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17.04.2013, 16:29 Uhr
Joachim Schultz
Oskar Panizza-Reihe
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Oskar Panizza schuf mit der satirisch-grotesken Himmelstragödie "Das Liebeskonzil" (1894) den Anlass für einen der skandalösesten Blasphemieprozesse der deutschen Literaturgeschichte. Seit Oktober 2012 liest Joachim Schultz wöchentlich Werke von Oskar Panizza und begleitet ihn auf seinen Lebensstationen.

Panizza-Blog [27]: Über die Auferstehung des Schweins

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Ein solches Schwein hat Panizza sicher des öfteren in den Auslagen der Pariser Metzgereien gesehen.

Panizza wird nun steckbrieflich gesucht. Aber er lässt sich, wie es scheint, nicht beirren. Er geht ein Projekt an, über das er wohl schon länger nachgedacht hat. Er schreibt einen Essay über „Das Schwein in poetischer, mitologischer und sittengeschichtlicher Beziehung“, den er unter dem Pseudonym Louis Andrée in seinen Zürcher Diskuszionen veröffentlicht (Nr. 28-32 = 1 Heft, 1900). Es ist dies sein längster Beitrag in dieser Zeitschrift, er umfasst vierunddreißig eng bedruckte Seiten in seiner höchst merkwürdigen Orthografie. Über das Schwein in kulturhistorischer Beziehung haben schon viele geschrieben. Einer der letzten war Peter Köhler in seinem Buch Basar der Bildungslücken. Kleines Handbuch des entbehrlichen Wissens (München: C.H. Beck 2007: „Allerlei Schweinskram“, S. 48-51).

Oskar Panizzas Essay über das Schwein wird hier nicht genannt. Er hätte auch nicht dazu gepasst. Köhlers kurze Abhandlung ist informativ, nett und gefällig, Panizza dagegen breitet sein gesamtes Wissen aus: von der frühindischen Mythologie bis zu Münchner Schweinebräuchen. Gleich zu Beginn schreibt er: „Doch ich will wißenschaftlich und behutsam vorgehen, nicht, daß es heise, ich benüzte das heilige Tier, um hier freche und lüsterne Gedanken an den Mann zu bringen, und den sittlichen Boden der Deutschen [...] auf's Neue mit schandbaren Dingen zu belasten.“ Wissenschaftlich bedeutet, dass er dem Leser umfangreiche, oft seitenlange Fußnoten zumutet. Mit oft kuriosen Hinweisen: „In ganz Nord-Europa wurde bis in's 18. Jhrd. der Weihnachtsstollen in Form eines Ebers gebaken, der während der Festtage nicht vom Tisch kam. Die grosen pain-d'épice-Fabriken in Frankreich und Belgien, besonders Verviers und Dinant, baken bis zum heutigen Tag den Weihnachtseber in Lebkuchenform“ (= FN 31).

Es ist schon erstaunlich, was Panizza zu diesem Thema alles aneinanderreiht, wenn er zum Beispiel Beziehungen zwischen dem Christentum und der Fest-Sau präsentiert. In Paris gebe es kurz vor Ostern den großen Schinkenmarkt, die „Foire aux Jambons auf dem Boulevard Richard-Lenoir“. Und abschließend schildert er eine Auferstehungsfeier in der Münchner Theatiner-Kirche, bei der am Hochaltar ein rosiges, enorm gemästetes Schweinchen, „mit dem süslichen Zwinkern, das diesen Tieren eigen, und eingehült in weise, seidne, gestikte Gewänder“ auf und ab tänzelte. Ich kann nicht überprüfen, ob so etwas wirklich in München einmal Brauch war. Vermutlich will er nur mal wieder die Münchner, diese Schweinefleischfresser, attackieren, was im letzten Absatz ziemlich deutlich wird:

Das Volk stützte mit dem Ruf ‚Es [!] ist auferstanden!‘ auf die Strase in die nächsten Scharkutje-[= Charcuterie]Läden und kaufte sich mächtige Schweinsschinken, Schweinespek, rosa gefärbte Rippenstüke, Schweinsohren, Schweinsköpfe, gesulzte Schweinsfüse, rötliche Schweinswürste, die aus Frankfurt kamen, mächtige, lange Schweinsdärme, die mit Schweinefleisch gefült waren, und aus Gotha kamen, Schweins-Konserven aus Mailand und Bologna... Glühend strahlte die Sonne vom blauen Firmament und beleuchtete diesen tausdfachen Spek... Ueberall auf der Strase schrie es: ‚Es ist auferstanden!‘ ... Das war die Auferstehung des Schweins in München.

Es ist schier unmöglich, diesen Text in all seinen Facetten und gelehrten Abschweifungen adäquat zusammenzufassen. Man muss ihn selber lesen. Wir haben Schwein: Der Münchner Belleville Verlag hat in jüngster Zeit ein Buch mit diesem Essay und erläuternden Texten von Rolf Düsterberg und Albrecht Koschorke herausgebracht (1995). Alle Aspekte werden hier durchleuchtet. Doch einer kommt m.E. etwas zu kurz: Panizza meint vielleicht auch sich selber, wenn er vom wilden Eber phantasiert: „Der Eber, das Schwein, als Tipus der Fruchtbarkeit, des Schollenaufreißens, des befruchtendes Gottes, des kühnen, anstürmenden Helden, der glühenden Sonne.“

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