Zum 50. Todesjahr von Oskar Maria Graf (11): das zu Unrecht vergessene Werk „Er nannte sich Banscho“
Die 128. Ausgabe der Literatur in Bayern (Allitera Verlag, München) widmet ihren Schwerpunkt dem selbsternannten „Provinzschriftsteller“, geschichtenerzählenden Revolutionär und international erfolgreichen Autor Oskar Maria Graf aus Berg am Starnberger See. Die Autorinnen und Autoren beleuchten unterschiedliche Facetten des widersprüchlichen Dichters, dessen Tod im Exil in New York sich 2017 zum 50. Mal jährt. Wolfgang Langsenlehner beschäftigt sich mit dem Thema Kindheit ins Grafs Literatur und dem zu unrecht vergessenen Roman Er nannte sich Banscho.
*
Die Politik der Kinderstreiche
Entstanden zwischen September 1941 und April 1942, veröffentlicht erst 1964 fristet der Roman Er nannte sich Banscho1 bisher ein Schattendasein innerhalb der Werke Grafs, die sich insgesamt geringer Popularität und erst recht nicht des adäquaten wissenschaftlichen Interesses erfreuen. Doch beinhaltet Banscho eine ungewöhnliche Verbindung zwischen Kindergeschichten und einem politischen Hintergrund. Der Roman spielt in der Zeit zwischen den Kriegen, das heißt zurzeit der Weimarer Republik. Die Hauptfigur Banscho ist ein Vagabund, den es in die ländliche Region Bayerns verschlägt, wo er sesshaft wird. Die dörfliche Gemeinschaft wird in allen ihren Eigenheiten beschrieben und es werden die Schicksale einiger ausgewählter Personen mitverfolgt. Während der Revolution verschwindet Banscho und kehrt als politischer Flüchtling wieder, der die Unterstützung der Gemeinde erhält. Nach einer weiteren längeren Abwesenheit kehrt er überraschend und unauffällig zurück und spielt in der Phase des erstarkenden Nationalsozialismus eine zentrale Rolle des Widerstands. Das Besondere an ihm ist aber seine ausgeprägte Leidenschaft für die Kinder, deren Herzen er von Beginn erobert und denen er schon früh die Bereitschaft, sich gegen Autoritäten zu wehren, vermittelt.
Kindheit als literarisches Thema bei Oskar Maria Graf
Gemeinsam mit der Hauptfigur Banscho stehen die Kinder des Dorfes und ihre Beziehung zu ihm im Mittelpunkt des Romans. Nicht umsonst nennt der Autor in einem Brief das Werk „Kinderroman“, der ihm „Lust und Ausruhen“ ist.2 In ihrer Neugier und gleichzeitigen Aufgeschlossenheit allem Neuen gegenüber stellen die Kinder für Banscho einen ersten Kontakt zur dörflichen Gemeinde her. Zwei Generationen („Generation“ nicht im engeren Sinne; gemeint sind die Kinder vor, und jene nach seiner Flucht) sind es, die er „betreut“, und denen er die Bedeutung seiner Streiche und seine politischen Meinungen näher bringt, bis hin zu gemeinsamen antifaschistischen Aktionen und subversivem Widerstand. Aus Spielgefährten und Kumpanen, denen er verschiedenste Geschichten erzählt, werden ihm die Kinder zu Komplizen im Kampf gegen den sich breitmachenden Nationalsozialismus. Sie finden in Banscho eine Bezugsperson, der sie vertrauen können, die sie ernstnimmt und sie in ihre Pläne und Weltsicht einweiht. Banscho unterhält sie mit seinen Geschichten und Ideen, gibt ihnen die Möglichkeit, ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen, und ihre natürliche Veranlagung, Streiche zu spielen, auszuleben. Sie können sich seiner „Rückendeckung“ zu jeder Zeit sicher sein.
