Aischinger Höhe: Freilichtmalerei und Malervillen
Aisching hat ohne Frage die herrlichste Lage am See: die Fraueninsel, gerade gegenüber, bildet den lieblichsten, reizvollsten Vordergrund: – bei ruhigem Wetter schien sie auf der spiegelglatten Fläche zu schwimmen, einer Seerose gleich! – die Wasserfläche gen Süden hin wird durch die kleine Krautinsel und die dunklen Waldwipfel von Herrenwörth unterbrochen: über dem Frauenkloster, im Osten, und jenseits der Herreninsel ragen die Berge: zwar fern, aber desto wirkungsvoller in der Beleuchtung: welch wundervolle Sommerabende hab‘ ich hier erlebt, wann die Sonne hinter uns zu Golde ging und nun See, Inseln und Ostberge in allen denkbaren Farbenabstufungen – vom glühendsten Roth bis in das dunkle Veilchenblau hinein – leuchteten. (Felix Dahn: Erinnerungen, Bd. 2)
Über viele Jahre bleibt der Rechtsprofessor und Schriftsteller Felix Dahn (1834-1912) dem Chiemsee während der Sommerfrische treu. Als Kind vergnügt er sich mit den Söhnen des Malers Max Haushofer (1811-1866) und der dortigen Jugend auf der Fraueninsel. Sobald jedoch die Eisenbahnlinie zwischen München und Prien fertiggestellt ist, ergießt sich „der civis Monacensis vulgaris mit Weib und Kind in ungezählten Stücken auf und über das schmale Eiland“ – so Felix Dahn im Jahr 1858 über den touristischen Ansturm aus der Stadt.
Zwar kennt man noch nicht das freie Wochenende, aber im Sommer verlagert sich das Gesellschaftsleben der Städter hinaus in die Natur und ans Wasser. Dahns geschiedene Mutter entflieht dem Treiben auf der Fraueninsel und findet „ganz herrlichen Ersatz“ im hoch über dem Seeufer gelegenen Einödhof Aisching 1. Sie mietet die obere Etage und übersommert dort für mehrere Jahre mit den jüngeren Geschwistern des Studenten. „[...] oft sprach auch ich für längeres Verweilen zu“ (Felix Dahn: Erinnerungen, Bd. 2).
Seine Autobiografie ist eine ausgezeichnete Quelle für das Leben am Chiemsee um 1900. Er pflegt nicht nur Kontakt zu Max Haushofer, sondern auch zu den Chiemseemalern Christian Ruben (1805-1875), Heinrich Heinlein (1803-1885), Eduard Schleich (1812-1874) und Adolf Heinrich Lier (1826-1882). Denn neben den Sommerfrischlern lockt der See auch die Maler an. Die erste Künstlerkolonie bildet sich in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts auf der Fraueninsel. Es entsteht ein „bayerisches Barbizon“. Wie die Pariser nach Fontainebleau, ziehen die Münchner mit Staffelei und Malutensilien auf die Fraueninsel, um sich der Freilichtmalerei zu widmen. Am Chiemseeufer bilden sich weitere Filiationen zur Inselkolonie. Besonders groß ist die Künstlerdichte um Breitbrunn und Gstadt. Eugen Croissant, der die Fraueninsel als Motiv eher meidet und im Gegensatz zu den allermeisten den Winter dem Sommer vorzieht, karikiert die Boom-Zeit und den Kampf um den besten Staffeleiplatz.
Der Landschaftsmaler Wilhelm Boshart (1815 -1878) ist der erste, der sich 1857 in Aisching ein Sommerhaus baut (Reiterstraße 41). Er studiert zunächst Pharmazie, widmet sich dann aber ganz der Malerei. Sein Vater betreibt in München einen florierenden Geldverleih, so dass er nicht auf die Kunst als Broterwerb angewiesen ist. Der Autodidakt orientiert sich an seinem Cousin Max Haushofer (1811-1866) und auf dessen Empfehlung auch an Eduard Schleich (1812-1874). Für zwei Jahrzehnte gehört er zu den wichtigsten Vertretern der Chiemseemalerei. Sein „Standortvorteil“ in Aisching ermöglicht ihm die intensive Auseinandersetzung mit den wechselnden Stimmungen und Szenerien des Chiemsees.
