Panizza-Blog [8]: Über einen Mustertext der phantastischen Literatur
Die von Michael Georg Conrad herausgegebene Zeitschrift Die Gesellschaft erschien im Leipziger Verlag von Wilhelm Friedrich. Das war gut durchdacht, denn in diesem Verlag konnten die Mitarbeiter der Zeitschrift auch ihre Bücher veröffentlichen, die dann in der Gesellschaft besprochen wurden, wohlwollend natürlich. Oskar Panizza veröffentlicht im Frühjahr 1890 seinen ersten Band mit Erzählungen, Dämmerungsstücke, in der Juliausgabe der Gesellschaft erscheint sogleich eine Besprechung (S. 1061), gezeichnet mit G.; den Verfasser konnte ich nicht ermitteln, vielleicht handelt es sich um Ludwig Goldstein (1867-1943), der auch für die Gesellschaft schrieb. Der Verfasser schreibt, dass wir in diesen Erzählungen „den realen Boden nüchterner Alltäglichkeit verlassen und die geraden Linien des hellen Tages-Sehens hier wohl absichtlich im Dämmerungslicht der Täuschung zu Bildern verschoben werden, deren phantastische Kraft sich dem Leser oft gegen dessen Willen aufzwingt – eine Kunst der Darstellung, in der gerade Poe, und nicht minder vor ihm unser E. T. A. Hoffmann, so Vortreffliches geleistet.“ Es handelt sich also um phantastische Literatur, die nach der Theorie von Roger Caillois meist so konstruiert ist: Eine Erzählung dieser Art beginnt im ganz normalen Alltag, auf einmal wendet sich das Geschehen – Caillois spricht von einem Riss – ins Phantastische.
Die Erzählung „Die Menschenfabrik“, die in diesem Band enthalten ist und zu Panizzas besten Erzählungen gehört, kann als Mustertext der phantastischen Literatur gelten. Der Erzähler berichtet, dass er auf einer Wanderung „im östlichen Teile Mittel-Deutschlands“ von der Dunkelheit überrascht wird und völlig orientierungslos herumirrt. Erst kurz vor zwölf Uhr nachts (!) steht er plötzlich vor einem riesengroßen schwarzen Gebäude. Es bleibt ihm keine Wahl, er braucht eine Unterkunft und er klingelt. „Ein schwarzes kleines Männchen mit freundlichem, glatt rasiertem Gesicht“ öffnet ihm. Alles noch ganz normal. Doch auf die Frage des Erzählers, was dies denn für ein Haus sei, antwortet das freundliche Männchen: „Eine Menschenfabrik“. Und schon ist der Leser in der Welt des Phantastischen, die aber von dem zwar entsetzten Erzähler ganz realistisch geschildert wird. Er hat ‚natürlich‘ noch weitere Fragen: „Wer sind Sie? Sind Sie ein im Mittelalter stehen gebliebener Phantast und brüten über zauberische Theoremata eines Dr. Faustus, die die Neuzeit längst vergessen? Wo bin ich hingeraten? Bin ich zu weit ostwärts gekommen in eine orientalische Zauberküche? Oder bin ich in einem abendländischen Narrenhaus?“
Dr. Faustus, das Narrenhaus: zwei der bekannten Panizza-Themen. Doch das Männchen beschreibt die Fabrik wie ein ganz normales Wirtschaftsunternehmen... Der Erzähler kann es nicht glauben: „Sie können nicht Menschen machen wollen, wie man Brot macht?“ Doch, antwortet der Fabrikbesitzer: „Wir machen Menschen, wie man Brot macht.“ Er hat sich, wie er sagt, ganz den modernen Bedürfnissen angepasst: Man fabriziert dort Menschen, die nicht denken können, „das haben wir glücklich abgeschafft“. Diese ‚Besonderheit‘ des neuen Menschen ist für einige Panizza-Interpreten ein Beleg dafür, dass wir es hier mit einem Vorläufer ganz aktueller Literatur zu tun haben, etwa der Romane von Orwell und Huxley. Da ist was dran. Doch die Erzählung endet etwas banal: Der Erzähler verlässt gegen Morgen fluchtartig diese Fabrik. Er fragt einen ‚fleißigen Landmann‘, was denn das da hinten für ein Haus sei. Der Mann antwortet, und so endet die Erzählung, im schönsten Sächsisch: „’mein kutestes Herrchen, das kann ich Sie wohl sagen – das is Sie die berühmte königlich-sächsische Porzellan-Fabrik von Meißen!‘“ So enden manche phantastische Erzählungen alter ‚Bauart‘: das Erlebte entpuppt sich als Illusion, als Traum... Gleichwohl ist dies eine der besten Erzählungen Panizzas, immer wieder wurde sie abgedruckt. Sogar in der DDR durfte sie erscheinen (1984). Es gibt dazu ein Hörspiel von Christoph Kalkowski (2001 im Audio Verlag auch als CD erschienen). Kalkowski lässt Panizzas Schluss allerdings weg, bei ihm bleibt offen, ob es eine solche Fabrik geben könnte. Und 2009 entdeckte ich beim Comic Salon in Erlangen die schön gezeichnete, in diesem Jahr erschienene Graphic Novel von Michael Meier nach Panizza (Rotopol Press).
