Seestraße: Gunild und Peter Keetman
Alfred August Keetman, Direktor des Bankhauses J. Wichelhaus P. Sohn, kauft 1936 den Lienzinger-Müllerhof in der Seestraße 17. Die Familie stammt aus Elberfeld (heute Wuppertal). In der Kriegszeit sollte sich das Anwesen als Fluchtstätte für die verstreuten Familienmitglieder erweisen. Die Tochter Gunild Keetman (1904-1990) zieht 1944 ebenfalls nach Breitbrunn, nachdem ihre Münchner Wohnung in der Königinstraße 45 durch Bombenangriffe zerstört worden ist. Sie bewohnt die kleine umgebaute Mahlmühle (Seestraße 19). Die Musikerin und Komponistin ist eine enge Mitarbeiterin von Carl Orff. Zusammen mit ihm gibt sie von 1950 bis 1954 das Orff-Schulwerk heraus, das auf einer neuartigen Kombination von Bewegung und Musik basiert. Musiziert wird auf den sogenannten „Elementarinstrumenten“ oder „Orff-Instrumenten“. Dazu zählen Glockenspiel, Xylophon, Pauken und weitere Rhythmusinstrumente.
Sie hat bislang an der Günther-Schule in München als Lehrerin für Musik und Bewegung unterrichtet. Die „Ausbildungsstätte vom Bund für freie und angewandte Bewegung“ wurde von der Tanzpädagogin Dorothee Günther (1896-1975) und dem Komponisten Carl Orff (1895-1982) gemeinsam gegründet. Auf Gunild Keetmans Kompositionen basieren die Tanzchoregrafien für die Schüler. Erste Erfolge als Komponistin feiert sie 1930 mit der Uraufführung der Barbarischen Suite beim Deutschen Tänzerkongress in München.
Günther-Schule, München, Elementarer Tanz, 1930 und Probe zur Barbarischen Suite, 1931 (Fotos: Allan Arthur Gulliland) © Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv
Doch nun hat die Gestapo die Schule beschlagnahmt. Kaum am Chiemsee angekommen – so berichtet ihre Schwägerin Esa Keetman – wird Gunild Keetman „von oben“ dazu beordert, im „Rasthaus am Chiemsee mit rekonvaleszierenden Soldaten Gymnastik zu machen“. Die Nationalsozialisten haben das idyllisch gelegene Haus zum Lazarett umfunktioniert.
Das Mühlhäuschen in Breitbrunn bleibt Gunild Keetmans fester Wohnsitz für die weiteren Jahre. Die mit ihr befreundete britische Anthropologin Margaret Murray erzählt von einem Besuch: „Sie bewohnt zwei Zimmer in einem alten Mühlhaus nahe am Ufer des Chiemsees. Eine enge Holztreppe führt hinauf. Sie hat ein großes Zimmer mit einem sehr alten Tafelklavier, unter dem die ganzen Xylophone und Glockenspiele liegen.“ Außerdem befindet sich ein Webstuhl in ihrer Wohnung, denn Gunild Keetman liebt es, Muster zu entwerfen und Stoffe zu weben.
Das Orff-Schulwerk hat 1948 so große Popularität erlangt, dass der Bayerische Rundfunk eine Sendereihe dazu startet. Im gleichen Jahr entsteht die Weihnachtsgeschichte mit der Musik von Gunild Keetman und dem Text von Carl Orff. 1949 beruft man Gunild Keetman als Lehrbeauftragte an das Mozarteum in Salzburg. Sie unterrichtet dort bis 1956 das Orff-Schulwerk, zunächst in Kinderkursen. Später erteilt sie auch Kurse für in-und ausländische Studenten. Am Mozarteum wird 1961 das Orff-Institut gegründet, zu dessen Aufbau sie wesentlich beiträgt. 1970 erscheinen die Elementaria, ein Leitfaden zum Orff-Schulwerk, das bald in zahlreiche Sprachen übersetzt wird. Die musikpädagogische Konzeption von Gunild Keetman und Carl Orff hat sich ebenso wie der Einsatz der Orff-Instrumente international etabliert.