Die Bosharts sind gut vernetzt mit den Familien des gehobenen Münchner Bürgertums. Wilhelm Bosharts Tochter Minna (geb. 1846) heiratet den Professor für Mineralogie Karl Haushofer (1839-1895), einen Sohn von Max Haushofer und Anna Dumbser, der Tochter des Inselwirts. Minna Boshart ist auch eine Freundin von Constanze Dahn, der Schwester des oben erwähnten Juraprofessors Felix Dahn. In seinen Erinnerungen schildert er, wie die beiden Mädchen einen Einbaum über den Chiemsee steuern.
Gar anmuthig war es zu schauen, wie meine Schwester Constanze oder ihre Freundin Minna, die Tochter des Malers Boshard, später die Schwiegertochter Haushofers, zwei hoch und schlank gewachsene Mädchen, im schwarzen Mieder und mit den weißen Hemdärmeln, das Steuer in dieser Weise kräftig und muthig führten. (Dahn, Erinnerungen, Bd. 2, S. 238f.)
Wilhelm Bosharts Bilder befinden sich überwiegend in Privatbesitz oder gelten als verschollen. Gelegentlich tauchen sie in Auktionen auf. Es fehlen außerdem biografische Dokumente, so dass man immer noch wenig über ihn als Maler weiß.
Alfred Zimmermann (1854-1910), Feldkreuz bei Gstadt, 1904 © Museum Prien, Historische Galerie der Chiemseemaler
In Aisching folgt ihm Alfred Zimmermann (1854-1910) nach, eine schillernde Künstlerpersönlichkeit. 1900 erwirbt dieser ein „stattliches Haus mit prächtigem Gartenland“ (Aisching 6 und 7), das heute unter Denkmalschutz steht. Alfred Zimmermann studiert zunächst an der Münchner Kunstakademie, widmet sich dann aber für mehrere Jahre der Musik. Als gefeierter Tenor kehrt er schließlich zur Malerei zurück und lebt für zehn Jahre in Italien auf der Insel Capri.
Wieder in Deutschland verbringt er die folgenden Jahre in seiner Aischinger Villa. Während unter dem Einfluss des Nationalismus um 1900 die Historienmalerei floriert, sucht Alfred Zimmermann seine Motive im Alltag des bäuerlichen Lebens. Die Pleinairmalerei und ihre „atmosphärische Farbwirkung“ begeistern ihn, wenn er auch darüber jammert, dass „das Freilichtmalen [...] in unserem gemäßigten Klima eine nervöse Geschichte“ sei. Erst 43 Jahre alt ertrinkt er beim Segeln auf dem Chiemsee.
1908 zieht der Maler Heinrich Heidner (1876-1974) mit seiner Familie an den Chiemsee. Ein Gönner, der Freiherr von Cramer-Klett, hat dem Sohn eines Fabrikarbeiters das Studium an der Münchner Akademie ermöglicht. Als Hochzeitsgeschenk erhält Heinrich Heidner vom Brautvater, einem Berliner Rossarzt, ein Grundstück in Aisching und finanzielle Unterstützung für den Hausbau. 1908/09 entsteht die heute denkmalgeschützte „Heidner-Villa“, deren Grund sich bis zum Chiemsee-Uferweg erstreckt (Heidnerweg 7). Den ersten Weltkrieg erlebt Heinrich Heidner an der Westfront in den Vogesen. Seine expressiven Kriegsbilder, meist in Tempera und raschem Malduktus ausgeführt, halten erschütternde Szenen fest. Die „Vogesenbilder“ von 1915 faszinieren die Kunstkritik und sorgen für zahlreiche Ankäufe von deutschen Museen. So wird Heinrich Heidner vor allem als Kriegsmaler berühmt. „Es war der Weltkrieg, der mir merkwürdigerweise die Erfolge in künstlerischer Hinsicht bringen sollte, die ich mir von meinen Friedensbildern erwartet hatte“, schreibt er rückblickend in seiner Autobiografie.
