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12.01.2013, 12:07 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [67]: Noch ein paar Worte über und von Nikolaj Karamsin

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Die hervorragende Edition von Nikolaj Karamsins Armer Lisa, in der sich auch zwei interessante theoretische Texte zum Schreiben und zum Lesen befinden. Der Reclamverlag hat sie in seiner vortrefflichen, zweisprachigen Textreihe publiziert. Sie sei jedem Literaturfreund nachdrücklich empfohlen.

Bevor ich nun endgültig zur Loge zurückkehre, möchte ich noch gern ein paar Worte Nikolaj Karamsins zitieren, die ich in der hervorragenden Edition seiner Armen Lisa finde, welche der unverzichtbare Reclamverlag in seiner vortrefflichen, zweisprachigen Textreihe publiziert hat. Ich möchte sie nachdrücklich jedem Literaturfreund empfehlen, denn auf diesen Text zu kommen ergibt sich selbst für „Literaturkenner“ nicht von selbst. Die (auch im Goetheschen Sinne bedeutende) Erzählung, die bereits 1800 erstmals in Leipzig in deutscher Sprache erschien, sodass Jean Paul sie hätte lesen können, nimmt allerdings nur 18 deutschsprachige Seiten in Anspruch; im Anhang der sorgfältigen, von Martin und Monika Schneider herausgegebenen Ausgabe finden sich zwei kleinere, grundsätzliche Texte Nikolaj Karamsins. Was braucht ein Autor? untersucht die Stilmittel eines Schriftstellers (aus diesem Text zitierte ich gestern ein paar Zeilen). Aus dem Traktätchen Über den Buchhandel und die Liebe zum Lesen in Russland zitiere ich im Folgenden jene Sätze, die die Gattung des Romans ins Visier nehmen – und sicher auch in Hinsicht auf Karamsins deutschen Kollegen, der just zur Zeit der Armen Lisa seine Unsichtbare Loge schrieb, interessant sind:

Diese Art von Werken ist zweifellos für den größten Teil des Publikums reizvoll, da sie Herz und Phantasie fesselt, ein Bild der Welt und uns ähnlicher Leute in interessanten Situationen bietet und die stärkste und dabei gewöhnlichste Leidenschaft in ihren vielfältigen Formen darstellt. Nicht jeder kann philosophieren oder sich an die Stelle der historischen Helden versetzen; aber jeder liebt, hat geliebt oder wollte lieben und findet sich im Romanhelden selbst. Dem Leser scheint es, daß der Autor zu ihm mit der Sprache des eigenen Herzens spricht; in dem einen Roman nährt er die Hoffnung, in dem anderen liebliche Erinnerung. [...]

Ich weiß nicht, was andere denken, aber ich freue mich, wenn man überhaupt liest! Auch sehr mittelmäßige Romane – selbst wenn sie ohne jegliches Talent geschrieben sind, dienen in gewisser Weise der Aufklärung. Wer von „Nikanor, dem unglücklichen Adligen“[1] bezaubert ist, der steht auf der Leiter der geistigen Bildung noch niedriger als der Autor; er tut gut daran, diesen Roman zu lesen: denn, ohne jeden Zweifel, lernt er irgend etwas in den Gedanken oder in ihrem Ausdruck. Sobald zwischen Autor und Leser eine große Distanz besteht, kann der erstere nicht stark auf den letzteren einwirken, wie klug er auch sei. Jeder braucht etwas ihm Nahestehendes: der eine seinen Jean-Jacques, der andere seinen „Nikanor“. Wie uns der physische Geschmack im allgemeinen etwas mitteilt über die Übereinstimmung der Speise mit unserem Bedürfnis, so eröffnet der moralische Gegenstand dem Menschen eine wahre Analogie des Gegenstandes mit seiner Seele; doch diese Seele kann sich allmählich erheben – und wer mit dem „Unglücklichen Adligen“ beginnt, gelangt nicht selten zum „Grandison“[2].

Jede angenehme Lektüre hat Einfluss auf den Verstand, ohne den weder das Herz fühlen noch die Vorstellungskraft wirken kann. Selbst in den schlechtesten Romanen gibt es irgendeine Logik oder Rhetorik: wer sie liest, wird besser und zusammenhängender sprechen als ein völliger Ignorant. [...] Es ist falsch zu glauben, daß Romane schädlich für das Herzsein könnten: sie alle stellen gewöhnlich den Ruhm der Tugend oder moralische Sentenzen dar. Es ist wahr, daß einige Charaktere in ihnen zugleich anziehend und lasterhaft sind; doch worin besteht ihre Anziehungskraft? In gewissen guten Eigenschaften, mit denen der Autor ihre Schwärze überdeckt: folglich triumphiert das Gute selbst im Bösen. Unsere moralische Natur ist so angelegt, daß dem Herzen die Darstellung schlechter Menschen nicht gefällt, und daß man sie ihm auch niemals näherbringen kann? Welche Romane gefallen am besten? Gewöhnlich die empfindsamen: die Tränen, die der Leser weint, fließen immer aus Liebe zum Guten und nähren sie. Nein, nein! Schlechte Menschen lesen keine Romane. [...]

Mit einem Wort, es ist gut, daß unser Publikum auch Romane liest!



[1] Der Editor merkt an, dass es sich hierbei um einen Roman handelt, der vermutlich von Matvej Komarov geschrieben wurde – vermutlich ein Analogon zu den auch bei uns sehr beliebten „Schulterbeißern“, die vor allem, aber nicht nur, in Bahnhofsbuchhandlungen verkauft werden.

[2] Samuel Richardsons berühmter Briefroman.