unterstützt das Aktionsbündnis Wir machen das.
Nun geht es noch einen Schritt weiter, oder eher: tiefer, bis an die Graswurzeln der Gesellschaft, hinein in die Schulen. Die Reihe So fremd wie wir Menschen setzt auf Lesungen und Diskussionen nicht nur mit Erwachsenen und Tonangebern, die ihre festen Meinungen oft schon haben, sondern mit Heranwachsenden, mit Schülerinnen und Schülern, die von dem Flüchtlingsthema mindestens ebenso betroffen sind und ganz eigene Erfahrungen und Blickwinkel darauf haben.
Unterstützt vom Bayerischen Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst und begleitet von immer anderen Autorinnen und Autoren ist das Literaturportal Bayern seit 2017 in Schulen in ganz Bayern zu Gast, um mit den Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Schulformen zu diskutieren.
Eindrücke von der Schullesung an der Anton-Heilingbrunner-Realschule in Wasserburg
Schullesereihe „So fremd wie wir Menschen": Eine Erzählung von Birgit Müller-Wieland>
Birgit Müller-Wieland, 1962 in Oberösterreich geboren, studierte Germanistik und Psychologie in Salzburg und promovierte anschließend über Peter Weiss. Die Autorin von Gedichten, Prosa, Essays und Libretti erhielt für ihre Veröffentlichungen zahlreiche Auszeichnungen. Sie lebt in Berlin und München. Ihr aktueller Roman Flugschnee wurde 2017 für den Deutschen Buchpreis nominiert.
Im Rahmen der Schullesereihe So fremd wie wir Menschen des Literaturportals Bayern war die Autorin im Februar 2018 in der Anton-Heilingbrunner-Realschule in Wasserbug am Inn zu Gast, um mit den Schülerinnen und Schülern über die deutsche Zuwanderungspolitik, Flucht und Fremdsein zu diskutieren. Zur Einführung las sie eine Geschichte, die Kriegs-, Flucht- und Fremdheitserfahrungen im Mikrokosmos einer deutschen Familie nach 1945 thematisiert.
*
Der Geigenbauer
1
Meine erste Erinnerung ist ein Schaben und Fräsen und der Geruch von Holz.
Es fiel flockig von oben herab. Es bedeckte allmählich während des Tages den Boden, abends wurde es weggekehrt.
Ich saß unter dem Tisch, rundherum rieselte Holzschnee.
Zwischen den Flocken sah ich zwei Beine, um die abgewetzte Hosen schlotterten.
Die Beine endeten in schiefen Schuhen, die einmal braun gewesen sein mußten.
Manchmal wackelten die Beine, hin und wieder auch die Schuhe. Dann sank das Holz wie Staub herunter, und oben war das Sägen, Schnalzen und Surren, während ich hustete und schluckte.
Als ich ein wenig älter wurde, kroch ich unter dem Tisch hervor und sah dem Großvater zu.
Sein Rücken war gebogen über dem Tisch, die graue Weste baumelte. Seine Arme bewegten sich leicht, sie hielten eine Feile in der Hand, eine kleine Säge, ein Schmirgelpapier. Der Tisch war voll mit leichtgewölbten Platten aus verschiedenen Hölzern, Ahornholz, Tannenholz, Ebenholz.
Aus ihnen formte der Großvater einzelne Teile und nannte alle bei ihren besonderen Namen: Zargen, Wirbel, Schnecke, Frosch.
Nur ich durfte ihm zusehen, wenn er an seiner Geige baute.
„Du kannst deinen Mund halten, du kannst hierbleiben“, sagte er, „wenn du einen Laut von dir gibst, fliegst du raus“.
Ich fragte nicht, warum ich keinen Laut von mir geben durfte.
Der Großvater wollte, daß die Geige sprachlos entstand, also gut.
Niemals wollte ich ihn enttäuschen.
Als aus der Katze, die bei uns wohnte, merkwürdige Geräusche kamen, weil sie ein um den Schwanz gebundenes Drahtgestell hinter sich herzog, sagte er ohne aufzublicken: „Nimm das ab.“
Es sei richtig, wenn die Katze mich ihr ganzes Leben lang nun meiden würde, sagte er, nachdem ich sie befreit hatte.
Als hätte sie seine Worte verstanden, tat die Katze nun genau das: Wenn sie mich sah, bekam sie ein Fell aus Stacheln und knurrte wie ein Hund.
Niemals wieder ließ sie mich in ihre Nähe.