Heinrich Heidner (1876-1974), Blumen, 1970 und Früchte im Pott, 1960 © Heimatmuseum Prien, Historische Galerie der Chiemseemaler; Heinrich Heidner mit seiner ersten Ehefrau Frieda und Sohn Fred, Gstadt am Chiemsee, um 1910 © Germanisches Nationalmuseum, Deutsches Kunstarchiv (GNM, Nürnberg, DKA_NLHeidnerHeinrich_IA1-0002)
Während des Zweiten Weltkriegs lebt er krankheitsbedingt und aufgrund des Todes seiner Frau Frieda zurückgezogen. Er beteiligt sich an keinen Ausstellungen mehr. Einen Neuanfang setzt nicht nur die Ehe mit seiner zweiten Frau Maria, sondern auch die Gründung der „Notgemeinschaft Bildender Künstler Gstadt“ im Jahr 1848. Dreißig Künstler aus mehreren Orten am Chiemsee schließen sich zusammen, um gemäß Satzung die „künstlerischen und wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder“ zu fördern. 1949 findet die erste Ausstellung im Bibliothekssaal des Augustiner-Chorherrenstifts auf der Herreninsel statt. Heinrich Heidner engagiert sich über mehrere Jahre für die Notgemeinschaft als ihr erster Vorsitzender.
Auch der Expressionist Max Beckmann (1884-1950) hält sich vorübergehend am Chiemsee auf. Die Nationalsozialisten haben ihm seine Professur an der Frankfurter Städelschule entzogen und ihn mit Ausstellungsverbot belegt. Sie brandmarken ihn als entarteten Künstler. Das Industriellen-Ehepaar von Schnitzler lädt ihn 1934 trotzdem zu sich ein. Von seinem Zimmer aus im Aischinger Hof (Aisching 1, vgl. Felix Dahn) malt Beckmann den „Blick auf den Chiemsee“. So entsteht in Aisching eines seiner wenigen Landschaftsbilder mit einem schroff gezackten Sonnenschirm, einem Heuwagen, aus dem Lot geratenen Bäumen und im Wind krängenden Segelbooten. Lilly von Schnitzler (1889-1981) gründet 1951, nach Beckmanns Tod, die Max Beckmann-Gesellschaft. Ihre umfangreiche Beckmann-Sammlung befindet sich heute im Museum Ludwig in Köln.
Lilly von Schnitzler in Murnau, Gründung der Max-Beckmann-Gesellschaft 1953, Fotografin: Felicitas Timpe © Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv; Max Beckmann im Atelier vor Gemälden, um 1908, Fotograf: Oliver Baker © Germanisches Nationalmuseum, Deutsches Kunstarchiv (GNM, Nürnberg, DKA_NLSchmidtDoris_3912S51U8-0001); Willibald Demmel (1914-1989), Selbstporträt 1950 © Heimatmuseum Prien, Historische Galerie der Chiemseemaler
Als einer der letzten Vertreter der Münchner Schule der Chiemseemaler gilt Willibald Demmel (1914-1989). Der gelernte Goldschmied findet nach einem Wanderunfall auf der Kampenwand, der ihn kriegsuntauglich macht, durch einen Mitpatienten zur Malerei. 1939 wird er an der Münchner Kunstakademie aufgenommen und erhält bald verschiedene Preise wie den Albrecht-Dürer-Preis, den Lenbach-Preis und den Leibl-Preis. Bei einem Sommeraufenthalt erwacht seine Liebe zum Chiemgau. So mietet er sich 1941, nachdem sein Elternhaus in München dem Bombenhagel zum Opfer gefallen ist, auf dem Dachboden eines Bauernhauses in Breitbrunn ein. 1949 kann er ein eigenes Haus mit Atelier auf der Aischinger Höhe bauen. 1951 eröffnet der sozial wie kommerziell rege Künstler die Weinstube „Palette“, in der er selbst als Wirt seine Gäste versorgt. Besucher und Freunde aus der ganzen Welt tragen sich in sein Gästebuch ein. Auch eine Kunstschule betreibt er von 1964-1979 in Aisching. Für seine Malerfreundin Lilo Ramdohr (1913-2013) und deren Bekannten Alexander Schmorell (1917-1943), Mitbegründer der studentischen Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, stellt er während der Kriegsjahre den Kontakt zu einer Familie in Breitbrunn her, so dass die beiden sich in deren Bauernhof, dem „Pumpererhof“ im Ortsteil Loiberting, ein Notlager einrichten können. Als Lilo Ramdohr nach dem Krieg 1948 aus der Sowjetischen Besatzungszone flieht, nimmt Willibald Demmel sie mit ihrer kleinen Tochter bei sich auf. 1949 trägt er dazu bei, die Münchner Künstlergenossenschaft kgl. priv. von 1868 wieder zu neuem Leben zu erwecken, und wirkt fast 35 Jahre in ihrer Vorstandschaft mit. Seine klar strukturierten Landschaftsbilder und vielen Porträts zeugen von seiner Verbundenheit mit dem Chiemsee und seinen Menschen.