Webarbeiten von Gunild Keetman © Familienbesitz Franz Burghardt; Peter Keetman: Selbstbildnis, 1948/1950 © Stiftung F.C. Gundlach
Gunild Keetmans zwölf Jahre jüngerer Bruder, der Fotograf Peter Keetman (1916-2005), lebt von 1949 bis 1995 ebenfalls auf dem Familienanwesen in Breitbrunn. Er hat an der Bayerischen Lehranstalt für Lichtbildwesen in München studiert. 1940 wird er zum Kriegsdienst bei den Eisenbahnpionieren einberufen und erleidet 1944 in Nadwirna (heutige Ukraine) eine schwere Verletzung. Nach Kriegsende setzt er seine fotografische Ausbildung fort. 1949 gründet er zusammen mit anderen Fotografen die Gruppe „fotoform“. Er veröffentlicht in deutschen Fotozeitschriften, nimmt an zahlreichen Gruppenausstellungen teil und arbeitet in der Industrie- und Werbebranche.
Insgesamt mehr als sechs Jahrzehnte fotografischer Arbeit umfasst das Lebenswerk von Peter Keetman. 1953 erscheint die Serie Eine Woche im Volkswagenwerk, eines seiner bekanntesten Werke. Sie entsteht ohne industriellen Auftrag in dem Werk am Wolfsburger Mittellandkanal. In dieser Fotostrecke dokumentiert er die Fließbandarbeit bei Volkswagen, den Bau und technische Details des mythischen „Käfers“. Einerseits ist Peter Keetmans Werk dem deutschen Wiederaufbau und den neuen Wirtschaftsprodukten verhaftet, andererseits aber auch der Landschaft des Chiemgaus.
Gunild Keetman und ihre Schwägerin Esa Keetman (Foto: Peter Keetman) © Familienbesitz; Haus Oberleitner, Breitbrunn, Seestraße 24 (Foto: Peter Keetman) © Bayerische Staatsbibliothek/Bildarchiv
Außerdem widmet er dem Orff-Schulwerk, an dem seine Schwester maßgeblich beteiligt ist, mehrere Fotostrecken. Seine Schwarzweiß-Fotografien durchzieht bei allen Sujets eine innovative Sicht auf technische wie naturgegebene Details. Sie sind oft stark abstrahiert und grafisch prägnant in Szene gesetzt. Mit der Kamera dringt Peter Keetman zu den elementaren Strukturen seiner Motive vor und dynamisiert sie durch scharfe Schwarzweiß-Kontraste. „Fotos wie Cool Jazz“ titelt Die Zeit zur großen Retrospektive 2016 im Museum Folkwang in Essen anlässlich von Peter Keetmans 100. Geburtstag. Seinen fotografischen Nachlass betreuen die Stiftung F. C. Gundlach und das Museum Folkwang in Essen.
Sekundärliteratur:
Breit, Stefan (2008): Die Geschichte der Gemeinde Breitbrunn am Chiemsee. Bd. 1: Haus- und Hofgeschichten. Gemeinde Breitbrunn am Chiemsee, Breitbrunn am Chiemsee.
Erenz, Benedikt (2016): „Peter Keetman. Fotos wie Cool Jazz“. Essens Museum Folkwang zeigt das Werk des Fotografen Peter Keetman. In: Die Zeit, 16. Juni.
Fischer, Cornelia (2009): Gunild Keetman und das Orff-Schulwerk. Elementare Musik zwischen künstlerischem und didaktischem Anspruch. Schott, Mainz u.a.
Gundlach, F. C. (Hg.) (2016): Peter Keetman. Gestaltete Welt (2016). Museum Folkwang. Stiftung F. C. Gundlach. Steidl, Göttingen.
Kraus, Wolfgang (2017): Chiemseemaler – Die Sammlung Oberleitner. Books on Demand, Norderstedt.
Regner, Hermann; Ronnefeld, Minna (Hg.) (2004): Gunild Keetman: 1904-1990. Ein Leben für Musik und Bewegung. Erinnerungen, Begegnungen, Dokumente. Schott, Mainz u.a.