Mein Großvater, so kam es mir vor, machte sein ganzes Leben nichts anderes, als eine Geige zu bauen. Vor meiner Geburt war er zwar Maurer gewesen und antifaschistischer Held, wie ich von meiner Mutter wußte, aber auch da hatte er immer an der Geige gebaut.
Es schien mir selbstverständlich zu sein.
Solange ich klein war, lebte ich in der Überzeugung, daß der Krieg etwas sei, das zurückgekehrte Männer veranlasste, ihre ganze Zeit und Hingabe in den Bau einer Geige zu legen, die niemals fertig wird.
In meiner Vorstellung war in allen Nachkriegswohnungen und den halb gebauten Häusern ein Schaben und Fräsen zu hören, ein Schnalzen und Surren und abends das müde, gleichmäßige Geräusch des Kehrens und Wegtragens von Abfall und schließlich das Geräusch des Verschließens einer Tür.
Lange fiel mir nicht auf, daß die Geige niemals fertig wurde.
Ich sah, daß der Großvater arbeitete, Tag für Tag, und daß nichts ihn so aus der Ruhe bringen konnte wie unangemeldeter Besuch oder ein Krankenhausaufenthalt oder irgendwelche familiären Angelegenheiten – eine Hochzeit oder ein Begräbnis –, Angelegenheiten, die seine Aufmerksamkeit und Anwesenheit erforderten und die er stumm und sichtbar unbeteiligt über sich ergehen ließ.
Auch andere Menschen waren stumm und unbeteiligt bei diesen Anlässen, das sah ich an Mutter, aber mein Großvater, so empfinde ich das heute, hatte hinter seiner Stummheit eine Sprache.
Diese Sprache arbeitete in ihm, und dieses Arbeiten drückte sich in einem Zucken aus, das unter den Augen begann, sich von den Wangen über den Hals bis in Arme und Beine fortsetzte, sodaß schließlich sein ganzer Körper zuckte und meine Mutter gezwungen war, ihn rasch aus dem Friedhof oder der Gaststätte hinauszuleiten und nach Hause zu bringen, wo er sich innerhalb kürzester Zeit beruhigte und schließlich, entspannt geworden, zu seiner Geige in die Werkstatt ging.
Eines Nachts wurde ich geweckt von nie gehörten Tönen. Es war wie ein Singen, aber ein Singen aus der Hölle.
Ich schlich diesem Höllengesang hinterher und entdeckte schließlich am Küchenboden die Katze.
Ich glaube, daß kein Knochen in ihrem Körper nicht gebrochen war.
Sie hatte sich noch ins Haus schleppen können, während das Auto oder Motorrad längst schon vom Nachtdunkel verschluckt war.
Ein Streifen Mondlicht fiel auf den Boden. Die Katze erschrak noch in ihrem Sterben vor mir.
Ich hockte am Boden, konnte mich nicht mehr bewegen.
Ich wagte nicht, mir die Ohren zuzuhalten.
Am nächsten Tag begrub ich sie und schnitzte einen Futternapf.
„Nimm das“, sagte mein Großvater, es war ein Stück wertvolles Ahornholz.
Ich schnitzte einen Fisch, legte ihn im Napf auf das Grab.
Als ich größer wurde, begann ich zu fragen.
„Warum spielst du mir nicht etwas vor?“ bettelte ich.
Er sah mich erstaunt an, als hätte ich etwas gefragt, das außerhalb seines Denkens lag.
Er blieb einige Zeit stehen, eine Feile in der Hand. Er schüttelte nicht einmal den Kopf.
Ich wiederholte die Frage.
Aus dem Inneren des Großvaters kam ein schweres Atmen. Er hob die Hand vor das Gesicht, als müsste er etwas abwehren.
Mit der anderen Hand zog er mich kurz und heftig an sich heran. Ich hörte das Jagen seines Blutes.
Voller Scham preßte ich meinen Kopf an seinen Bauch. Ich hatte ihm wehgetan, ich hatte etwas falsch gemacht, aber ich wußte nicht, was.
Meine Zeit in der Werkstatt wurde kürzer, die Schule begann.
Mit dem Lesen und Schreiben sickerte auch die Erkenntnis ein, daß ich dumm gewesen war.
Der Großvater arbeitete doch nicht seit Urzeiten an einer einzigen Geige!
Er mußte im Laufe der Jahre viele Geigen gebaut haben!