In den 70er Jahren verblasst die Blütezeit der Chiemseemalerei. Im März 1870 schreibt Wilhelm Boshart mit einem Hauch von Wehmut in der Kunstzeitschrift Die Dioskuren:
Es ist nun schon manches Dezennium verflossen, seit sich im Wirtshause auf der Fraueninsel zum ersten Mal ein lustiges Völkchen von Malern zusammenfand und nach des Tages Müh‘ bis spät in die Nacht hinein beim Glase saß. Die Ruben, Morgenstern, Fohr, Haushofer und wie die Wackeren sonst alle hießen, die dort Standquartiere aufgeschlagen, sie sind fast alle heimgegangen und denen, die sich noch des Lichtes erfreuen, fließet das Blut nachgerade etwas ruhiger durch die Adern. Aber der Geist jener Tage schwebt noch über dem Wasser und berührt mit leisem Flügelschlage die Seele des einen oder anderen von Jenen, welche noch festhalten an dem Gedächtnis der alten Zeit [...].“
An das bunte Künstlerleben erinnern die originellen, teils denkmalgeschützten Malervillen. Auf der Aischinger Höhe kann man dem Flair dieser Jahre nachspüren.
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Sekundärliteratur:
Felix Dahn: Erinnerungen. Bd. 1 / 4,2. Breitkopf und Härtel, Leipzig 1890-1895.
Max Beckmann: Katalog der Gemälde. 2 Bde. Hg. v. Göpel, Erhard; Göpel, Barbara. Kornfeld, Bern. 1976.
Aigner, Fritz (1995): Maler am Chiemsee. Markt Prien am Chiemsee, Prien am Chiemsee.
Croissant, Eugen; Heyn, Hans (1996): Hinterm Mond. Eine Chiemseer Chronik der Jahre 1943-1949. Rosenheimer Verlag, Rosenheim.
Heidner, Heinrich; Hoffmann, Irma (2007): Wiederentdeckt! Heinrich Heidner: 1876-1974. Eine Ausstellung der Museen der Stadt Nürnberg im Ausstellungsforum des Stadtmuseums Fembohaus, 15. September bis 8. November 2007. Museen der Stadt Nürnberg, Nürnberg.
Lindenberg, Fritz (1984): Willibald Demmel. Ein Meister traditioneller Chiemseemaler. Drei-Linden-Verlag, Grabenstätt.
Negendanck, Ruth (2008): Künstlerlandschaft Chiemsee. Verlag Atelier im Bauernhaus, Fischerhude.
Streitberg, Gerald (2015): Wilhelm Boshart und sein Kreis. Die Lebenswelt des Chiemsee-Malers W. Boshart. Das Buch erscheint zur Ausstellung im Stadt- und Spielzeugmuseum Traunstein, vom 10. Juli bis 13. September 2015. Heimatmuseum Traunstein, Traunstein.
Westermeier, Robert (1999): Gstadt Gollenshausen. Chronik. Gemeinde Gstadt-Gollenshausen, Gstadt am Chiemsee.