Der Erzähler weiß, auf welche Ideen Kinder kommen, was für sie interessant ist und worüber sie sich streiten. Auch ihr Verhalten untereinander wird erwähnt und kommentiert, so z.B. eine Szene auf dem Schulhof (Banscho, S. 28–31): „Nur Kinder kosten eine Macht, die ihnen der Zufall bringt, so raubtierhaft aus.“ (Banscho, S. 34 o.)
Dorfgeschichten
Kindheit und Jugend ist ein Thema, das sich hervorragend zur Idealisierung eignet. Dass es „früher“ meistens schöner war als heute, hat sich im allgemeinen Diskurs fest verankert. Wer keine schöne Kindheit hatte, erzählt selten davon; dies ist auch nicht gefragt. Bei den Dorfgeschichten wird diese Erwartung unbeachtet gelassen. Gute und schlechte Erlebnisse, lustige Begebenheiten und traumatische Erfahrungen wechseln einander ab. Die Idyllisierung dieser Zeit liegt dem Erzähler fern.
Die Erzählung Vorstellung enthält drei Episoden, in denen Graf von frühen Desillusionierungen berichtet. Seine Brüder necken ihn, indem sie ihm versprechen, er könne seinen Geburtstag im Garten des Nachbarn finden. Die Enttäuschung erzeugt bei ihm Misstrauen gegenüber seinen Mitmenschen. Der Anblick eines Offiziers, der sich hilflos nach der Toilette erkundigt, lässt ihn jeglichen Respekt verlieren, ein wichtiger und in vielen Variationen literarisch gestalteter Baustein seines Antimilitarismus. Der Tod einer für ihre Wunderkuren bekannten Frau lässt für ihn den Schluss zu, dass „das ganze Zeugs von ihr […] auch keinen Schuss Pulver wahr gewesen“ ist. Diese Reihe von Negativerfahrungen wird noch durch die Geschichte Gottesraub ergänzt, in der die Abkehr seines Bruders vom Glauben geschildert wird.
Betreffen diese Vorkommnisse eher die „innere Einstellung“ des Erzählers, so werden in den ersten drei Geschichten, die unter dem Titel Unüberwindliche Jugend zusammengefasst sind, Erlebnisse erzählt, die entweder für ihn, seine Brüder oder alle zusammen tödlich ausgehen hätten können.
Auch die Jugendzeit als Lehrling im eigenen Haus wird als nicht angenehm geschildert. Die erzählten Episoden sind da eher als Kontrapunkte zu verstehen, welche die Zeit etwas aufgelockert haben. Doch schreibt der Verfasser über einen Gesellenwechsel:
„Ich war einesteils froh darüber, denn gerade dieser Schiesser prügelte mich oft und oft und war auch sonst ein mürrischer, nüchterner, humorloser Konsort.“ (Autobiographische Schriften, S. 111)
Die letzte Geschichte Der Tod ist überall daheim handelt von zwei Leichen, die Graf als Kind entdeckt hat und die ihn nachhaltig erschüttert haben.
Zwischen diesen abschreckenden, desillusionierenden Geschichten finden sich Schilderungen verschiedenster Streiche und Erlebnisse, von denen manche im Banscho wieder aufgenommen werden. Insgesamt sind es sieben Passagen, die in dem Roman eine Entsprechung haben. Die Idee, einen Hund als Schlittenzugtier zu missbrauchen, hatte Graf in seiner Kindheit selbst ausprobiert, genau wie die Tinte im Weihwasserbecken oder die Wiederverwendung von Blumensträußen. Übernommen werden des Weiteren das Indianerspielen mit Petroleumspucken und Augen umdrehen, einzelne Schulerlebnisse (zum Beispiel das „Herrschaftenbürscherl“ und das Juckpulver) und der Versprecher beim Theaterspielen. Letzteres Missgeschick widerfährt in Er nannte sich Banscho dem Schlehberger-Jakl, der als Leser und etwas intelligenterer Charakter beschrieben wird. Dieser Schlehberger-Jakl hat im Vergleich mit den Dorfbanditen ein deutlicheres autobiographisches Vorbild als die anderen gleichaltrigen Personen.