Warum war mir nicht früher aufgefallen, daß die Geigen einmal dunkelbraun, einmal rotbraun, einmal ockergelb ausfielen?
Außerdem erlebte ich, daß er die Geige wegsperrte, sobald er jemanden durch die leicht verschmierten Fenster auf die Werkstatt zukommen sah, die Nachbarin oder den Genossen von der Kreisleitung oder seinen Freund Fritz, der ihn zum Kartenspielen abholte.
Kaum hörte er das Quietschen des Gartentürchens zehn Meter vor der Werkstatt, das die Eintretenden verriet, bevor man sie erkennen konnte, öffnete er rasch und geübt den Schrank neben dem Tisch, legte die Geige oder ihre Teile hinein, sperrte zweimal ab und tat so, als schnitze er an einer kleinen Truhe, die immer in seiner Nähe war.
„Es muß niemand wissen“, sagte er und zwinkerte mir zu, „weißt du. Das ist unser Geheimnis“.
Wie stolz ich war! Was für ein Geheimnis! Mit heißen Wangen streckte ich ihm meine Hand entgegen und wir schüttelten feierlich unsere Hände, und noch heute kann ich ihn spüren, diesen warmen, rauhen Druck zwischen uns.
Aber was passierte mit den fertigen Geigen?
Irgendwann bohrte sich diese Frage in meinen Kopf.
Versteckte er sie irgendwo oder warf er sie etwa weg, zertrümmerte oder verheizte er sie, weil sie ihm nicht perfekt genug erschienen?
Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen. Ich sah ja, mit welcher Liebe er an jedem Holzkörper hing, wie vorsichtig seine klobigen Finger wurden, wenn er über die Maserungen des Holzes strich.
Die Neugier piesackte mich.
„Was sind das für Zeichen?“
Ich hielt ihm eine Partitur unter die Nase, die ich zwischen den wenigen Büchern bei uns gefunden hatte, Mozart las ich, Eine kleine Nachtmusik. Ich wollte, daß er mir diese Sprache erklärte, den Zusammenhang zwischen den hellen und gefüllten Kringeln, den Fähnchen und Linien, in denen etwas verborgen war.
Ich wußte, daß sie eine Welt von Klängen öffnen konnten.
Und zwar wußte ich das, weil am Ende unserer Straße ein Haus stand, aus dessen offenen Fenstern immer wieder Musik nach draußen drang.
Ich kletterte auf den Baum vor dem Haus und konnte so zwischen den Zweigen ins Innere des obersten Stockwerks lugen.
Durch zwei Fenster beobachtete ich jeden Samstagnachmittag eine Familie beim Musizieren.
Die Familie bestand aus Vater, Mutter, vier Söhnen und einer Tochter.
Sie hatten Blätter vor sich auf silbrigen Vorrichtungen, die sich zusammenlegen ließen. Die Tochter spielte Trompete. Die Mutter saß am Klavier, ich konnte das Klavier nicht sehen, nur den Oberkörper und das Profil der Frau.
Die vier Söhne spielten Posaune, Cello, Kontrabass und Saxophon.
Die Namen dieser blitzenden und kurvigen und für mich damals kuriosen Instrumente lernte ich erst später kennen.
Das einzige Instrument, das mir vertraut war, wurde vom Vater gespielt, die Geige.
Durch die zwei Fenster erblickte ich Arme, Oberkörper, Gesichter und Instrumente, nichts war vollständig, alles Stückwerk. Es war ein lebendiges Puzzle. Die fehlenden Teile fügten sich zusammen in meinem Kopf.
Wenn sie endlich zu spielen begannen, vergaß ich die Ungemütlichkeit meines Sitzes. Ich wußte nicht, was sie spielten.
Es kam gedämpft auf mich zu und ließ mich auf wunderliche Weise mit dem Baum zusammenwachsen.
Einmal spielte ich mit dem Gedanken, zu fragen, ob ich nicht bei den Eltern des Mädchens Geige lernen dürfte oder vielleicht Klavier. Wir hatten das Geld natürlich nicht, das war sicher ein Grund, warum ich diese Idee sofort wieder verwarf.
Im Nachhinein scheint mir aber, daß etwas anderes wesentlicher war: Die Vorstellung, sich in ihre Nähe vorzuwagen, war einfach zu überwältigend, die Zimmer zu betreten, in denen das Mädchen lebte, die Luft einzusaugen, die es mit seinen Eltern und Brüdern gemeinsam atmete, ja, eindeutig, es war zuviel.
