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Carry Brachvogel, rauchend. Foto: Theodor Hilsdorf, G-28-1383 (c) Münchner Stadtmuseum

München, Herzogstraße 55 (Carry Brachvogel)

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Herzogstraße 57 heute (c) Ingvild Richardsen

Die Herzogstraße 55 stellt einen wichtigen Erinnerungsort zum Gedenken an Carry Brachvogel dar, die 1942 von diesem Ort aus ins Ghetto Theresienstadt deportiert und dort umgebracht wird.

Von 1910 bis 1942 lebt die Schriftstellerin in einem Jugendstilhaus in der Herzogstraße 10, in einer großen 8 Zimmer-Jugendstilwohnung, die sie 1910 gekauft hat. Auch wenn das Haus heute nicht mehr steht, so steht doch noch das Haus daneben, das entsprechend aussah, da der damalige Bauherr die beiden nebeneinanderliegenden Häuser gleich gestaltete, wie die noch heute überlieferten Baupläne zeigen.

Wie anerkannt und bekannt die Schriftstellerin Carry Brachvogel Mitte der 1920er-Jahre ist und für welche Fähigkeiten und Werke sie berühmt ist geht eindrucksvoll aus einer Würdigung anlässlich Carry Brachvogels 60. Geburtstag 1924 hervor:

Ihr dichterisches Schaffen war umfassend und erstreckte sich auf alle Zeitepochen, macht vor keinem interessanten Problem Halt. Ihr scharfer, feiner Geist, ihr vornehmer Stil, geist- und reizvoll zugleich, mit liebenswürdigem Humor, oft mit feinster Satire gewürzt, ihr leichter, eleganter Ton, flüssigster graziösester Plauderton eines geistig hoch eingestellten Salon, wie ihn Carry Brachvogel in ihrer behaglich feinen Häuslichkeit so weltgewandt sicher um sich zu scharen und auszuwählen versteht, machten sie zum vielgelesenen Liebling aller feingeistigen Menschen. Männer wie Frauen. Carry Brachvogel gestaltet ihre Menschen mit fabelhafter Prägnanz, mit ausgesprochenster Eigenart; ihr gepflegter Stil ist persönlichste Note, wird von allen Kennern gefühlsmäßig empfunden. Sie ist eine tief und gewissenhaft schürfende Psychologin in ihrem künstlerischen Schaffen, sie ist aus persönlicher Liebhaberei, aus ganz hervorragender Begabung heraus Meisterin, ja die souveräne Beherrscherin der galanten Zeitepoche, des Rokoko. Ihre eleganten aristokratisch-vornehmen, weißgepuderten, prätentiösen Frauengestalten des französischen Hofes in seiner gesellschaftlichen Glanzzeit sind schlechthin unübertroffen, fein und scharf gesehen, erfaßt und echt ergründet. Ihre glänzenden Memoiren und Monographien einer ‚Pompadour’, ‚Maria Theresia’, der ‚Katharina II.’ usw. sind einfach Kabinettstücke feinster Charakterisierungskunst. Ihre neuzeitlichen Romane, Das Glück der Erde, Das heimliche Herz (erschienen vor Jahresfrist in den „Münchner Neuesten Nachrichten“) und andere sind Zeitbilder prägnantester Art. Das Herz im Süden, ihre Cäsarenlegenden, ihr letzterschienenes Werk Phantastische Geschichten und Legenden, das speziell bayerische Buch Im weißblauen Land zeugen von reinstem künstlerischem Schaffen, von einem Schaffen, von einem Frauenleben, auf das wir bayerische Frauen, aber auch die ganze deutsche Frauenwelt stolz sein kann und stolz ist.

1933, mit der Machtergreifung der Nazis, endet Carry Brachvogels Erfolgsgeschichte in einer Tragödie. Nun wird sie auf ihre jüdische Herkunft reduziert. Dies ist umso tragischer, als sie den jüdischen Glauben nicht praktiziert, sondern zeitlebens für Assimilation plädiert hat. Konsequent hat sie dies in ihrem eigenen Leben umgesetzt. So war Tochter Feodora nach der Geburt konfessionslos verblieben, Sohn Heinz Udo wurde katholisch getauft. Im Rahmen einer Rundfrage zur Lösung der Judenfrage, die 1907 von dem Berliner Arzt und späteren Politiker Dr. Julius Moses (1868-1942) veranstaltet wird, hat sie öffentlich ganz klar Stellung bezogen. Brachvogel hat an keinen persönlichen Gott geglaubt, sich mit keiner Religion identifiziert, sondern sich als „Monistin“ begriffen.

