„So fremd wie wir Menschen“: Norbert Niemann diskutiert mit Freisinger Schülern
Seit zwei Jahren ist die sogenannte Flüchtlingskrise ein zentrales gesellschaftliches Thema. Auch das Literaturportal Bayern beteiligt sich mit mehreren Projekten: 2015 war es Kooperationspartner der Buchpublikation Fremd, einer Anthologie gegen Fremdenfeindlichkeit, es hat zudem etliche Lesungen veranstaltet und unterstützt das Aktionsbündnis Wir machen das. Nun geht es noch einen Schritt weiter, oder eher: tiefer, bis an die Graswurzeln der Gesellschaft, hinein in die Schulen. Die Reihe So fremd wie wir Menschen setzt auf Lesungen und Diskussionen nicht nur mit Erwachsenen und Tonangebern, die ihre festen Meinungen oft schon haben, sondern mit Heranwachsenden, mit Schülerinnen und Schülern, die von dem Flüchtlingsthema mindestens ebenso betroffen sind und ganz eigene Erfahrungen und Blickwinkel darauf haben. Unterstützt vom Bayerischen Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst fand am 25. April 2017 an der Karl-Meichelbeck-Realschule in Freising bei München die vierte Veranstaltung der Reihe statt. Vorgestellt von Fridolin Schley, war diesmal Norbert Niemann zu Gast.
*
Durch Vielfalt den eigenen Weg finden – so ist das Motto der Karl-Meichelbeck-Realschule in Freising, und so könnte auch eine der Botschaften lauten, die von den Schülerinnen und Schülern der beiden neuten Klassen vertreten werden, als sie am Dienstag Besuch von den Autoren Norbert Niemann und Fridolin Schley bekommen und mit ihnen über das Thema „Fremdheit" diskutieren.
Nach einer kurzen Einführung in die Zielsetzung der Schullesereihe und der Lesung einer Passage aus Norbert Niemanns Roman Willkommen neue Träume (Hanser Verlag, 2008) steigen die Schülerinnen und Schüler gleich kräftig in die Diskussion ein. Der Grad an Wissen und Reflexion ist auffallend hoch, manche können sogar Statistiken zitieren, andere von ihrem privaten Engagement berichten.
In dem Romanauszug von Norbert Niemann geht es um ein kleines Dorf an einem schönen See in Oberbayern und um die russische Studentin Mascha, die bei einer gealterten Filmdiva als Hausmädchen arbeitet und sich in ihrer freien Zeit mit deren Sohn Asger und deutsch-russischer Lyrik beschäftigt. Auch wenn es zur Entstehungszeit des Romans – es handelt sich um einen komplexen Zeitroman, der den exemplarischen gesellschaftlichen Mikrokosmos eines Dorfes wie mit dem Brennglas in den Blick nimmt – noch keine 'Flüchtlingskrise' gab, behandelt der Text die Frage nach den weitreichenden Auswirkungen der Globalisierung und die Begegnung zweier Welten, die einander erstmal fremd sind. Am Beispiel von Mascha und Asger, Russland und Deutschland, zeigt Norbert Niemann verschlungene Phänomene von Anziehung und Abstoßung oder in seinen Worten: „die Fremdheit als intime Vertrautheit". Er gibt den Schülerinnen und Schülern Einblick in die Köpfe der Protagonisten und in das besondere Vermögen der Sprache und des Schreibens: Andere Lebenswirklichkeiten erfahrbar machen, neue Perspektiven schaffen, darum gehe es in der Literatur. Über die Sprache als das primäre Zeichensystem, das in unseren Köpfen wirkt, könne der Sprung in ein anderes Leben gelingen. So verstehe man viel von einem anderen, fremden Menschen, ohne dass es explizit ausbuchstabiert und dergestalt abstrahiert werden müsse.
Der am Chiemsee lebende Autor behandelt in seinen Texten stets jene Aspekte des politischen und gesellschaftlichen Lebens, die Menschen verbinden – oder eben auseinander treiben. Oft gehören beide Dynamiken zusammen. Fremdheit ist so ein Thema. Und ohne das Phänomen des Fremden wäre das literarische Schreiben gar nicht möglich, darin stimmen die beiden Gastautoren überein.