Ich war zwölf Jahre alt, und ich wußte nicht, was es war, das mich auf den Baum zog, mich mit heißen Fäden eingesponnen hatte, zu einer mageren Larve mutieren ließ, im ewigen Wartezustand hin auf irgendein zukünftiges Schlüpfen.
Einmal noch begegneten wir uns zufällig auf der Straße.
Ich schlug die Augen nieder, als ich das Mädchen erkannte, das hellbraune Haar unter ihrer Mütze, meine Beine waren aus Watte, das Herz schlug im Kopf.
So wankte ich an ihr vorbei.
„Na, du übst wohl fleißig?“ höhnte sie mir hinterher.
Wie ferngesteuert ging ich weiter.
Was wußte sie von mir? Meinte sie das Instrument, das ich noch gar nicht spielen konnte? Hatten sie mich gesehen auf dem Baum?
Später, als ich zu mir kam, abends im Bett, der heiße Schreck: Sie dachte wohl, ich sei so jemand wie die Nachbarin oder Fritz, „mein lieber Freund“, wie ihn Großvater nannte, jemand also, der Leute ausspioniert ...
Und dann war die Wohnung plötzlich leer, ich konnte es gut von meinem Baumsitz aus sehen, alles war leer, wie tot.
Die Familie sei in einen anderen Stadtteil gezogen, hörte ich von der Nachbarin, die die Augen rollte.
Aber meine Mutter wußte, was wirklich passiert war.
„Sie sind rüber”, sagte sie, „alle zusammen – aber, was ... was hast du denn ...“
In der Werkstatt sah ich weiterhin jede Geige in fast fertigem Zustand, ihr wochenlanges, monatelanges Wachsen, bevor sie plötzlich verschwand, als wäre sie über Nacht zu Staub zerfallen. Nichts blieb übrig von ihr, nichts, außer der spezielle Geruch von Holz und Lack und Rosshaaren, der in der Werkstatt hing.
Es gab niemanden, der die Geigen kaufte oder dem sie von meinem Großvater geschenkt worden wären.
Was also passierte mit ihnen?
Ich strich um die Werkstatt, er hatte die Vorhänge zugezogen, ich legte meine Ohren an die Wände, doch nichts war zu hören, nichts, nur das Rauschen meines eigenen Bluts.
An jenen Tagen, an denen eine Geige vor ihrer Vollendung stand, kam der Großvater nächtelang nicht zu uns in die Wohnung.
Meine Mutter, müde von der Arbeit in der Textilfabrik, sah in der Küche auf vom Nähzeug.
„Laß ihn in Ruhe“, murmelte sie.
2
Am Abend des Tages, an dem wir erfahren hatten, was mit Großvater geschehen war, trat ich aus der Küche in den Flur, schloß die Wohnungstür und ging zur Werkstatt.
Die Tür war nur angelehnt, sie knarrte ihr vertrautes Geräusch, und während ich sie vorsichtig öffnete, verstand ich plötzlich, was dies für ein Ort war.
Der Raum roch schwach nach Holz und stark nach Fäulnis, vermutlich lagen noch Teller mit Essensresten unter dem Klappbett. Der Großvater pflegte sie zu stapeln und zu vergessen.
Ja, es sollte stinken, es war mir recht.
Bis zum Himmel sollte es stinken.
Ich sah die Werkzeuge an ihren krummen Nägeln an der Wand hängen. Der Besen, mit dem der Großvater den Boden gekehrt hatte, lehnte in der für ihn vorgesehenen Ecke. Der Tisch, von dem die Holzflocken all die Jahre hindurch herabgeschneit waren, schien mir bleich wie ein Knochen im Halbdunkel entgegen.
Ich setzte mich auf das Bett und kam erst wieder zu mir, als die Tür knarrte und jemand in den Raum trat, der längst schon im Finstern lag.
Es mußten wohl Stunden vergangen sein auf diesem Bett, kalt war mir, ich hatte die Großvaterdecke um die Schultern gezogen, die Zeit war versickert vom Diesigen ins Dunkle, geschmolzen in einen einzigen hellen Augenblick, in ein Bild, in eine außerordentliche Tat.
„Komm“, flüsterte meine Mutter, sie hielt sich ein Taschentuch vor Nase und Mund.
Und als ich nicht antwortete und sitzenblieb, ein Kegel aus Filz und Erschöpfung, setzte sie sich zu mir und legte den Arm um meine Schulter.
Wir schwiegen, aber unsere Erinnerungen sprachen miteinander.