Auch wenn im Banscho Kinder verletzt werden (Vgl. Banscho, S. 82f., 284f. u. 294), finden sich im Text keine traumatischen Erlebnisse, wie sie in den Dorfbanditen beschrieben werden. Das Negative, wie zum Beispiel Gewalt, geht einzig und allein von den „Feinden“, also den rechtskonservativen bzw. nationalsozialistischen Kräften, aus. Auch der Zusammenhalt zwischen Kindern und Eltern wird als gut und harmonisch beschrieben. Bei den Verhören durch die Polizei wird der Stolz der Eltern erwähnt, als sie merken, dass ihre Kinder sich nicht einschüchtern lassen und versuchen, sich aus der Sache herauszulügen.
Eine ähnliche Begebenheit taucht in Größtenteils schimpflich wieder auf.
„Da ist sogar der Starnberger Gendarm Bichler zu uns gekommen, hat den Kaschpa und uns streng verhört, aber wir haben alles ganz frech abgeleugnet. […]
Unsere Mutter, welche immer ein recht wehleidiges, bekümmertes Gesicht gemacht hat, wenn der Gendarm in unserem Haus aufgetaucht ist, hat […] ganz verdrossen in ihn hineingejammert[…].
Selbstredend hat sie gewusst, dass wir die Kramer-Birn in der Tenne droben, tief in einen Heustock vergraben gehabt haben, aber nach ihrer Auffassung hat man einem Gendarm nie nicht die Wahrheit sagen dürfen, weil der bloß Unglück ins Haus bringt.“ (Autobiographische Schriften, S. 170)
„O. M. Graf beschreibt das Aufwachsen eines Kindes in einer Welt, die gekennzeichnet ist von Schlägen und Ausbeutung seiner Arbeitskraft. […] Über seine Person wird vollumfänglich verfügt, eigene Interessen des Jungen versucht Max [sein ältester Bruder; Anm. d. Verf.] zu unterdrücken. Selbstverwirklichung des Kindes ist nicht gefragt, sondern Sich-Fügen, Parieren und Arbeiten.“3
Der Quasterl
Abgesehen von den großen Romanen Das Leben meiner Mutter, Wir sind Gefangene oder Die Chronik von Flechting bietet der im Exil veröffentlichte Text Der Quasterl einen überaus aufschlussreichen Einblick in das Familienleben der Grafs und die verschiedenen Interessen der einzelnen Geschwister. Die Jugendzeit wird dort weniger positiv dargestellt als in Größtenteils schimpflich, und auch die ganze Familie, außer der Mutter, wird wenig vorteilhaft beschrieben. Es heißt dort zum Beispiel:
„In unserer verschwiegenen Überheblichkeit verachteten wir im Grunde genommen jeden, der nicht unmittelbar zu uns gehörte. Da wir freundlich, heiter und gesellig waren, merkte niemand unsere herrschsüchtige Lieblosigkeit.“4
Insgesamt lässt sich über die Gestaltung der eigenen und der fiktiven Kindheit bei Oskar Maria Graf sagen, dass er Wert darauf legt, ein authentisches Bild jenseits von zeitkonformen reformpädagogischen oder sozialwissenschaftlichen Entwicklungen zu geben. Rainer Hagen beschreibt in seiner Arbeit „Kinder, wie sie im Buche stehen“ die prägenden Merkmale der damals geläufigen Kinderfiguren und konstatiert:
„So riesig die Niveauunterschiede […] auch sein mögen, sie stimmen überein in dem, was sie in ihren Kindheitsbeschreibungen eliminieren: triebhafte Handlungen, Egoismus, Sexus, Sadismus, diesen ganzen Untergrund der menschlichen Natur.“5
Gleichzeitig stellt er aber fest, dass diese Auslassung nur für die deutsche Literatur kennzeichnend und zum Beispiel in Frankreich nicht der Fall war. Als Beispiel führt er Rousseau und dessen Konfessionen an, ein Werk, an das sich Graf durch den Untertitel Ein Bekenntnis aus unserer Zeit seiner Autobiographie Wir sind Gefangene ausdrücklich anlehnt.
