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Georg Schneider

... oder Georg Müller. Sowas kann sich schon mal ändern.

Während des Münchner Oktoberfests herrscht in den S- und U-Bahnen zwischen dem Hauptbahnhof und der Theresienwiese bzw. der Hackerbrücke eine drangvolle Enge und davon profitieren die Taschendiebe. Sie haben leichtes Spiel, denn die vielen Touristen sind oft schon reichlich angetrunken, bevor sie überhaupt auf dem Festplatz ankommen, und auf der Rückfahrt natürlich noch viel mehr, jedenfalls sind die meisten so lull und lall, dass sie nicht merken, wenn man ihnen etwas klaut. Weil die Polizei das weiß, sind oft Beamte in Zivil unterwegs, die versuchen die Dinge im Auge und unter Kontrolle zu behalten.

Im Vertrauen auf die Macht und die Weisheit der Ordnungshüter quetschte sich also ein Herr aus München – er hieß Georg Schneider – an der Theresienwiese in einen der vollen Züge der U 5, und obwohl er nicht betrunken war, gelang es einem Dieb ohne Schwierigkeiten, ihm seine Brieftasche zu entwenden. Dies blieb jedoch nicht unbeobachtet, und augenblicklich packte jemand den Dieb am Arm und nahm die Brieftasche an sich.

„He, lassen Sie mich!“, rief der Dieb.

„Nein, du kommst jetzt mit. Wir steigen an der nächsten Haltestelle aus! Hallo, Sie!“, sagte er dann zu Herrn Schneider und tippte ihn dabei mit dem Portefeuille auf die Schulter, “man hat Ihnen dies hier gestohlen. Das ist doch Ihre Brieftasche?“

Herr Schneider drehte sich um, schaute die beiden an, verstand nach einiger Zeit die Situation und wollte nach seinem Eigentum greifen. Doch der andere hob seine Hand und sagte:

„Halt, halt, so schnell geht das nicht. Das muss alles seine Ordnung haben. Ich steige jetzt mit diesem Burschen hier aus, und Sie würde ich bitten, dass Sie mitkommen. Dann regeln wir alles Weitere.“

Der nächste Halt war der Hauptbahnhof und alle drei verließen dort den Zug. Kurz darauf saßen sie in einem kleinen Wachlokal. Der Dieb zeigte seinen Ausweis vor, hatte seinen Wohnsitz in München.

„Große Konsequenzen wird die Geschichte für ihn nicht haben“, meinte der Taschendiebjäger. „Den lässt der Richter morgen wieder frei, und dann kann er so weitermachen wie bisher. Irgendwann bekommt er seinen Prozess und eine lächerliche Strafe, die ihm glatt am Arsch vorbei geht. So ist das immer. Jetzt zu uns: Ich bräuchte Ihren Namen und Ihre Anschrift. Können Sie sich ausweisen?“

„Mein Personalausweis ist da drin“, sagte der Mann, zeigte auf das Portefeuille und wollte danach greifen.

„Nein, nein! Lassen Sie, ich mache das schon“, sagte der Andere und zog den Ausweis hervor. „Georg Schneider, wohnhaft in der Lerchenauer Straße.“ Er drehte das Dokument hin und her und notierte auf einem Formblatt sorgfältig alle persönlichen Daten einschließlich Größe und Augenfarbe. Dann stand er auf und fotokopierte die Vorder- und Rückseite, vermutlich, damit er das Foto und irgendwelche anderen Besonderheiten ebenfalls erfasste.

Als er fotokopiert hatte und schließlich den Stift beiseitelegte, fragte Schneider in höflichem Ton: „Sind Sie fertig? Könnte ich jetzt bitte meine Brieftasche wiederhaben?“

Der Andere blickte Herrn Schneider halb entrüstet und halb mitleidig an: „Ihre Brieftasche wiederhaben? Wo denken Sie hin?! Auf keinen Fall, dies ist ein Beweismittel. Das werde ich dem Richter vorlegen müssen. Das können Sie nicht einfach so mitnehmen.“