Ohne daß wir uns ansahen, wanderten unsere Gedanken zurück zum Morgen dieses Tages, den ich nie vergessen werde.
Es war der Morgen, an dem der ABV, also unser Abschnittsbevollmächtigter, und zwei Volkspolizisten läuteten und uns fragten, ob wir die und die seien, und meine Mutter ein spitzes Gesicht bekam und sagte, das wüßten sie doch.
Einen Moment, bevor sie geläutet hatten, war mir etwas vor der Tür aufgefallen, an der ich soeben zufällig vorübergegangen war.
Ich hatte etwas gehört, das wie ein Seufzen geklungen hatte. Ja, die Dielen, die normalerweise lautstark ächzten, hatten nur geseufzt, weil sie so leise aufgetreten waren.
Ich fand meine Mutter mutig, obwohl klar war, daß uns nichts passieren konnte: Schließlich waren wir wer. Eine Familie mit einem Helden.
Das wußten alle, vor allem der ABV, aber auch Frau Schulze und die anderen Lehrer in der Schule, weswegen ich manchmal bessere Noten bekam, als ich verdiente.
Die uniformierten Volkspolizisten waren sehr jung, das fiel sogar mir auf, und Schweißperlen traten ihnen auf den blassen Hautabschnitt zwischen Augenbrauen und Uniformmütze.
Dann sagte der rechte, daß es um Großvater ginge, und der linke, Genosse Braunmann, der Vater meiner Mutter, sei tot.
„Wo“, fragte Mutter, und das war logisch, weil der Großvater schon seit sieben Tagen, wie es später im Protokoll hieß, „abgängig“ war.
„Sie hätten Meldung erstatten müssen“, sagte der ABV kühl.
Einen Moment war es still.
„Ich kann mir nicht vorstellen“, erwiderte Mutter langsam, indem sie jedes Wort betonte, „daß es unseren Sicherheitsorganen nicht bekannt ist, wo sich einer unserer Bürger aufhält“.
Der ABV fixierte sie, zückte einen Notizblock und schrieb etwas auf.
Sie lügen. Das war es, was plötzlich in meinem Kopf hämmerte.
Großvater war doch immer wieder zurückgekehrt!
Auch wenn er über eine Woche nicht nach Hause gekommen war, irgendwann hatte er wieder in der Küche gestanden, hatte sich Kaffee gekocht, war einfach wieder da gewesen, und nie wußten wir, von welchen Orten er zurückgekehrt war wie ein streunender, alter Kater!
Später wurde mir klar, daß er in dieser Zeit Dinge organisiert hatte, Spiritusöl, Färbemittel, Werkzeug, all die vielen Gegenstände, die man zum Bauen einer Geige braucht, Rosshaare und Tropenholz für die Bögen, die er bei Witwen von sächsischen Geigenbauern kaufte, die noch über Lager von vor dem Krieg verfügten.
„Wo“, kam es erneut aus meiner kerzengeraden Mutter.
Und ich dachte: Wie.
Denn daß Großvater einfach so – wie ein normaler Mensch – sterben könnte, das war so ausgeschlossen wie ein Sprung über die Mauer.
Ich sehe uns an einem sonnigen Vormittag in Begleitung zweier junger schwitzender Volkspolizisten und des ABV durch die Straßen gehen, mit der Straßenbahn fahren und in den Zug steigen, der am Ostbahnhof wartete. Die Leute wichen zur Seite, sahen uns aber, wenn ich mich umdrehte, neugierig nach.
Vielleicht hielten sie meine Mutter und mich für ein Verbrecherpaar oder für Republikflüchtige, auf frischer Tat ertappt oder Doppelagenten, die nun verhaftet oder auf dem Weg zur Hinrichtung waren.
Auf jeden Fall beschloß ich auf dieser Fahrt, in meinem späteren Leben eine richtige Uniform zu tragen.
An die Fahrt erinnere ich mich nur mehr verschwommen.
Wir fuhren hinaus aus Berlin, hinein in die Weite von Brandenburg, die Kiefern leuchteten im vormittäglichen Licht.
In Storkow hielten wir, und zwei weitere Volkspolizisten warteten auf uns in einem Auto.
So ein Aufwand – Großvater mußte einen wichtigen Tod gestorben sein.
Wir fuhren an einem Ort vorbei, den die Volkspolizisten wie Neu-Bös-Tön aussprachen.