Externe Links:
Aisching hat ohne Frage die herrlichste Lage am See: die Fraueninsel, gerade gegenüber, bildet den lieblichsten, reizvollsten Vordergrund: – bei ruhigem Wetter schien sie auf der spiegelglatten Fläche zu schwimmen, einer Seerose gleich! – die Wasserfläche gen Süden hin wird durch die kleine Krautinsel und die dunklen Waldwipfel von Herrenwörth unterbrochen: über dem Frauenkloster, im Osten, und jenseits der Herreninsel ragen die Berge: zwar fern, aber desto wirkungsvoller in der Beleuchtung: welch wundervolle Sommerabende hab‘ ich hier erlebt, wann die Sonne hinter uns zu Golde ging und nun See, Inseln und Ostberge in allen denkbaren Farbenabstufungen – vom glühendsten Roth bis in das dunkle Veilchenblau hinein – leuchteten. (Felix Dahn: Erinnerungen, Bd. 2)
Über viele Jahre bleibt der Rechtsprofessor und Schriftsteller Felix Dahn (1834-1912) dem Chiemsee während der Sommerfrische treu. Als Kind vergnügt er sich mit den Söhnen des Malers Max Haushofer (1811-1866) und der dortigen Jugend auf der Fraueninsel. Sobald jedoch die Eisenbahnlinie zwischen München und Prien fertiggestellt ist, ergießt sich „der civis Monacensis vulgaris mit Weib und Kind in ungezählten Stücken auf und über das schmale Eiland“ – so Felix Dahn im Jahr 1858 über den touristischen Ansturm aus der Stadt.
Zwar kennt man noch nicht das freie Wochenende, aber im Sommer verlagert sich das Gesellschaftsleben der Städter hinaus in die Natur und ans Wasser. Dahns geschiedene Mutter entflieht dem Treiben auf der Fraueninsel und findet „ganz herrlichen Ersatz“ im hoch über dem Seeufer gelegenen Einödhof Aisching 1. Sie mietet die obere Etage und übersommert dort für mehrere Jahre mit den jüngeren Geschwistern des Studenten. „[...] oft sprach auch ich für längeres Verweilen zu“ (Felix Dahn: Erinnerungen, Bd. 2).
Seine Autobiografie ist eine ausgezeichnete Quelle für das Leben am Chiemsee um 1900. Er pflegt nicht nur Kontakt zu Max Haushofer, sondern auch zu den Chiemseemalern Christian Ruben (1805-1875), Heinrich Heinlein (1803-1885), Eduard Schleich (1812-1874) und Adolf Heinrich Lier (1826-1882). Denn neben den Sommerfrischlern lockt der See auch die Maler an. Die erste Künstlerkolonie bildet sich in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts auf der Fraueninsel. Es entsteht ein „bayerisches Barbizon“. Wie die Pariser nach Fontainebleau, ziehen die Münchner mit Staffelei und Malutensilien auf die Fraueninsel, um sich der Freilichtmalerei zu widmen. Am Chiemseeufer bilden sich weitere Filiationen zur Inselkolonie. Besonders groß ist die Künstlerdichte um Breitbrunn und Gstadt. Eugen Croissant, der die Fraueninsel als Motiv eher meidet und im Gegensatz zu den allermeisten den Winter dem Sommer vorzieht, karikiert die Boom-Zeit und den Kampf um den besten Staffeleiplatz.
Der Landschaftsmaler Wilhelm Boshart (1815 -1878) ist der erste, der sich 1857 in Aisching ein Sommerhaus baut (Reiterstraße 41). Er studiert zunächst Pharmazie, widmet sich dann aber ganz der Malerei. Sein Vater betreibt in München einen florierenden Geldverleih, so dass er nicht auf die Kunst als Broterwerb angewiesen ist. Der Autodidakt orientiert sich an seinem Cousin Max Haushofer (1811-1866) und auf dessen Empfehlung auch an Eduard Schleich (1812-1874). Für zwei Jahrzehnte gehört er zu den wichtigsten Vertretern der Chiemseemalerei. Sein „Standortvorteil“ in Aisching ermöglicht ihm die intensive Auseinandersetzung mit den wechselnden Stimmungen und Szenerien des Chiemsees.
