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02.01.2013, 14:31 Uhr
Joachim Schultz
Oskar Panizza-Reihe
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Oskar Panizza schuf mit der satirisch-grotesken Himmelstragödie "Das Liebeskonzil" (1894) den Anlass für einen der skandalösesten Blasphemieprozesse der deutschen Literaturgeschichte. Seit Oktober 2012 liest Joachim Schultz wöchentlich Werke von Oskar Panizza und begleitet ihn auf seinen Lebensstationen.

Panizza-Blog [14]: Von einem schwächlichen Jesus, einem protzigen Teufel und einem prächtigen Weib

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Zeichnung von Paul Haase (1873-1925) aus dem Band "Visionen der Dämmerung".

Wir haben den Teufel aus den Augen verloren. Keine Angst! Er ist bei Panizza immer präsent. 1893 veröffentlicht er eine zweite Sammlung Erzählungen mit dem Titel Visionen. Die darin enthaltene Erzählung „Die Kirche von Zinsblech“ ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Sie beginnt fast genauso wie die Geschichte von der Menschenfabrik: „Auf einer meiner einsamen Wanderungen durch Tirol hatte ich mich eines Abends vergangen.“ Der Erzähler ist wieder ein einsamer Wanderer, der mitten in der Nacht an einen seltsamen Ort gerät. Dieses Mal ist es das, wie es scheint, menschenleere Dorf Zinsblech. Es gibt keinen Gasthof, wo er übernachten könnte, kein Mensch öffnet ihm auf sein Klopfen. Schließlich gelangt er zur alten romanischen Kirche, auch sie leer und düster. Zum Glück liegt da eine alte Decke, auf die sich unser Wanderer zum Schlafen niederlegt. Wenig später erwacht er. Die Orgel summt, Weihrauch erfüllt das Gebäude. Die Kirche ist nun voller Menschen. Höchst seltsame Gestalten: „Da ging an der Spitze eine junge, prächtige Frau in einem blauen, sternbesäten Kleid, die Brüste offen, die linke halb entblößt. Durch Brust und Kleid hindurch ging ein Schwert, so zwar, dass das Kleid gerade noch getroffen war, als sollte es dadurch empor gehalten werden.“ Kein Zweifel, es ist Maria. Es folgen ihr wunderliche Menschen: „Die meisten hatten bestimmte Werkzeuge in der Hand. Der eine eine Säge, der andere ein Kreuz, der dritte einen Schlüssel, der vierte ein Buch, einer gar einen Adler, und ein anderer trug ein Lamm auf dem Arme mit herum.“ Es sind die Heiligen, die von den Bildern in der Kirche herabgestiegen sind. Sie wandeln, ohne auf den Erzähler zu achten, hin zum Altar, wo zwei weitere Gestalten auf sie warten. Der eine, auf der linken Seite des Altars, „war eine unsäglich feine Figur: schlank grazile Glieder, geistvolles Profil, griechische Nase. Dunkle, glatt gescheitelte Lockenwellen fielen über Schläfe, Ohr und Nacken; ein durchsichtiger, jünglinghafter Flaum bedeckte Kinn und Lippen.“ Kein Zweifel, es ist Jesus. Aber ein ‚dünnbrüstiger, abgehärmter‘ Mensch, der kraftlos Hostien aus seinem Leib nimmt und jedem darreicht, mit den Worten „Nehmet hin und esset!“

Auf der rechten Seite des Altars steht eine ganz andere Gestalt: „Mehr ein mythologischer Zwitter als ein Mensch – in einem schwarzen, protestantischen Predigertalar [...]. Hinten am Gesäß teilte sich das Predigerkleid, und ein schwarzer, affenartiger Wickelschwanz rollte sich dort heraus von respektabler Länge [...].“ Kurzum, es ist der Teufel, denn er hat auch noch „hufartige Füße“. Sein Gesicht ist fast so hässlich wie ‚ein deutsches Professorengesicht‘! Er steht da und reicht den Anderen einen Kelch mit den Worten: „Nehmet hin und trinket!“ Wir haben hier also eine höchst blasphemische Schilderung des Abendmahls, und wenn ein Staatsanwalt diese Geschichte gelesen hätte, wäre Panizza wohl schon damals wegen Gotteslästerung angeklagt worden. Die Erzählung endet ähnlich wie die Geschichte von der Menschenfabrik: der Erzähler verlässt fluchtartig die Kirche und den Ort und gelangt in ein anderes Dorf, wo er gastfreundlich aufgenommen wird. Am Ende liest er in einer Bekanntmachung, dass es in der Kirche von Zinsblech zu einem „Akt rohen Mutwillens“ gekommen sei und dass er wegen Vandalismus gesucht werde. Mit einem schwächlichen Jesus, einem protzigen Teufel und einem prächtigen Weib, der Maria, haben wir hier schon die wichtigsten Figuren aus Panizzas Drama Das Liebeskonzil. 1914 veröffentlichte Hanns Heinz Ewers (1871-1943), der mit seinem Roman Alraune (1911) zu einem berühmten Skandalautor geworden war, diese Erzählung zusammen mit anderen phantastischen Erzählungen Panizzas unter dem Titel Visionen der Dämmerung. Das Vorwort stammt von Hannes Ruch (d.i. Hans Richard Weinhöppel, 1867-1928, er war der Komponist des Münchner Kabaretts der „Elf Scharfrichter“). Er schreibt: „Dieser genialische Kopf besaß nicht nur den durchdringenden Blick des Psychiaters und die unerbittliche Logik des Philosophen, er war auch ganz besonders begabt mit einer ungeheuren Phantasie.“

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