Dann stoppte das Auto, und wir gingen, zu siebt heftig schwitzend, aber aus verschiedenen Gründen, in den Wald hinein.
Ich hatte wohl das Wichtigste falsch verstanden, denn im Wald, den wir auf einem Forstweg einige Zeit durchwanderten, würden wir keinen toten Großvater vorfinden, Genosse Braunmann sei, so der ABV, zur Untersuchung auf dem Weg nach Berlin.
Ich sah Mutter ins Gesicht, zog ein wenig an ihren Fingern, aber die hingen wie nasse Salatblätter an ihrer Hand herunter. Ich wischte mir die Hand an der Hose ab und beschleunigte meine Schritte wie sie.
Es war kühl und mild in diesem Wald, der Boden sandig, wir gingen und gingen.
Manchmal blieben wir stehen, weil die zwei hiesigen Volkspolizisten sich nicht im Klaren waren über die Aufzeichnungen, die sie in Händen hielten wie einen Lageplan für eine Schatzsuche.
Den Lageplan hatte ein Förster aus Neu-Boston angefertigt, er hatte den Großvater offenbar gefunden, aber konnte oder durfte uns nicht persönlich führen.
Die zwei Volkspolizisten berieten sich flüsternd und erregt, ich sah einem Käfer vor meinen Schuhspitzen zu, der einen anderen, offenbar toten, auf dem Rücken schleppte.
Ich weiß nicht, warum, aber plötzlich schob sich mein Fuß vor, ich konnte es nicht verhindern, plötzlich war mein Schuh über dem toten und dem noch lebenden Käfer, es knackte, und dann hatten sich die beiden geeinigt und sagten: „Einfach nach vorn und links“.
Meine Mutter ging starren Blickes geradeaus, ihr ganzer Körper schien seit dem Morgen kantiger geworden zu sein, einer der Volkspolizisten sagte: „Gleich ...“,
Zweige schlugen mir ins Gesicht, und dann standen wir auf einer Lichtung.
Zuerst sah ich gar nichts außer Grün und Sonnenlicht, aber dann fielen mir die kleinen Hügel auf, etwas größere Maulwurfshügel, sie waren kreisförmig angelegt in einer seltsamen Ordnung, wie es schien, ein Kreis nach dem andern.
Der Mund meiner Mutter war ein wilder Strich.
Ihre Augen weiteten sich, sie schwankte leicht, und einer der Berliner trat neben sie und faßte sie unter den Arm.
Sie wehrte sich nicht.
Das fand ich äußerst beunruhigend.
Die übrigen Volkspolizisten nahmen die Mützen ab und wischten sich die Stirnen.
Der ABV öffnete den obersten Knopf seines Hemdkragens.
Ich stellte mich neben einen Maulwurfshügel, alle standen stumm und hörbar atmend in der nun stechenden Mittagssonne.
Durch die Grasbüschel war meine Sicht getrübt gewesen, denn nun erkannte ich, daß der Maulwurfshügel aufgebrochen war wie ein Grab.
Es sah aus, als hätte jemand mit gezieltem Spatenstich die Erde umgegraben.
Gleich daneben sah die Erde genauso aus, sandige Erde, graubraun und löchrig, ich trat von einem Hügel zum nächsten, und in jedem Hügel sah ich in ein Loch hinein.
Dann hörte ich ein Räuspern und einer der Männer sagte, wir sollten ihm folgen.
Wir gingen an den Kreisen vorbei, ich wollte die Erdhaufen zählen, aber die anderen gingen zu schnell.
„Hier“, sagte einer von den Neu-Bostonern am Waldrand.
Der Übergang von der gleißenden Sonne ins Schwarz des Waldes blendete.
Im Spiel von Schatten und Licht brach etwas Riesiges hervor, ich duckte mich im ersten Moment wie vor einem großen Tier.
Aber im zweiten Moment sah ich, daß es ein Kunstwerk war.
Es türmte sich auf vor uns in merkwürdigen Formen. Heute erscheint es mir wie eine wilde Geometrie von Rundungen und Geraden, rotschimmernd, braun.
„Nein, das gibts doch nicht“, sagte ein Kind neben mir.
Die Kinderstimme war voll mit einem Staunen, das von sehr weit her kam.
Dann setzte sich meine Mutter einfach auf den Boden.
Sie lehnte sich an einen Baum und schloß die Augen.
Die Männer traten von einem Bein auf das andere, schnauften.
Rundherum waren die Geräusche des Waldes zu hören.
