München, Franz-Joseph-Straße 35 (Eva von Baudissin)
1935 zieht die Schriftstellerin Eva Gräfin von Baudissin, die 1934 von dem Rassentherorethiker Otto Hauser als Jüdin gebrandmarkt worden ist, von der Ohmstraße 14 in die Franz-Joseph-Straße 35. Es gelingt ihr, ihre „arische Herkunft“ nachzuweisen. Die Wohnung in der Ohmstraße kann sie sich jedoch bald nicht mehr leisten. Tatsache ist, dass sie noch bis ungefähr 1938 publiziert. Bis zu diesem Zeitpunkt finden sich Artikel von ihr in Zeitungen, über Theateraufführungen, Kunst- und Architekturausstellungen. 1936 bringt sie noch Holidays in Bavaria, einen Reiseführer in englischer Sprache, im Münchner Hugendubel Verlag heraus. 1937 erlebt sie ihren letzten großen Erfolg mit dem Roman Königin der Tränen. Wilhelmine Schröder-Devrient. Der Schicksalsweg einer großen Künstlerin. Dass sie bis zu diesem Zeitpunkt auch im Ausland eine bekannte und anerkannte deutsche Schriftstellerin ist, davon zeugt eine Schrift des belgischen Literaturprofessors Robert Foncke (1889-1972). In der März-Nummer des Jahres 1936 der flämischen Monatszeitschrift De Vlaamsche Gids bringt er ein großangelegtes Porträt über Eva Gräfin von Baudissin, das auch als Einzelpublikation erscheint.
Tief blickt ihr geistiges Auge in das Gemüt von Männer und Frauen, obgleich vielleicht und erkläglich genug – am schärfsten in das Innere von Müttern und Mädchen [...] Den nie zu überschätzenden Wert der dichterischen Phantasie kann man in all ihren Werken prüfen [...] Wahrheit und Dichtung, aufs engste verknüpft, tragen ja das unsterbliche Werk aller grössten Meister; von überall und von allen Zeiten. Nach deren Muster führen die Erzählungen der Gräfin unbedingt auf tatsächlich Gewesenes oder Bestehendes zurück; von dem, was sie mit eigenem Auge sah und mit eigenen Ohre erfuhr, was sie erlebte und was sie empfand, gehen sie unerbittlich aus: [...]. In Die Weberskinder, ein Buch für junge Mädchen wie Die Familie Boz, das jedoch Erwachsene mit nicht geringerem Vermögen zu Hand nehmen, verarbeitet sie jugendliche Erinnerungen an das prächtige Elternhaus in Lübeck und gewinnt schliesslich das Aussehen eines Zeitdokumentes aus dem Leben der ehrwürdigen Hansestadt in den achtziger Jahren, richtet dabei den Blick nach der Ostseegegend, wo Eva von Baudissin seit ihrer Heirat bei ihren Schwestern wiederholt die Sommerferien zubrachte. Nach Lettland führt auch Aus Liebe zu Russland ein vorzüglicher Roman, dem wir den gewaltigen Eindruck zu verdanken haben, den die Verfasserin beim Ausbruch des Aufstandes von 1905-1907 gewann, welchen die Russen zwar blutig unterdrückten, und der doch zum Vorspiel der dortigen Umwälzung von Jahre 1917 werden sollte. Lus Ehe oder Im Laufgraben erzählt nebenbei über die Verfasserin erste Heiratsjahre in Hamburg. Die neue Ruth schildert das Elend in München unmittelbar nach dem Kriege in der bewegten Zeit der Räterepublik. [...] Auf Eva passt doch auch das Lob womit die Universität Wien der Marie von Ebner von Eschenbach huldigte: Sie zu lesen, tut gut und macht besser!
Ob Carry Brachvogel und Eva Gräfin von Baudissin, die früheren Kolleginnen und Freundinnen, 1937 noch Kontakt hatten, ist unbekannt. Ende 1937 findet sich in den Münchner Neuesten Nachrichten einer der letzten Artikel, in dem über einen Autorenabend berichtet wird, der im Münchner Frauenklub stattgefunden hat. Hier kann man lesen, dass auch Eva Gräfin von Baudissin aus eigenen Werken vortrug:
Der zweite Vortragsabend im Frauenklub war dem Schaffen dreier Münchener Dichterinnen gewidmet. Als erste las Eva Gräfin von Baudissin eine fein und tief durchdachte Erzählung Reue, in der sie den Begriff dieser schwersten aller menschlichen Tugenden (sofern sie eben echt ist) gerecht zu werden sucht. Es folgte eine humorvolle Skizze Silberne Hochzeit im voraus, in der ein unvergessenes Kindererlebnis geschildert wird, und die Erzählung Die weiße Taube, die fesselnd von schicksalhaften Zusammenhängen und Begegnungen im Leben eines einsam gewordenen zu berichten weiß. Eva Baudissin vielseitiges und bewegtes Menschentum spiegelt sich getreu in diesen drei Erzählungen.