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Die von Michael Georg Conrad herausgegebene Zeitschrift Die Gesellschaft erschien im Leipziger Verlag von Wilhelm Friedrich. Das war gut durchdacht, denn in diesem Verlag konnten die Mitarbeiter der Zeitschrift auch ihre Bücher veröffentlichen, die dann in der Gesellschaft besprochen wurden, wohlwollend natürlich. Oskar Panizza veröffentlicht im Frühjahr 1890 seinen ersten Band mit Erzählungen, Dämmerungsstücke, in der Juliausgabe der Gesellschaft erscheint sogleich eine Besprechung (S. 1061), gezeichnet mit G.; den Verfasser konnte ich nicht ermitteln, vielleicht handelt es sich um Ludwig Goldstein (1867-1943), der auch für die Gesellschaft schrieb. Der Verfasser schreibt, dass wir in diesen Erzählungen „den realen Boden nüchterner Alltäglichkeit verlassen und die geraden Linien des hellen Tages-Sehens hier wohl absichtlich im Dämmerungslicht der Täuschung zu Bildern verschoben werden, deren phantastische Kraft sich dem Leser oft gegen dessen Willen aufzwingt – eine Kunst der Darstellung, in der gerade Poe, und nicht minder vor ihm unser E. T. A. Hoffmann, so Vortreffliches geleistet.“ Es handelt sich also um phantastische Literatur, die nach der Theorie von Roger Caillois meist so konstruiert ist: Eine Erzählung dieser Art beginnt im ganz normalen Alltag, auf einmal wendet sich das Geschehen – Caillois spricht von einem Riss – ins Phantastische.
Die Erzählung „Die Menschenfabrik“, die in diesem Band enthalten ist und zu Panizzas besten Erzählungen gehört, kann als Mustertext der phantastischen Literatur gelten. Der Erzähler berichtet, dass er auf einer Wanderung „im östlichen Teile Mittel-Deutschlands“ von der Dunkelheit überrascht wird und völlig orientierungslos herumirrt. Erst kurz vor zwölf Uhr nachts (!) steht er plötzlich vor einem riesengroßen schwarzen Gebäude. Es bleibt ihm keine Wahl, er braucht eine Unterkunft und er klingelt. „Ein schwarzes kleines Männchen mit freundlichem, glatt rasiertem Gesicht“ öffnet ihm. Alles noch ganz normal. Doch auf die Frage des Erzählers, was dies denn für ein Haus sei, antwortet das freundliche Männchen: „Eine Menschenfabrik“. Und schon ist der Leser in der Welt des Phantastischen, die aber von dem zwar entsetzten Erzähler ganz realistisch geschildert wird. Er hat ‚natürlich‘ noch weitere Fragen: „Wer sind Sie? Sind Sie ein im Mittelalter stehen gebliebener Phantast und brüten über zauberische Theoremata eines Dr. Faustus, die die Neuzeit längst vergessen? Wo bin ich hingeraten? Bin ich zu weit ostwärts gekommen in eine orientalische Zauberküche? Oder bin ich in einem abendländischen Narrenhaus?“
Dr. Faustus, das Narrenhaus: zwei der bekannten Panizza-Themen. Doch das Männchen beschreibt die Fabrik wie ein ganz normales Wirtschaftsunternehmen... Der Erzähler kann es nicht glauben: „Sie können nicht Menschen machen wollen, wie man Brot macht?“ Doch, antwortet der Fabrikbesitzer: „Wir machen Menschen, wie man Brot macht.“ Er hat sich, wie er sagt, ganz den modernen Bedürfnissen angepasst: Man fabriziert dort Menschen, die nicht denken können, „das haben wir glücklich abgeschafft“. Diese ‚Besonderheit‘ des neuen Menschen ist für einige Panizza-Interpreten ein Beleg dafür, dass wir es hier mit einem Vorläufer ganz aktueller Literatur zu tun haben, etwa der Romane von Orwell und Huxley. Da ist was dran. Doch die Erzählung endet etwas banal: Der Erzähler verlässt gegen Morgen fluchtartig diese Fabrik. Er fragt einen ‚fleißigen Landmann‘, was denn das da hinten für ein Haus sei. Der Mann antwortet, und so endet die Erzählung, im schönsten Sächsisch: „’mein kutestes Herrchen, das kann ich Sie wohl sagen – das is Sie die berühmte königlich-sächsische Porzellan-Fabrik von Meißen!‘“ So enden manche phantastische Erzählungen alter ‚Bauart‘: das Erlebte entpuppt sich als Illusion, als Traum... Gleichwohl ist dies eine der besten Erzählungen Panizzas, immer wieder wurde sie abgedruckt. Sogar in der DDR durfte sie erscheinen (1984). Es gibt dazu ein Hörspiel von Christoph Kalkowski (2001 im Audio Verlag auch als CD erschienen). Kalkowski lässt Panizzas Schluss allerdings weg, bei ihm bleibt offen, ob es eine solche Fabrik geben könnte. Und 2009 entdeckte ich beim Comic Salon in Erlangen die schön gezeichnete, in diesem Jahr erschienene Graphic Novel von Michael Meier nach Panizza (Rotopol Press).
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