Zweigeknacken, Vogelrufe, Getrappel von unzähligen kleinen Hufen und Pfoten, Kratz-und Schmatzlaute. Mir kam es vor, als könnte ich unter meinen Füßen das Wachsen und Wühlen hören, während ich vor dem Berg stand, dessen Einzelteile nun klar sichtbar wurden, die feine Rundung, das Schimmern der Körper, der Schnecken, der Wirbel, die Saiten glitzerten wie Silberfäden, Spinnweben, die aus frischem und moderndem Holz wuchsen, mit Würmern und Käfern, die ihre leuchtendgrünen Panzer zeigten, neue, in die Luft ragende und wieder zerbröselnde Bögen, der Berg voller Geigen, so ist es in meiner Erinnerung, war ein atmender, verwesender Organismus, Naturwerk, Kunst.
Weil niemand etwas tat, wagte ich mich nahe heran und sah, daß die Bögen mit Bändern an den Geigen befestigt waren. Viele waren fasrig geworden, ausgebleicht, erdverkrustet, aber man konnte noch Zeichen erkennen auf diesen Bändern, und dann sah ich Buchstaben auf den noch neueren Bändern, und dann versuchte ich zu lesen.
Der Förster hatte den toten Großvater liegend mit dem Spaten in der Hand gefunden.
Da sich in den Wäldern ringsum einiges „Gesindel“, wie der Volkspolizist sagte, „herumtrieb“, das die reichlich vorhandenen Totenschädel und Helme und all das
„andere Zeugs“ aus dem Zweiten Weltkrieg ausgrub und verkaufte oder irgendwelche merkwürdigen Riten damit trieb, hatte der Förster anfangs gedacht, der Großvater wäre auch so einer.
Dann hatte er entdeckt, daß Großvater nicht über einem Helm, sondern über einer Geige gelegen hatte.
Als die Polizei angekommen war und alles untersuchte, hatten sie bemerkt, daß der Bogen mit einem Band an der Geige angeklebt war – und auf diesem Band in schwarzen Druckbuchstaben ein Name stand.
Großvater war also gestorben, als er soeben im Begriff war, ein Grab für eine Geige zu schaufeln.
Sie hatten die ganze Lichtung ausgehoben und eine Geige nach der anderen gefunden, in unterschiedlichen Beschaffenheiten und Auflösungserscheinungen.
Jede Geige trug einen anderen Namen.
Uns wurde eine Liste vorgelegt in der Wachstube in Neu-Boston. Sie seien hier nämlich von der schnellen Truppe, sagte einer der Volkspolizisten.
Meine Mutter trank einen Schluck Wasser, bevor sie sich über das Papier beugte.
Sie kenne niemanden, sagte sie nach einer Weile.
Wie lange wir da saßen auf Großvaters Klappbett, Mutter und ich, kann ich nicht mehr sagen. Irgendwann knipste sie die Funzel über dem Tisch an.
„Ich zeig dir was“, sagte sie mit einem scheuen Lächeln, „aber das bleibt unser Geheimnis“.
Ich hatte noch nie ein Geheimnis mit meiner Mutter gehabt.
Mutter zog ein Foto aus ihrer Rocktasche hervor. Ihre Haltung bedeutete, daß sie mich alt genug fand. Daß ich groß genug war für die wichtigen Dinge.
Ich starrte das Foto an. Zuerst fiel mir auf, daß seine Teile von durchsichtiger Klebefolie zusammengehalten wurden. Es zeigte, von oben aufgenommen, einen Kreis von Männern. Jeder spielte ein Instrument.
Ziehharmonika, Klarinette, Flöte, Trompete, Geige, Oboe, Posaune.
Andere sahen ihnen zu.
Die, die spielten, trugen gestreifte Kleidung.
Die anderen trugen Uniformen.
Ich wußte, was das für Uniformen waren und daß die Sträflingskleidung jene war, die ich in Buchenwald gesehen hatte.
Was sollte das? Meine Mutter drehte wortlos das Foto um.
Lemberg stand da, ohne Jahreszahl.
Ich mußte niesen, schneuzte mich und sah meine Mutter fragend an.
Sie hob und senkte die Schultern.
3
Wäre mein Großvater kein antifaschistischer Held gewesen, wäre die ganze Sache, da bin ich sicher, für uns anders ausgegangen.
Die Volkspolizisten und der ABV fuhren damals mit uns nach Hause und räumten am nächsten Tag die Werkstatt um. Sie fanden nichts, was geholfen hätte, die Sache zu verstehen, und trugen alles fort, was Großvater zum Bau seiner Geigen angeschafft hatte.