Insgesamt lässt sich über den Banscho sagen, dass sich detaillierten Stellen mit spannenden Szenen, belanglose, geradezu lächerlich anmutende Kommentare mit farbigen Beschreibungen abwechseln. Diese Niveauunterschiede erwecken zwar den Anschein, als fehle dem Roman eine Überarbeitung, um diese Differenzen auszugleichen. Trotzdem ist Er nannte sich Banscho ein Roman, der sich – auszugsweise oder auch im Ganzen – gut als Schullektüre eignen würde, da Zeitgeschichte einfach einprägsam und keineswegs ohne eine politisch orientierte Didaktik vermittelt wird.
[1] Zitiert wird im Folgenden nach der Ausgabe des List-Verlags: Graf, Oskar Maria: Er nannte sich Banscho. München 1994 [Band IX der Werkausgabe des List-Verlags hrsg. von Wilfried F. Schoeller]; kurz: Banscho.
[2] Vgl. Bauer, Gerhard/Pfanner, Helmut (Hrsg.): Oskar Maria Graf in seinen Briefen. München 1984, S. 160.
[3] Trombetta, Petra Heiss: Das leidende Kind im Spiegel der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts – Werden in Elternhaus, Schule und Gesellschaft. Zürich 1993, S. 221f.
[4] Graf, Oskar Maria: Erzählungen aus dem Exil. [Band XI/4 der Werkausgabe im List Verlag] München 1994, S. 178.
[5] Hagen, Rainer: Kinder, wie sie im Buche stehen. München 1967, S. 17.
Zum 50. Todesjahr von Oskar Maria Graf (11): das zu Unrecht vergessene Werk „Er nannte sich Banscho“>
Die 128. Ausgabe der Literatur in Bayern (Allitera Verlag, München) widmet ihren Schwerpunkt dem selbsternannten „Provinzschriftsteller“, geschichtenerzählenden Revolutionär und international erfolgreichen Autor Oskar Maria Graf aus Berg am Starnberger See. Die Autorinnen und Autoren beleuchten unterschiedliche Facetten des widersprüchlichen Dichters, dessen Tod im Exil in New York sich 2017 zum 50. Mal jährt. Wolfgang Langsenlehner beschäftigt sich mit dem Thema Kindheit ins Grafs Literatur und dem zu unrecht vergessenen Roman Er nannte sich Banscho.
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Die Politik der Kinderstreiche
Entstanden zwischen September 1941 und April 1942, veröffentlicht erst 1964 fristet der Roman Er nannte sich Banscho1 bisher ein Schattendasein innerhalb der Werke Grafs, die sich insgesamt geringer Popularität und erst recht nicht des adäquaten wissenschaftlichen Interesses erfreuen. Doch beinhaltet Banscho eine ungewöhnliche Verbindung zwischen Kindergeschichten und einem politischen Hintergrund. Der Roman spielt in der Zeit zwischen den Kriegen, das heißt zurzeit der Weimarer Republik. Die Hauptfigur Banscho ist ein Vagabund, den es in die ländliche Region Bayerns verschlägt, wo er sesshaft wird. Die dörfliche Gemeinschaft wird in allen ihren Eigenheiten beschrieben und es werden die Schicksale einiger ausgewählter Personen mitverfolgt. Während der Revolution verschwindet Banscho und kehrt als politischer Flüchtling wieder, der die Unterstützung der Gemeinde erhält. Nach einer weiteren längeren Abwesenheit kehrt er überraschend und unauffällig zurück und spielt in der Phase des erstarkenden Nationalsozialismus eine zentrale Rolle des Widerstands. Das Besondere an ihm ist aber seine ausgeprägte Leidenschaft für die Kinder, deren Herzen er von Beginn erobert und denen er schon früh die Bereitschaft, sich gegen Autoritäten zu wehren, vermittelt.