Dann überlassen sie den Schülern das Wort, und in der Klasse wird debattiert, inwieweit die Jugendlichen von der aktuellen politischen Diskussion überhaupt betroffen sind. Die Positionen differieren zum Teil deutlich: Für die einen gehören Geflüchtete schon seit einer Weile zu ihrem Alltag, sie werden wahrgenommen, auch an den Orten, an denen die Jugendlichen in ihrer Freizeit zusammenkommen; das Interesse an erfolgreicher Integration sei deutlich spürbar. Andere fühlen sich von dem Thema wenig betroffen, da oft kaum Berührungspunkte mit Flüchtlingen bestehen. Oder aber die Geflüchteten sind „einfach da, als Mitbürger und als das Normalste der Welt", bringt einer der Schüler ein.
Worüber sich die Schülerinnen und Schüler der beiden neunten Klassen schon einiger sind, ist das Thema Angst. Sie haben das Gefühl, die Angst vor dem Fremden und Unbekannten würde vor allem durch die Erwachsenen geschürt. Insbesondere die oft unkritische, selektive Berichterstattung in den Medien trägt für sie einen großen Teil zur fortschreitenden Polarisierung und Radikalisierung in der Debatte bei. Dabei würden auch schon vorher bestehende gesellschaftliche Probleme (wie Existenzängste oder eine ungerechte Verteilung von Wohlstand) auf die neue Situation projiziert und die Flüchtlinge zu Sündenböcken gemacht. Die Erwachsenen bestätigten damit nur immer wieder die eigene Meinung – und oft die eigenen Vorurteile.
Im Anschluss an die Lesung von Fridolin Schley aus der Novelle Die Ungesichter, in der von der Flucht des jungen somalischen Mädchens Amal berichtet wird, dreht sich die Diskussion vor allem um das, was jeder Einzelne zur Verbesserung der derzeitigen Lage tun kann. Die Schülerinnen und Schülern zeigen auch hier wieder einen sehr informierten, reflektierten Blick auf die Situation. „Austausch" und „Erfahrung" sind die Schlüsselbegriffe, und Norbert Niemann ruft zum „öffentlichen Nachdenken" auf, das heißt zu einer präzisen Auseinandersetzung mit den Informationen und Argumenten, die in der Fluchtdebatte vorgebracht werden, sowie zur Förderung des „demokratischen Bewusstseins". So ein öffentlicher Raum zum Austausch und Infragestellen auch der eigenen Position muss gar nicht zwingend groß sein, nicht größer als zum Beispiel: ein Klassenzimmer.
Großer Dank dafür, dass sie diesen Raum geöffnet haben, gilt dem Direktorat und den beteiligten Lehrkräften der Schule.
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Seit zwei Jahren ist die sogenannte Flüchtlingskrise ein zentrales gesellschaftliches Thema. Auch das Literaturportal Bayern beteiligt sich mit mehreren Projekten: 2015 war es Kooperationspartner der Buchpublikation Fremd, einer Anthologie gegen Fremdenfeindlichkeit, es hat zudem etliche Lesungen veranstaltet und unterstützt das Aktionsbündnis Wir machen das. Nun geht es noch einen Schritt weiter, oder eher: tiefer, bis an die Graswurzeln der Gesellschaft, hinein in die Schulen. Die Reihe So fremd wie wir Menschen setzt auf Lesungen und Diskussionen nicht nur mit Erwachsenen und Tonangebern, die ihre festen Meinungen oft schon haben, sondern mit Heranwachsenden, mit Schülerinnen und Schülern, die von dem Flüchtlingsthema mindestens ebenso betroffen sind und ganz eigene Erfahrungen und Blickwinkel darauf haben. Unterstützt vom Bayerischen Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst fand am 25. April 2017 an der Karl-Meichelbeck-Realschule in Freising bei München die vierte Veranstaltung der Reihe statt. Vorgestellt von Fridolin Schley, war diesmal Norbert Niemann zu Gast.
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Durch Vielfalt den eigenen Weg finden – so ist das Motto der Karl-Meichelbeck-Realschule in Freising, und so könnte auch eine der Botschaften lauten, die von den Schülerinnen und Schülern der beiden neuten Klassen vertreten werden, als sie am Dienstag Besuch von den Autoren Norbert Niemann und Fridolin Schley bekommen und mit ihnen über das Thema „Fremdheit" diskutieren.
Nach einer kurzen Einführung in die Zielsetzung der Schullesereihe und der Lesung einer Passage aus Norbert Niemanns Roman Willkommen neue Träume (Hanser Verlag, 2008) steigen die Schülerinnen und Schüler gleich kräftig in die Diskussion ein. Der Grad an Wissen und Reflexion ist auffallend hoch, manche können sogar Statistiken zitieren, andere von ihrem privaten Engagement berichten.