Mutter sah ihnen nach, mit verschränkten Armen.
In den Wochen danach kamen auch immer wieder Leute von der Stasi.
Wir konnten ihnen nur berichten, was wir all die Jahre hindurch erlebt hatten, und weil Mutter und ich nie von unseren ersten Aussagen abwichen und offenbar vertrauenswürdig erschienen, gaben sie irgendwann auf.
Es war in dieser Zeit, daß Mutter meine Großmutter erwähnte, einige Male.
„Du weißt ja, daß sie bei meiner Geburt gestorben ist“, sagte sie.
Ja, wußte ich.
Aber das war mir neu: „Zuerst hat sie Flöte spielen gelernt, später Geige.“
Nach dem Mauerfall habe ich alles unternommen, um zu erfahren, was Lemberg war für meinen Großvater.
Erst da wurden die Archive geöffnet, erst da durfte ich auf seinen Spuren reisen, konnte Dokumente lesen.
All die Jahre fühlte ich, daß es eine Verbindung gab zwischen dem Foto mit den musizierenden Häftlingen und zuhörenden Offizieren, das ich immer bei mir trug, und den mit Namen gekennzeichneten Geigen, die Großvater in der brandenburgischen Erde vergraben hatte.
Er sei offenbar verrückt geworden, las ich in den Stasi-Unterlagen, habe es aber durchaus schlau, um nicht zu sagen mit perfider Verschlagenheit verstanden, seine völlig sinnfreie Tätigkeit vor der sozialistischen Gemeinschaft zu verheimlichen.
Keine Rede war mehr vom Helden, der mit einer Widerstandsgruppe gegen die Nazis zusammengearbeitet hatte.
Nichts war mehr von der Hochachtung in diesen Unterlagen zu spüren, die der Großvater in der DDR genossen hatte.
Wie gut, dachte ich, daß du konspirative Arbeit gewöhnt warst.
Irgendwann hielt ich ein seltsames Papier in der Hand, ich mußte mich setzen.
Es war eine Liste, auf der sein Name stand.
Eine Liste von Mitgliedern der Waffen-SS, die in Lemberg stationiert gewesen waren.
Zuerst dachte ich, es könne nur eine Verwechslung sein, Namensgleichheit.
Das Papier wackelte in meinen Händen.
Großvater war doch kein Mörder gewesen, sondern genau das Gegenteil!
„Ob er ein Mörder war“, sagte meine Mutter, als ich ihr meine Nachforschungen zeigte, „weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß er schwer verwundet wurde. Er sprach nie darüber, was geschehen ist. Warum er sich nach seiner Genesung kurz vor Kriegsende einer Gruppe anschloß, die versuchte, Menschen zu verstecken, jüdische vor allem, aber auch andere, die verfolgt wurden."
Sie sah durch mich hindurch, als erblickte sie etwas in dem Raum weit hinter mir.
„Sie müssen alle ein Grab bekommen”, sagte sie schließlich. „Das sagte er immer wieder. Alle müssen ein Grab bekommen.”
***
Seit Jahren ist die sogenannte Flüchtlingskrise ein zentrales gesellschaftliches Thema. Auch das Literaturportal Bayern beteiligt sich mit mehreren Projekten: 2015 war es Kooperationspartner der Buchpublikation Fremd, einer Anthologie gegen Fremdenfeindlichkeit, es hat zudem etliche Lesungen veranstaltet und unterstützt das Aktionsbündnis Wir machen das.
Nun geht es noch einen Schritt weiter, oder eher: tiefer, bis an die Graswurzeln der Gesellschaft, hinein in die Schulen. Die Reihe So fremd wie wir Menschen setzt auf Lesungen und Diskussionen nicht nur mit Erwachsenen und Tonangebern, die ihre festen Meinungen oft schon haben, sondern mit Heranwachsenden, mit Schülerinnen und Schülern, die von dem Flüchtlingsthema mindestens ebenso betroffen sind und ganz eigene Erfahrungen und Blickwinkel darauf haben.
Unterstützt vom Bayerischen Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst und begleitet von immer anderen Autorinnen und Autoren ist das Literaturportal Bayern seit 2017 in Schulen in ganz Bayern zu Gast, um mit den Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Schulformen zu diskutieren.
Eindrücke von der Schullesung an der Anton-Heilingbrunner-Realschule in Wasserburg