Nach 1938 reißen die Nachrichten über Eva von Baudissin ab; was sie in den letzten Jahren ihres Lebens gemacht hat, ist unbekannt. Der von Baudissin 1914 gegründete Münchner Frauenklub findet um 1938 unter noch ungeklärten Umständen sein Ende. Tatsache ist aber, dass sie unter Druck gesetzt wurde, sich mit ihrem Münchner Klub dem Berliner Lyceums Klub anzuschließen. Dies hat sie bis zuletzt verweigert. Sie stirbt am 11. Februar 1943 mit 74 Jahren in München in der Franz-Joseph-Straße 35. Ihre Haushälterin bringt ihren Nachlass in die Bayerische Staatsbibliothek. Die Abläufe ihres Todes liegen dagegen völlig im Dunkeln. Ein Grab von Eva von Baudissin existiert nicht.
Leben und Werk Eva Gräfin von Baudissins sind heute genauso vergessen wie das der anderen vorgestellten Schriftstellerinnen. Auch sie galt im frühen 20. Jahrhundert als eine Schriftstellerin ersten Ranges. Wenn heute noch Bücher von ihr genannt oder zitiert werden, sind es meist Sachbücher: das von Eva und ihrem Mann unter Graf und Gräfin von Baudissin verfasste Anstandsbuch Spaemans goldenes Buch der Sitten aus dem Jahr 1901, oder ihre hochtouristischen Reisebeschreibungen in Sie am Seil aus dem Jahr 1914.
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Sekundärliteratur:
Brachvogel, Carry (1929): Eva Gräfin von Baudissin zum 60ten. In: Münchner Neueste Nachrichten, 6. Oktober.
Foncke, Robert (1936): Over Eva Graefin von Baudissin. Gent.
Mitteilungen aus dem Münchner Kunstleben (1937). In: Münchener Zeitung Nr. 82, 23. März.
Richardsen, Ingvild (2017): Porträt Eva Gräfin von Baudissin. Auf den Spuren der vergessenen Dichterinnen von Frauenchiemsee. Volk Verlag, München.
Dies. (2018): Eva Gräfin von Baudissin. In: Evas Töchter. Münchner Schriftstellerinnen und die moderne Frauenbewegung. 1894-1933. Volk Verlag, München.
1935 zieht die Schriftstellerin Eva Gräfin von Baudissin, die 1934 von dem Rassentherorethiker Otto Hauser als Jüdin gebrandmarkt worden ist, von der Ohmstraße 14 in die Franz-Joseph-Straße 35. Es gelingt ihr, ihre „arische Herkunft“ nachzuweisen. Die Wohnung in der Ohmstraße kann sie sich jedoch bald nicht mehr leisten. Tatsache ist, dass sie noch bis ungefähr 1938 publiziert. Bis zu diesem Zeitpunkt finden sich Artikel von ihr in Zeitungen, über Theateraufführungen, Kunst- und Architekturausstellungen. 1936 bringt sie noch Holidays in Bavaria, einen Reiseführer in englischer Sprache, im Münchner Hugendubel Verlag heraus. 1937 erlebt sie ihren letzten großen Erfolg mit dem Roman Königin der Tränen. Wilhelmine Schröder-Devrient. Der Schicksalsweg einer großen Künstlerin. Dass sie bis zu diesem Zeitpunkt auch im Ausland eine bekannte und anerkannte deutsche Schriftstellerin ist, davon zeugt eine Schrift des belgischen Literaturprofessors Robert Foncke (1889-1972). In der März-Nummer des Jahres 1936 der flämischen Monatszeitschrift De Vlaamsche Gids bringt er ein großangelegtes Porträt über Eva Gräfin von Baudissin, das auch als Einzelpublikation erscheint.