Die Bosharts sind gut vernetzt mit den Familien des gehobenen Münchner Bürgertums. Wilhelm Bosharts Tochter Minna (geb. 1846) heiratet den Professor für Mineralogie Karl Haushofer (1839-1895), einen Sohn von Max Haushofer und Anna Dumbser, der Tochter des Inselwirts. Minna Boshart ist auch eine Freundin von Constanze Dahn, der Schwester des oben erwähnten Juraprofessors Felix Dahn. In seinen Erinnerungen schildert er, wie die beiden Mädchen einen Einbaum über den Chiemsee steuern.
Gar anmuthig war es zu schauen, wie meine Schwester Constanze oder ihre Freundin Minna, die Tochter des Malers Boshard, später die Schwiegertochter Haushofers, zwei hoch und schlank gewachsene Mädchen, im schwarzen Mieder und mit den weißen Hemdärmeln, das Steuer in dieser Weise kräftig und muthig führten. (Dahn, Erinnerungen, Bd. 2, S. 238f.)
Wilhelm Bosharts Bilder befinden sich überwiegend in Privatbesitz oder gelten als verschollen. Gelegentlich tauchen sie in Auktionen auf. Es fehlen außerdem biografische Dokumente, so dass man immer noch wenig über ihn als Maler weiß.
Alfred Zimmermann (1854-1910), Feldkreuz bei Gstadt, 1904 © Museum Prien, Historische Galerie der Chiemseemaler
In Aisching folgt ihm Alfred Zimmermann (1854-1910) nach, eine schillernde Künstlerpersönlichkeit. 1900 erwirbt dieser ein „stattliches Haus mit prächtigem Gartenland“ (Aisching 6 und 7), das heute unter Denkmalschutz steht. Alfred Zimmermann studiert zunächst an der Münchner Kunstakademie, widmet sich dann aber für mehrere Jahre der Musik. Als gefeierter Tenor kehrt er schließlich zur Malerei zurück und lebt für zehn Jahre in Italien auf der Insel Capri.
Wieder in Deutschland verbringt er die folgenden Jahre in seiner Aischinger Villa. Während unter dem Einfluss des Nationalismus um 1900 die Historienmalerei floriert, sucht Alfred Zimmermann seine Motive im Alltag des bäuerlichen Lebens. Die Pleinairmalerei und ihre „atmosphärische Farbwirkung“ begeistern ihn, wenn er auch darüber jammert, dass „das Freilichtmalen [...] in unserem gemäßigten Klima eine nervöse Geschichte“ sei. Erst 43 Jahre alt ertrinkt er beim Segeln auf dem Chiemsee.
1908 zieht der Maler Heinrich Heidner (1876-1974) mit seiner Familie an den Chiemsee. Ein Gönner, der Freiherr von Cramer-Klett, hat dem Sohn eines Fabrikarbeiters das Studium an der Münchner Akademie ermöglicht. Als Hochzeitsgeschenk erhält Heinrich Heidner vom Brautvater, einem Berliner Rossarzt, ein Grundstück in Aisching und finanzielle Unterstützung für den Hausbau. 1908/09 entsteht die heute denkmalgeschützte „Heidner-Villa“, deren Grund sich bis zum Chiemsee-Uferweg erstreckt (Heidnerweg 7). Den ersten Weltkrieg erlebt Heinrich Heidner an der Westfront in den Vogesen. Seine expressiven Kriegsbilder, meist in Tempera und raschem Malduktus ausgeführt, halten erschütternde Szenen fest. Die „Vogesenbilder“ von 1915 faszinieren die Kunstkritik und sorgen für zahlreiche Ankäufe von deutschen Museen. So wird Heinrich Heidner vor allem als Kriegsmaler berühmt. „Es war der Weltkrieg, der mir merkwürdigerweise die Erfolge in künstlerischer Hinsicht bringen sollte, die ich mir von meinen Friedensbildern erwartet hatte“, schreibt er rückblickend in seiner Autobiografie.