Externe Links:
Alfred August Keetman, Direktor des Bankhauses J. Wichelhaus P. Sohn, kauft 1936 den Lienzinger-Müllerhof in der Seestraße 17. Die Familie stammt aus Elberfeld (heute Wuppertal). In der Kriegszeit sollte sich das Anwesen als Fluchtstätte für die verstreuten Familienmitglieder erweisen. Die Tochter Gunild Keetman (1904-1990) zieht 1944 ebenfalls nach Breitbrunn, nachdem ihre Münchner Wohnung in der Königinstraße 45 durch Bombenangriffe zerstört worden ist. Sie bewohnt die kleine umgebaute Mahlmühle (Seestraße 19). Die Musikerin und Komponistin ist eine enge Mitarbeiterin von Carl Orff. Zusammen mit ihm gibt sie von 1950 bis 1954 das Orff-Schulwerk heraus, das auf einer neuartigen Kombination von Bewegung und Musik basiert. Musiziert wird auf den sogenannten „Elementarinstrumenten“ oder „Orff-Instrumenten“. Dazu zählen Glockenspiel, Xylophon, Pauken und weitere Rhythmusinstrumente.
Sie hat bislang an der Günther-Schule in München als Lehrerin für Musik und Bewegung unterrichtet. Die „Ausbildungsstätte vom Bund für freie und angewandte Bewegung“ wurde von der Tanzpädagogin Dorothee Günther (1896-1975) und dem Komponisten Carl Orff (1895-1982) gemeinsam gegründet. Auf Gunild Keetmans Kompositionen basieren die Tanzchoregrafien für die Schüler. Erste Erfolge als Komponistin feiert sie 1930 mit der Uraufführung der Barbarischen Suite beim Deutschen Tänzerkongress in München.
Günther-Schule, München, Elementarer Tanz, 1930 und Probe zur Barbarischen Suite, 1931 (Fotos: Allan Arthur Gulliland) © Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv
Doch nun hat die Gestapo die Schule beschlagnahmt. Kaum am Chiemsee angekommen – so berichtet ihre Schwägerin Esa Keetman – wird Gunild Keetman „von oben“ dazu beordert, im „Rasthaus am Chiemsee mit rekonvaleszierenden Soldaten Gymnastik zu machen“. Die Nationalsozialisten haben das idyllisch gelegene Haus zum Lazarett umfunktioniert.
Das Mühlhäuschen in Breitbrunn bleibt Gunild Keetmans fester Wohnsitz für die weiteren Jahre. Die mit ihr befreundete britische Anthropologin Margaret Murray erzählt von einem Besuch: „Sie bewohnt zwei Zimmer in einem alten Mühlhaus nahe am Ufer des Chiemsees. Eine enge Holztreppe führt hinauf. Sie hat ein großes Zimmer mit einem sehr alten Tafelklavier, unter dem die ganzen Xylophone und Glockenspiele liegen.“ Außerdem befindet sich ein Webstuhl in ihrer Wohnung, denn Gunild Keetman liebt es, Muster zu entwerfen und Stoffe zu weben.
Das Orff-Schulwerk hat 1948 so große Popularität erlangt, dass der Bayerische Rundfunk eine Sendereihe dazu startet. Im gleichen Jahr entsteht die Weihnachtsgeschichte mit der Musik von Gunild Keetman und dem Text von Carl Orff. 1949 beruft man Gunild Keetman als Lehrbeauftragte an das Mozarteum in Salzburg. Sie unterrichtet dort bis 1956 das Orff-Schulwerk, zunächst in Kinderkursen. Später erteilt sie auch Kurse für in-und ausländische Studenten. Am Mozarteum wird 1961 das Orff-Institut gegründet, zu dessen Aufbau sie wesentlich beiträgt. 1970 erscheinen die Elementaria, ein Leitfaden zum Orff-Schulwerk, das bald in zahlreiche Sprachen übersetzt wird. Die musikpädagogische Konzeption von Gunild Keetman und Carl Orff hat sich ebenso wie der Einsatz der Orff-Instrumente international etabliert.