Kindheit als literarisches Thema bei Oskar Maria Graf
Gemeinsam mit der Hauptfigur Banscho stehen die Kinder des Dorfes und ihre Beziehung zu ihm im Mittelpunkt des Romans. Nicht umsonst nennt der Autor in einem Brief das Werk „Kinderroman“, der ihm „Lust und Ausruhen“ ist.2 In ihrer Neugier und gleichzeitigen Aufgeschlossenheit allem Neuen gegenüber stellen die Kinder für Banscho einen ersten Kontakt zur dörflichen Gemeinde her. Zwei Generationen („Generation“ nicht im engeren Sinne; gemeint sind die Kinder vor, und jene nach seiner Flucht) sind es, die er „betreut“, und denen er die Bedeutung seiner Streiche und seine politischen Meinungen näher bringt, bis hin zu gemeinsamen antifaschistischen Aktionen und subversivem Widerstand. Aus Spielgefährten und Kumpanen, denen er verschiedenste Geschichten erzählt, werden ihm die Kinder zu Komplizen im Kampf gegen den sich breitmachenden Nationalsozialismus. Sie finden in Banscho eine Bezugsperson, der sie vertrauen können, die sie ernstnimmt und sie in ihre Pläne und Weltsicht einweiht. Banscho unterhält sie mit seinen Geschichten und Ideen, gibt ihnen die Möglichkeit, ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen, und ihre natürliche Veranlagung, Streiche zu spielen, auszuleben. Sie können sich seiner „Rückendeckung“ zu jeder Zeit sicher sein.
Der Erzähler weiß, auf welche Ideen Kinder kommen, was für sie interessant ist und worüber sie sich streiten. Auch ihr Verhalten untereinander wird erwähnt und kommentiert, so z.B. eine Szene auf dem Schulhof (Banscho, S. 28–31): „Nur Kinder kosten eine Macht, die ihnen der Zufall bringt, so raubtierhaft aus.“ (Banscho, S. 34 o.)
Dorfgeschichten
Kindheit und Jugend ist ein Thema, das sich hervorragend zur Idealisierung eignet. Dass es „früher“ meistens schöner war als heute, hat sich im allgemeinen Diskurs fest verankert. Wer keine schöne Kindheit hatte, erzählt selten davon; dies ist auch nicht gefragt. Bei den Dorfgeschichten wird diese Erwartung unbeachtet gelassen. Gute und schlechte Erlebnisse, lustige Begebenheiten und traumatische Erfahrungen wechseln einander ab. Die Idyllisierung dieser Zeit liegt dem Erzähler fern.
Die Erzählung Vorstellung enthält drei Episoden, in denen Graf von frühen Desillusionierungen berichtet. Seine Brüder necken ihn, indem sie ihm versprechen, er könne seinen Geburtstag im Garten des Nachbarn finden. Die Enttäuschung erzeugt bei ihm Misstrauen gegenüber seinen Mitmenschen. Der Anblick eines Offiziers, der sich hilflos nach der Toilette erkundigt, lässt ihn jeglichen Respekt verlieren, ein wichtiger und in vielen Variationen literarisch gestalteter Baustein seines Antimilitarismus. Der Tod einer für ihre Wunderkuren bekannten Frau lässt für ihn den Schluss zu, dass „das ganze Zeugs von ihr […] auch keinen Schuss Pulver wahr gewesen“ ist. Diese Reihe von Negativerfahrungen wird noch durch die Geschichte Gottesraub ergänzt, in der die Abkehr seines Bruders vom Glauben geschildert wird.