Heinrich Heidner (1876-1974), Blumen, 1970 und Früchte im Pott, 1960 © Heimatmuseum Prien, Historische Galerie der Chiemseemaler; Heinrich Heidner mit seiner ersten Ehefrau Frieda und Sohn Fred, Gstadt am Chiemsee, um 1910 © Germanisches Nationalmuseum, Deutsches Kunstarchiv (GNM, Nürnberg, DKA_NLHeidnerHeinrich_IA1-0002)
Während des Zweiten Weltkriegs lebt er krankheitsbedingt und aufgrund des Todes seiner Frau Frieda zurückgezogen. Er beteiligt sich an keinen Ausstellungen mehr. Einen Neuanfang setzt nicht nur die Ehe mit seiner zweiten Frau Maria, sondern auch die Gründung der „Notgemeinschaft Bildender Künstler Gstadt“ im Jahr 1848. Dreißig Künstler aus mehreren Orten am Chiemsee schließen sich zusammen, um gemäß Satzung die „künstlerischen und wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder“ zu fördern. 1949 findet die erste Ausstellung im Bibliothekssaal des Augustiner-Chorherrenstifts auf der Herreninsel statt. Heinrich Heidner engagiert sich über mehrere Jahre für die Notgemeinschaft als ihr erster Vorsitzender.
Auch der Expressionist Max Beckmann (1884-1950) hält sich vorübergehend am Chiemsee auf. Die Nationalsozialisten haben ihm seine Professur an der Frankfurter Städelschule entzogen und ihn mit Ausstellungsverbot belegt. Sie brandmarken ihn als entarteten Künstler. Das Industriellen-Ehepaar von Schnitzler lädt ihn 1934 trotzdem zu sich ein. Von seinem Zimmer aus im Aischinger Hof (Aisching 1, vgl. Felix Dahn) malt Beckmann den „Blick auf den Chiemsee“. So entsteht in Aisching eines seiner wenigen Landschaftsbilder mit einem schroff gezackten Sonnenschirm, einem Heuwagen, aus dem Lot geratenen Bäumen und im Wind krängenden Segelbooten. Lilly von Schnitzler (1889-1981) gründet 1951, nach Beckmanns Tod, die Max Beckmann-Gesellschaft. Ihre umfangreiche Beckmann-Sammlung befindet sich heute im Museum Ludwig in Köln.
Lilly von Schnitzler in Murnau, Gründung der Max-Beckmann-Gesellschaft 1953, Fotografin: Felicitas Timpe © Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv; Max Beckmann im Atelier vor Gemälden, um 1908, Fotograf: Oliver Baker © Germanisches Nationalmuseum, Deutsches Kunstarchiv (GNM, Nürnberg, DKA_NLSchmidtDoris_3912S51U8-0001); Willibald Demmel (1914-1989), Selbstporträt 1950 © Heimatmuseum Prien, Historische Galerie der Chiemseemaler
Als einer der letzten Vertreter der Münchner Schule der Chiemseemaler gilt Willibald Demmel (1914-1989). Der gelernte Goldschmied findet nach einem Wanderunfall auf der Kampenwand, der ihn kriegsuntauglich macht, durch einen Mitpatienten zur Malerei. 1939 wird er an der Münchner Kunstakademie aufgenommen und erhält bald verschiedene Preise wie den Albrecht-Dürer-Preis, den Lenbach-Preis und den Leibl-Preis. Bei einem Sommeraufenthalt erwacht seine Liebe zum Chiemgau. So mietet er sich 1941, nachdem sein Elternhaus in München dem Bombenhagel zum Opfer gefallen ist, auf dem Dachboden eines Bauernhauses in Breitbrunn ein. 1949 kann er ein eigenes Haus mit Atelier auf der Aischinger Höhe bauen. 1951 eröffnet der sozial wie kommerziell rege Künstler die Weinstube „Palette“, in der er selbst als Wirt seine Gäste versorgt. Besucher und Freunde aus der ganzen Welt tragen sich in sein Gästebuch ein. Auch eine Kunstschule betreibt er von 1964-1979 in Aisching. Für seine Malerfreundin Lilo Ramdohr (1913-2013) und deren Bekannten Alexander Schmorell (1917-1943), Mitbegründer der studentischen Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, stellt er während der Kriegsjahre den Kontakt zu einer Familie in Breitbrunn her, so dass die beiden sich in deren Bauernhof, dem „Pumpererhof“ im Ortsteil Loiberting, ein Notlager einrichten können. Als Lilo Ramdohr nach dem Krieg 1948 aus der Sowjetischen Besatzungszone flieht, nimmt Willibald Demmel sie mit ihrer kleinen Tochter bei sich auf. 1949 trägt er dazu bei, die Münchner Künstlergenossenschaft kgl. priv. von 1868 wieder zu neuem Leben zu erwecken, und wirkt fast 35 Jahre in ihrer Vorstandschaft mit. Seine klar strukturierten Landschaftsbilder und vielen Porträts zeugen von seiner Verbundenheit mit dem Chiemsee und seinen Menschen.