Webarbeiten von Gunild Keetman © Familienbesitz Franz Burghardt; Peter Keetman: Selbstbildnis, 1948/1950 © Stiftung F.C. Gundlach
Gunild Keetmans zwölf Jahre jüngerer Bruder, der Fotograf Peter Keetman (1916-2005), lebt von 1949 bis 1995 ebenfalls auf dem Familienanwesen in Breitbrunn. Er hat an der Bayerischen Lehranstalt für Lichtbildwesen in München studiert. 1940 wird er zum Kriegsdienst bei den Eisenbahnpionieren einberufen und erleidet 1944 in Nadwirna (heutige Ukraine) eine schwere Verletzung. Nach Kriegsende setzt er seine fotografische Ausbildung fort. 1949 gründet er zusammen mit anderen Fotografen die Gruppe „fotoform“. Er veröffentlicht in deutschen Fotozeitschriften, nimmt an zahlreichen Gruppenausstellungen teil und arbeitet in der Industrie- und Werbebranche.
Insgesamt mehr als sechs Jahrzehnte fotografischer Arbeit umfasst das Lebenswerk von Peter Keetman. 1953 erscheint die Serie Eine Woche im Volkswagenwerk, eines seiner bekanntesten Werke. Sie entsteht ohne industriellen Auftrag in dem Werk am Wolfsburger Mittellandkanal. In dieser Fotostrecke dokumentiert er die Fließbandarbeit bei Volkswagen, den Bau und technische Details des mythischen „Käfers“. Einerseits ist Peter Keetmans Werk dem deutschen Wiederaufbau und den neuen Wirtschaftsprodukten verhaftet, andererseits aber auch der Landschaft des Chiemgaus.
Gunild Keetman und ihre Schwägerin Esa Keetman (Foto: Peter Keetman) © Familienbesitz; Haus Oberleitner, Breitbrunn, Seestraße 24 (Foto: Peter Keetman) © Bayerische Staatsbibliothek/Bildarchiv
Außerdem widmet er dem Orff-Schulwerk, an dem seine Schwester maßgeblich beteiligt ist, mehrere Fotostrecken. Seine Schwarzweiß-Fotografien durchzieht bei allen Sujets eine innovative Sicht auf technische wie naturgegebene Details. Sie sind oft stark abstrahiert und grafisch prägnant in Szene gesetzt. Mit der Kamera dringt Peter Keetman zu den elementaren Strukturen seiner Motive vor und dynamisiert sie durch scharfe Schwarzweiß-Kontraste. „Fotos wie Cool Jazz“ titelt Die Zeit zur großen Retrospektive 2016 im Museum Folkwang in Essen anlässlich von Peter Keetmans 100. Geburtstag. Seinen fotografischen Nachlass betreuen die Stiftung F. C. Gundlach und das Museum Folkwang in Essen.
Breit, Stefan (2008): Die Geschichte der Gemeinde Breitbrunn am Chiemsee. Bd. 1: Haus- und Hofgeschichten. Gemeinde Breitbrunn am Chiemsee, Breitbrunn am Chiemsee.
Erenz, Benedikt (2016): „Peter Keetman. Fotos wie Cool Jazz“. Essens Museum Folkwang zeigt das Werk des Fotografen Peter Keetman. In: Die Zeit, 16. Juni.
Fischer, Cornelia (2009): Gunild Keetman und das Orff-Schulwerk. Elementare Musik zwischen künstlerischem und didaktischem Anspruch. Schott, Mainz u.a.
Gundlach, F. C. (Hg.) (2016): Peter Keetman. Gestaltete Welt (2016). Museum Folkwang. Stiftung F. C. Gundlach. Steidl, Göttingen.
Kraus, Wolfgang (2017): Chiemseemaler – Die Sammlung Oberleitner. Books on Demand, Norderstedt.
Regner, Hermann; Ronnefeld, Minna (Hg.) (2004): Gunild Keetman: 1904-1990. Ein Leben für Musik und Bewegung. Erinnerungen, Begegnungen, Dokumente. Schott, Mainz u.a.