Betreffen diese Vorkommnisse eher die „innere Einstellung“ des Erzählers, so werden in den ersten drei Geschichten, die unter dem Titel Unüberwindliche Jugend zusammengefasst sind, Erlebnisse erzählt, die entweder für ihn, seine Brüder oder alle zusammen tödlich ausgehen hätten können.
Auch die Jugendzeit als Lehrling im eigenen Haus wird als nicht angenehm geschildert. Die erzählten Episoden sind da eher als Kontrapunkte zu verstehen, welche die Zeit etwas aufgelockert haben. Doch schreibt der Verfasser über einen Gesellenwechsel:
„Ich war einesteils froh darüber, denn gerade dieser Schiesser prügelte mich oft und oft und war auch sonst ein mürrischer, nüchterner, humorloser Konsort.“ (Autobiographische Schriften, S. 111)
Die letzte Geschichte Der Tod ist überall daheim handelt von zwei Leichen, die Graf als Kind entdeckt hat und die ihn nachhaltig erschüttert haben.
Zwischen diesen abschreckenden, desillusionierenden Geschichten finden sich Schilderungen verschiedenster Streiche und Erlebnisse, von denen manche im Banscho wieder aufgenommen werden. Insgesamt sind es sieben Passagen, die in dem Roman eine Entsprechung haben. Die Idee, einen Hund als Schlittenzugtier zu missbrauchen, hatte Graf in seiner Kindheit selbst ausprobiert, genau wie die Tinte im Weihwasserbecken oder die Wiederverwendung von Blumensträußen. Übernommen werden des Weiteren das Indianerspielen mit Petroleumspucken und Augen umdrehen, einzelne Schulerlebnisse (zum Beispiel das „Herrschaftenbürscherl“ und das Juckpulver) und der Versprecher beim Theaterspielen. Letzteres Missgeschick widerfährt in Er nannte sich Banscho dem Schlehberger-Jakl, der als Leser und etwas intelligenterer Charakter beschrieben wird. Dieser Schlehberger-Jakl hat im Vergleich mit den Dorfbanditen ein deutlicheres autobiographisches Vorbild als die anderen gleichaltrigen Personen.
Auch wenn im Banscho Kinder verletzt werden (Vgl. Banscho, S. 82f., 284f. u. 294), finden sich im Text keine traumatischen Erlebnisse, wie sie in den Dorfbanditen beschrieben werden. Das Negative, wie zum Beispiel Gewalt, geht einzig und allein von den „Feinden“, also den rechtskonservativen bzw. nationalsozialistischen Kräften, aus. Auch der Zusammenhalt zwischen Kindern und Eltern wird als gut und harmonisch beschrieben. Bei den Verhören durch die Polizei wird der Stolz der Eltern erwähnt, als sie merken, dass ihre Kinder sich nicht einschüchtern lassen und versuchen, sich aus der Sache herauszulügen.
Eine ähnliche Begebenheit taucht in Größtenteils schimpflich wieder auf.
„Da ist sogar der Starnberger Gendarm Bichler zu uns gekommen, hat den Kaschpa und uns streng verhört, aber wir haben alles ganz frech abgeleugnet. […]
Unsere Mutter, welche immer ein recht wehleidiges, bekümmertes Gesicht gemacht hat, wenn der Gendarm in unserem Haus aufgetaucht ist, hat […] ganz verdrossen in ihn hineingejammert[…].