„Wie bitte? Sie geben mir meine Brieftasche nicht zurück?“

„Wenn ich Ihnen dieses Beweisstück aushändige, ist das, als würden Sie an einem Tatort das Messer sehen, mit dem das Opfer erstochen wurde, und dann sagen Oh, das gehört mir und es einstecken oder das Ohr mitnehmen, das der Täter dem Opfer abgeschnitten hat.“

„Bekomme ich dann wenigstens das Bargeld, die EC- und Kreditkarten?“

„Unmöglich, die sind für den Richter unverzichtbar, wenn er die Schwere des begangenen Delikts einschätzen soll. Haben Sie nicht irgendwelche Verwandten oder Freunde, die Ihnen Geld leihen?“

„Kann ich dann wenigstens meinen Ausweis zurückbekommen? So könnte ich mich an eine Bank wenden und mir einen Kredit besorgen.“ 

„Leider auch nicht. Alles muss so zusammenbleiben, wie es jetzt ist. Sie können ja ins städtische Bürgerbüro gehen und sich einen vorläufigen Ausweis ausstellen lassen.“

„So einfach geht das nicht“, sagte Schneider. „Damit ich dort etwas bekomme, muss ich nachweisen, wer ich bin. Dazu bräuchte ich wenigstens den Führerschein, und der ist auch da drin.“

„Tut mir wirklich Leid. Da kann ich Ihnen nicht helfen. Sie haben ein Auto? Das dürfen Sie ohne Führerschein natürlich nicht mehr benutzen.“

„Was?“ sagte Herr Schneider. „Ich muss aber geschäftlich in die Schweiz.“

„Dann muss eben ein Kollege von Ihnen fahren. Ohne Ausweis können Sie ohnehin nicht ins Ausland reisen. Sprechen Sie doch mit den Angestellten im Bürgerbüro. Da werden Sie sicher einen Weg finden, wie Sie sich die Dokumente besorgen können, die Sie brauchen.“

„Mag sein“, meinte Schneider, „aber damit werden Wochen oder Monate hingehen, und ich brauche die Papiere jetzt. Wie lange dauert es eigentlich bis zur Verhandlung?“

„Das kann ich Ihnen nun wirklich nicht sagen. Manchmal geht das ruck zuck und in drei, vier Monaten ist alles vorbei. Doch wenn Sie Pech haben, kann sich das ein oder zwei Jahre hinziehen. Oft sind die Gerichte so überlastet, dass ein früherer Termin nicht möglich ist.“

Herr Schneider war völlig am Boden zerstört, schleppte sich nach Hause, bis in die Lerchenauer Straße, zu Fuß natürlich, denn die Monatskarte für den Münchner Verkehrsverbund steckte auch in der Brieftasche und war ein Beweismittel. Und Geld für eine neue hatte er ja nicht. Er legte sich, endlich angekommen, auf sein Bett, ächzte und fluchte und heulte vor Wut.

Als er sich am nächsten Tag entnervt auf den Weg ins Kreisverwaltungsreferat machte, hielt neben ihm ein Auto. Es war ein gepflegter Mittelklasse-Wagen, und am Steuer saß der Dieb.

„Armer Kerl!“, sagte er und schaute Herrn Schneider freundlich an. „Na los! Steigen Sie schon ein! Wo müssen Sie denn hin?“

Herr Schneider sagte es ihm und der Dieb brachte ihn in die Ruppertstraße; letzterer stellte sich übrigens mit Frank vor; „Georg“, sagte Herr Schneider, und sie schüttelten einander die Hand und von da an sagten sie Du. Natürlich konnten die Angestellten im Kreisverwaltungsreferat für Herrn Schneider zu ihrem, wie sie sagten, größten Bedauern überhaupt nichts tun, denn irgendeine Art von Ausweis hätten sie auf jeden Fall gebraucht und Herr Schneider hatte keinen. Doch Frank wusste Rat, er besorgte seinem neuen Freund Georg einen Personalausweis und einen Führerschein, die beide täuschend echt aussahen, wahrscheinlich sogar echt waren, und was machte es schon, dass da Georg Müller draufstand und nicht Georg Schneider? Georg nahm seine neuen Dokumente, schaute sie noch einmal prüfend an, steckte sie in die Innenseite seiner Brusttasche und machte sich in ein neues Leben davon.


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Verfasst von: © Peter Asmodai, 2011