In dem Romanauszug von Norbert Niemann geht es um ein kleines Dorf an einem schönen See in Oberbayern und um die russische Studentin Mascha, die bei einer gealterten Filmdiva als Hausmädchen arbeitet und sich in ihrer freien Zeit mit deren Sohn Asger und deutsch-russischer Lyrik beschäftigt. Auch wenn es zur Entstehungszeit des Romans – es handelt sich um einen komplexen Zeitroman, der den exemplarischen gesellschaftlichen Mikrokosmos eines Dorfes wie mit dem Brennglas in den Blick nimmt – noch keine 'Flüchtlingskrise' gab, behandelt der Text die Frage nach den weitreichenden Auswirkungen der Globalisierung und die Begegnung zweier Welten, die einander erstmal fremd sind. Am Beispiel von Mascha und Asger, Russland und Deutschland, zeigt Norbert Niemann verschlungene Phänomene von Anziehung und Abstoßung oder in seinen Worten: „die Fremdheit als intime Vertrautheit". Er gibt den Schülerinnen und Schülern Einblick in die Köpfe der Protagonisten und in das besondere Vermögen der Sprache und des Schreibens: Andere Lebenswirklichkeiten erfahrbar machen, neue Perspektiven schaffen, darum gehe es in der Literatur. Über die Sprache als das primäre Zeichensystem, das in unseren Köpfen wirkt, könne der Sprung in ein anderes Leben gelingen. So verstehe man viel von einem anderen, fremden Menschen, ohne dass es explizit ausbuchstabiert und dergestalt abstrahiert werden müsse.
Der am Chiemsee lebende Autor behandelt in seinen Texten stets jene Aspekte des politischen und gesellschaftlichen Lebens, die Menschen verbinden – oder eben auseinander treiben. Oft gehören beide Dynamiken zusammen. Fremdheit ist so ein Thema. Und ohne das Phänomen des Fremden wäre das literarische Schreiben gar nicht möglich, darin stimmen die beiden Gastautoren überein.
Dann überlassen sie den Schülern das Wort, und in der Klasse wird debattiert, inwieweit die Jugendlichen von der aktuellen politischen Diskussion überhaupt betroffen sind. Die Positionen differieren zum Teil deutlich: Für die einen gehören Geflüchtete schon seit einer Weile zu ihrem Alltag, sie werden wahrgenommen, auch an den Orten, an denen die Jugendlichen in ihrer Freizeit zusammenkommen; das Interesse an erfolgreicher Integration sei deutlich spürbar. Andere fühlen sich von dem Thema wenig betroffen, da oft kaum Berührungspunkte mit Flüchtlingen bestehen. Oder aber die Geflüchteten sind „einfach da, als Mitbürger und als das Normalste der Welt", bringt einer der Schüler ein.
Worüber sich die Schülerinnen und Schüler der beiden neunten Klassen schon einiger sind, ist das Thema Angst. Sie haben das Gefühl, die Angst vor dem Fremden und Unbekannten würde vor allem durch die Erwachsenen geschürt. Insbesondere die oft unkritische, selektive Berichterstattung in den Medien trägt für sie einen großen Teil zur fortschreitenden Polarisierung und Radikalisierung in der Debatte bei. Dabei würden auch schon vorher bestehende gesellschaftliche Probleme (wie Existenzängste oder eine ungerechte Verteilung von Wohlstand) auf die neue Situation projiziert und die Flüchtlinge zu Sündenböcken gemacht. Die Erwachsenen bestätigten damit nur immer wieder die eigene Meinung – und oft die eigenen Vorurteile.
Im Anschluss an die Lesung von Fridolin Schley aus der Novelle Die Ungesichter, in der von der Flucht des jungen somalischen Mädchens Amal berichtet wird, dreht sich die Diskussion vor allem um das, was jeder Einzelne zur Verbesserung der derzeitigen Lage tun kann. Die Schülerinnen und Schülern zeigen auch hier wieder einen sehr informierten, reflektierten Blick auf die Situation. „Austausch" und „Erfahrung" sind die Schlüsselbegriffe, und Norbert Niemann ruft zum „öffentlichen Nachdenken" auf, das heißt zu einer präzisen Auseinandersetzung mit den Informationen und Argumenten, die in der Fluchtdebatte vorgebracht werden, sowie zur Förderung des „demokratischen Bewusstseins". So ein öffentlicher Raum zum Austausch und Infragestellen auch der eigenen Position muss gar nicht zwingend groß sein, nicht größer als zum Beispiel: ein Klassenzimmer.
Großer Dank dafür, dass sie diesen Raum geöffnet haben, gilt dem Direktorat und den beteiligten Lehrkräften der Schule.