Selbstredend hat sie gewusst, dass wir die Kramer-Birn in der Tenne droben, tief in einen Heustock vergraben gehabt haben, aber nach ihrer Auffassung hat man einem Gendarm nie nicht die Wahrheit sagen dürfen, weil der bloß Unglück ins Haus bringt.“ (Autobiographische Schriften, S. 170)
„O. M. Graf beschreibt das Aufwachsen eines Kindes in einer Welt, die gekennzeichnet ist von Schlägen und Ausbeutung seiner Arbeitskraft. […] Über seine Person wird vollumfänglich verfügt, eigene Interessen des Jungen versucht Max [sein ältester Bruder; Anm. d. Verf.] zu unterdrücken. Selbstverwirklichung des Kindes ist nicht gefragt, sondern Sich-Fügen, Parieren und Arbeiten.“3
Der Quasterl
Abgesehen von den großen Romanen Das Leben meiner Mutter, Wir sind Gefangene oder Die Chronik von Flechting bietet der im Exil veröffentlichte Text Der Quasterl einen überaus aufschlussreichen Einblick in das Familienleben der Grafs und die verschiedenen Interessen der einzelnen Geschwister. Die Jugendzeit wird dort weniger positiv dargestellt als in Größtenteils schimpflich, und auch die ganze Familie, außer der Mutter, wird wenig vorteilhaft beschrieben. Es heißt dort zum Beispiel:
„In unserer verschwiegenen Überheblichkeit verachteten wir im Grunde genommen jeden, der nicht unmittelbar zu uns gehörte. Da wir freundlich, heiter und gesellig waren, merkte niemand unsere herrschsüchtige Lieblosigkeit.“4
Insgesamt lässt sich über die Gestaltung der eigenen und der fiktiven Kindheit bei Oskar Maria Graf sagen, dass er Wert darauf legt, ein authentisches Bild jenseits von zeitkonformen reformpädagogischen oder sozialwissenschaftlichen Entwicklungen zu geben. Rainer Hagen beschreibt in seiner Arbeit „Kinder, wie sie im Buche stehen“ die prägenden Merkmale der damals geläufigen Kinderfiguren und konstatiert:
„So riesig die Niveauunterschiede […] auch sein mögen, sie stimmen überein in dem, was sie in ihren Kindheitsbeschreibungen eliminieren: triebhafte Handlungen, Egoismus, Sexus, Sadismus, diesen ganzen Untergrund der menschlichen Natur.“5
Gleichzeitig stellt er aber fest, dass diese Auslassung nur für die deutsche Literatur kennzeichnend und zum Beispiel in Frankreich nicht der Fall war. Als Beispiel führt er Rousseau und dessen Konfessionen an, ein Werk, an das sich Graf durch den Untertitel Ein Bekenntnis aus unserer Zeit seiner Autobiographie Wir sind Gefangene ausdrücklich anlehnt.
Insgesamt lässt sich über den Banscho sagen, dass sich detaillierten Stellen mit spannenden Szenen, belanglose, geradezu lächerlich anmutende Kommentare mit farbigen Beschreibungen abwechseln. Diese Niveauunterschiede erwecken zwar den Anschein, als fehle dem Roman eine Überarbeitung, um diese Differenzen auszugleichen. Trotzdem ist Er nannte sich Banscho ein Roman, der sich – auszugsweise oder auch im Ganzen – gut als Schullektüre eignen würde, da Zeitgeschichte einfach einprägsam und keineswegs ohne eine politisch orientierte Didaktik vermittelt wird.
[1] Zitiert wird im Folgenden nach der Ausgabe des List-Verlags: Graf, Oskar Maria: Er nannte sich Banscho. München 1994 [Band IX der Werkausgabe des List-Verlags hrsg. von Wilfried F. Schoeller]; kurz: Banscho.
[2] Vgl. Bauer, Gerhard/Pfanner, Helmut (Hrsg.): Oskar Maria Graf in seinen Briefen. München 1984, S. 160.
[3] Trombetta, Petra Heiss: Das leidende Kind im Spiegel der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts – Werden in Elternhaus, Schule und Gesellschaft. Zürich 1993, S. 221f.
[4] Graf, Oskar Maria: Erzählungen aus dem Exil. [Band XI/4 der Werkausgabe im List Verlag] München 1994, S. 178.
[5] Hagen, Rainer: Kinder, wie sie im Buche stehen. München 1967, S. 17.