Tief blickt ihr geistiges Auge in das Gemüt von Männer und Frauen, obgleich vielleicht und erkläglich genug – am schärfsten in das Innere von Müttern und Mädchen [...] Den nie zu überschätzenden Wert der dichterischen Phantasie kann man in all ihren Werken prüfen [...] Wahrheit und Dichtung, aufs engste verknüpft, tragen ja das unsterbliche Werk aller grössten Meister; von überall und von allen Zeiten. Nach deren Muster führen die Erzählungen der Gräfin unbedingt auf tatsächlich Gewesenes oder Bestehendes zurück; von dem, was sie mit eigenem Auge sah und mit eigenen Ohre erfuhr, was sie erlebte und was sie empfand, gehen sie unerbittlich aus: [...]. In Die Weberskinder, ein Buch für junge Mädchen wie Die Familie Boz, das jedoch Erwachsene mit nicht geringerem Vermögen zu Hand nehmen, verarbeitet sie jugendliche Erinnerungen an das prächtige Elternhaus in Lübeck und gewinnt schliesslich das Aussehen eines Zeitdokumentes aus dem Leben der ehrwürdigen Hansestadt in den achtziger Jahren, richtet dabei den Blick nach der Ostseegegend, wo Eva von Baudissin seit ihrer Heirat bei ihren Schwestern wiederholt die Sommerferien zubrachte. Nach Lettland führt auch Aus Liebe zu Russland ein vorzüglicher Roman, dem wir den gewaltigen Eindruck zu verdanken haben, den die Verfasserin beim Ausbruch des Aufstandes von 1905-1907 gewann, welchen die Russen zwar blutig unterdrückten, und der doch zum Vorspiel der dortigen Umwälzung von Jahre 1917 werden sollte. Lus Ehe oder Im Laufgraben erzählt nebenbei über die Verfasserin erste Heiratsjahre in Hamburg. Die neue Ruth schildert das Elend in München unmittelbar nach dem Kriege in der bewegten Zeit der Räterepublik. [...] Auf Eva passt doch auch das Lob womit die Universität Wien der Marie von Ebner von Eschenbach huldigte: Sie zu lesen, tut gut und macht besser!
Ob Carry Brachvogel und Eva Gräfin von Baudissin, die früheren Kolleginnen und Freundinnen, 1937 noch Kontakt hatten, ist unbekannt. Ende 1937 findet sich in den Münchner Neuesten Nachrichten einer der letzten Artikel, in dem über einen Autorenabend berichtet wird, der im Münchner Frauenklub stattgefunden hat. Hier kann man lesen, dass auch Eva Gräfin von Baudissin aus eigenen Werken vortrug:
Der zweite Vortragsabend im Frauenklub war dem Schaffen dreier Münchener Dichterinnen gewidmet. Als erste las Eva Gräfin von Baudissin eine fein und tief durchdachte Erzählung Reue, in der sie den Begriff dieser schwersten aller menschlichen Tugenden (sofern sie eben echt ist) gerecht zu werden sucht. Es folgte eine humorvolle Skizze Silberne Hochzeit im voraus, in der ein unvergessenes Kindererlebnis geschildert wird, und die Erzählung Die weiße Taube, die fesselnd von schicksalhaften Zusammenhängen und Begegnungen im Leben eines einsam gewordenen zu berichten weiß. Eva Baudissin vielseitiges und bewegtes Menschentum spiegelt sich getreu in diesen drei Erzählungen.
Nach 1938 reißen die Nachrichten über Eva von Baudissin ab; was sie in den letzten Jahren ihres Lebens gemacht hat, ist unbekannt. Der von Baudissin 1914 gegründete Münchner Frauenklub findet um 1938 unter noch ungeklärten Umständen sein Ende. Tatsache ist aber, dass sie unter Druck gesetzt wurde, sich mit ihrem Münchner Klub dem Berliner Lyceums Klub anzuschließen. Dies hat sie bis zuletzt verweigert. Sie stirbt am 11. Februar 1943 mit 74 Jahren in München in der Franz-Joseph-Straße 35. Ihre Haushälterin bringt ihren Nachlass in die Bayerische Staatsbibliothek. Die Abläufe ihres Todes liegen dagegen völlig im Dunkeln. Ein Grab von Eva von Baudissin existiert nicht.
Leben und Werk Eva Gräfin von Baudissins sind heute genauso vergessen wie das der anderen vorgestellten Schriftstellerinnen. Auch sie galt im frühen 20. Jahrhundert als eine Schriftstellerin ersten Ranges. Wenn heute noch Bücher von ihr genannt oder zitiert werden, sind es meist Sachbücher: das von Eva und ihrem Mann unter Graf und Gräfin von Baudissin verfasste Anstandsbuch Spaemans goldenes Buch der Sitten aus dem Jahr 1901, oder ihre hochtouristischen Reisebeschreibungen in Sie am Seil aus dem Jahr 1914.
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Brachvogel, Carry (1929): Eva Gräfin von Baudissin zum 60ten. In: Münchner Neueste Nachrichten, 6. Oktober.
Foncke, Robert (1936): Over Eva Graefin von Baudissin. Gent.
Mitteilungen aus dem Münchner Kunstleben (1937). In: Münchener Zeitung Nr. 82, 23. März.
Richardsen, Ingvild (2017): Porträt Eva Gräfin von Baudissin. Auf den Spuren der vergessenen Dichterinnen von Frauenchiemsee. Volk Verlag, München.
Dies. (2018): Eva Gräfin von Baudissin. In: Evas Töchter. Münchner Schriftstellerinnen und die moderne Frauenbewegung. 1894-1933. Volk Verlag, München.