In den 70er Jahren verblasst die Blütezeit der Chiemseemalerei. Im März 1870 schreibt Wilhelm Boshart mit einem Hauch von Wehmut in der Kunstzeitschrift Die Dioskuren:
Es ist nun schon manches Dezennium verflossen, seit sich im Wirtshause auf der Fraueninsel zum ersten Mal ein lustiges Völkchen von Malern zusammenfand und nach des Tages Müh‘ bis spät in die Nacht hinein beim Glase saß. Die Ruben, Morgenstern, Fohr, Haushofer und wie die Wackeren sonst alle hießen, die dort Standquartiere aufgeschlagen, sie sind fast alle heimgegangen und denen, die sich noch des Lichtes erfreuen, fließet das Blut nachgerade etwas ruhiger durch die Adern. Aber der Geist jener Tage schwebt noch über dem Wasser und berührt mit leisem Flügelschlage die Seele des einen oder anderen von Jenen, welche noch festhalten an dem Gedächtnis der alten Zeit [...].“
An das bunte Künstlerleben erinnern die originellen, teils denkmalgeschützten Malervillen. Auf der Aischinger Höhe kann man dem Flair dieser Jahre nachspüren.
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Felix Dahn: Erinnerungen. Bd. 1 / 4,2. Breitkopf und Härtel, Leipzig 1890-1895.
Max Beckmann: Katalog der Gemälde. 2 Bde. Hg. v. Göpel, Erhard; Göpel, Barbara. Kornfeld, Bern. 1976.
Aigner, Fritz (1995): Maler am Chiemsee. Markt Prien am Chiemsee, Prien am Chiemsee.
Croissant, Eugen; Heyn, Hans (1996): Hinterm Mond. Eine Chiemseer Chronik der Jahre 1943-1949. Rosenheimer Verlag, Rosenheim.
Heidner, Heinrich; Hoffmann, Irma (2007): Wiederentdeckt! Heinrich Heidner: 1876-1974. Eine Ausstellung der Museen der Stadt Nürnberg im Ausstellungsforum des Stadtmuseums Fembohaus, 15. September bis 8. November 2007. Museen der Stadt Nürnberg, Nürnberg.
Lindenberg, Fritz (1984): Willibald Demmel. Ein Meister traditioneller Chiemseemaler. Drei-Linden-Verlag, Grabenstätt.
Negendanck, Ruth (2008): Künstlerlandschaft Chiemsee. Verlag Atelier im Bauernhaus, Fischerhude.
Streitberg, Gerald (2015): Wilhelm Boshart und sein Kreis. Die Lebenswelt des Chiemsee-Malers W. Boshart. Das Buch erscheint zur Ausstellung im Stadt- und Spielzeugmuseum Traunstein, vom 10. Juli bis 13. September 2015. Heimatmuseum Traunstein, Traunstein.
Westermeier, Robert (1999): Gstadt Gollenshausen. Chronik. Gemeinde Gstadt-Gollenshausen, Gstadt am Chiemsee.