Passau, Theresienstraße 19: Carossas Praxis

Die Krankheit und schließlich der Tod seines Vaters im Jahr 1906 zwingen Hans Carossa bereits vor Abschluss seiner Promotion immer wieder, in dessen Arztpraxis in Passau auszuhelfen, selbst als er zeitweise ins nahe München gelegene Fürstenfeldbruck flüchtet, um endlich dem Schreiben mehr Zeit widmen zu können. 1910 erscheint, dank der Vermittlung von Hugo von Hofmannsthal, sein erstes Buch, der Lyrikband Gesammelte Gedichte, im Insel-Verlag. Im März 1911 notiert Carossa in seinem Tagebuch:

Die so rasch auftretende Notwendigkeit, wieder in das verhaßt-geliebte Passau zurückzugehen, dieses als ungeheuer hart empfundene Müssen bewirkt eine seltsame Veränderung in mir: wie bei drohender Gefahr zieht sich Alles in mir zusammen, es entsteht ein heroischer Leidenstrotz […].

Im Juli 1911 eröffnet Hans Carossa eine Praxis in der Passauer Theresienstraße 19 – um sie zwei Jahre später wieder aufzugeben und kurz darauf nach München zu ziehen. Im selben Jahr, 1913, erscheint der Roman Dr. Bürgers Ende, Carossas Prosadebüt, in dem der Leser Einblick in das Tagebuch eines Arztes erlangt, das im Juli 1908 beginnt und mit dem Suizid des Mediziners im Mai 1909 endet. Hanna Cornet heißt die Angebetete des jungen Grenzburger Doktors Bürger; die beiden knüpfen zarte Bande, so dass Bürger zwischen seiner beruflichen Pflicht und seinem privaten Vergnügen hin und her gerissen wird. Zu spät verordnet er der todkranken Geliebten die nötige Ruhe: Hanna Cornet stirbt, und Dr. Bürger greift zum Giftbecher.

Der autobiografische Charakter des Werk sei unverkennbar, heißt es im Kindler Literaturlexikon: „Grenzburg ist Passau, wo Carossa mehrere Jahre als Arzt praktizierte, und die Aufzeichnungen Doktor Bürgers spiegeln, wenn auch gewiss nicht in jeder Einzelheit, die innere Situation des Dichters wider.“ An der einfachen Identität von Passau und „Grenzburg“ darf man selbstverständlich zweifeln, der erfundene Name benennt jedoch die hervorstechenden Eigenschaften der realen Stadt: ihre grenznahe Lage und ihre überragende Sehenswürdigkeit, die Veste Oberhaus. Gleich im ersten Eintrag in Dr. Bürgers Tagebuch heißt es:

O meine Stadt! Warum klopft mir noch heute das Herz bei diesem Anschauen? Wie sich der scharfe granitene Sockel zwischen die zwei zusammentreffenden Ströme hineinspitzt gleich einem Dolch und frei das ganze lastende Geschiebe trägt: Mauern, Bögen, Dächer, eisenbehelmte Türme, zerfressene Gebisse alter Zinnen, alles bang emporgedrängt um den Dom, der sonnengeschwärzte Risenkuppeln schwer aus dem Himmel prägt!

In Hans Carossas Tagebuch heißt es im Eintrag vom 6. Januar 1913:

Oft denke ich daran, welche Deutungen sich das Buch wird gefallen lassen müssen. Man wird vom Persönlichen nicht loskommen wollen […] Daß ich mein Werkchen nie und nimmer im Hinblick auf das kleine Passau geschrieben habe, sondern im Angesicht aller Mitlebenden, die es mit Kunst und Leben ernst meinen, werden sie nie begreifen.

Dr. Bürgers Ende, der wegen seiner emotionalen Dichte oft als „Carossas Werther“ bezeichnet wird, bildet nicht nur den Auftakt für eine Reihe von Romanen Carossas, in denen ein Arzt im Zentrum steht, sondern erfährt bereits 1916 eine Fortsetzung mit Die Flucht. Ein Gedicht aus Doktor Bürgers Nachlass. 1930 fasst ein Verlag die beiden Bürger-Texte in einem Band unter dem Titel Die Schicksale Doktor Bürgers zusammen. Am Haus in der Theresienstraße 19 findet sich heute eine Gedenktafel, die an den berühmten Bewohner erinnert.

Sekundärliteratur:

Hans Carossa: Die Schicksale Dr. Bürgers

Hans Carossa: Tagebücher 1910-1918, herausgegeben von Eva Kampmann-Carossa. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1986.


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