Wie viele andere auch, erhält sie 1933 Berufs- und Publikationsverbot. Der Schriftstellerinnen-Verein, den sie selbst gegründet hat, entzieht ihr den Vorsitz. Die damaligen Mitglieder und Freundinnen teilen ihr dies nicht persönlich, sondern schriftlich mit:

Am 3.5. kamen einige Mitglieder des Vereins zusammen zu einer privaten Aussprache, um den nunmehr gebotenen Rücktritt der 1. Vorsitzenden zu beraten, worauf am 15.5. unter dem Vorsitz der Gräfin Baudissin dieser Rücktritt nochmal besprochen und beschlossen wurde, einen Abschiedsbrief an Frau Brachvogel zu schreiben, der ihr für ihre 20-jährige Arbeit für den Verein danken und von allen Mitgliedern unterzeichnet werden sollte. Dieser Brief wurde auch geschrieben und an Frau Brachvogel gesandt.

Am 4. Oktober 1933 wird einstimmig beschlossen, den Verein aufzulösen. Das Amtsgericht München bestätigt die Auflösung am 13. November 1933. Um der Gleichschaltung zu entgehen, löst sich auch der Bund deutscher Frauen auf. Das bedeutet das Ende einer eigenständigen Frauenbewegung in Deutschland. Der Münchner Verein für Fraueninteressen bleibt zwar bestehen, wird aber in seiner Arbeit in den nächsten Jahren immer weiter beschnitten. Ab 1933 verschwindet Carry Brachvogel aus der literarischen Welt. Fortan teilt sie ihr weiteres Schicksal mit ihrem Bruder Prof. Dr. Siegmund Hellmann, der als bekannter Historiker und Mediävist einst in engem Kontakt zu Max Weber steht und wie seine Schwester ab 1933 weder seinen Beruf ausüben, noch publizieren darf. 1938 müssen die Geschwister die Zusatznamen „Sara“ und „Israel“ annehmen.

Am 17. Juli 1942 erhalten die 78-jährige Carry Brachvogel und der 70-jährige Prof. Dr. Siegmund Hellmann ein Schreiben der Gestapo München mit der Anweisung, sich ab dem 20. Juli in ihrer Wohnung in der Herzogstraße 55 für einen „Abwanderungstransport“ bereitzuhalten. Am 21. Juli werden beide von Gestapo-Beamten abgeholt, in einen Omnibus verfrachtet und ins KZ Theresienstadt verschleppt. Die Fahrt ins KZ Theresienstadt geht über das Arbeits- und Sammellager in Milbertshofen. Von dort schickt Carry Brachvogel ein letztes Lebenszeichen an ihre Tochter:

Liebe, geliebte Feo, ich schreibe nach einem guten Abendessen und dto Kaffee! Morgen früh geht es weiter, von Th. [Theresienstadt; Anm. d. Verf.] höre ich nur Gutes. (Dein Kuchen zum Kaffee war herrlich!) Bekannte sah ich bisher nicht. – Vermiete nun nur so rasch und gut wie möglich, – Hoffentlich ist bei euch alles in Ordnung?? Mache keine weiteren Versuche, – sie sind zwecklos! Sei mutig, lies keine Zeitung. Wir grüßen euch vielmals! Deine alte zuversichtliche Mama.

Vier Monate nach ihrer Ankunft wird Carry Brachvogel am 20. November 1942 in Theresienstadt ermordet, ihr Bruder Siegmund am 7. Dezember 1942. Auf beiden Todesfallanzeigen wird als Todesursache „Marasmus – Altersschwäche“ vermerkt. Erst nach Kriegsende 1945 erfahren die Familien Brachvogel und Hellmann von ihrem grausamen Verlust.

1945 wird Carry Brachvogels Haus in der Herzogstraße 55 durch einen Bombenangriff zerstört. Feodora Brachvogel kann nur sich selbst und eine kleine Kommode retten. Am 21. Februar 1946 gibt sie eine Erklärung darüber ab, wie die Gestapo ihre Mutter und ihren Onkel aus der Wohnung in der Herzogstraße 55 nach Theresienstadt verschleppt hat. Zum Beweis legt sie das Schreiben der Gestapo an ihren Onkel vor, die polizeilichen Abmeldungen ihrer Mutter und deren letzte Postkarte.

 


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Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Ingvild Richardsen

Sekundärliteratur:

Erklärung Feodora Brachvogel vom 21. Februar 1946 (Notariat München IV) (Monacensia).

Ghetto Theresienstadt/128. Todesfallanzeige/Sterbematrikel 12627: Brachvogel, geb. Hellmann, Karoline Sara gest. 20.11.1942.

Moses, Julius (1907): Die Lösung der Judenfrage. Eine Rundfrage veranstaltet von Dr. Julius Moses, Berlin-Leipzig 1907, S. 111.

Postkarte vom 21. Juli 1942: Carry Brachvogel aus Milbertshofen an ihre Tochter Feodora (in Privatbesitz).

Richardsen, Ingvild (2018): Modernsein 1894-1933. In: Evas Töchter. Münchner Schriftstellerinnen und die moderne Frauenbewegung. 1894-1933. Volk Verlag, München, S. 220-267. 

Schreiben der Geheimen Staatspolizei/Staatspolizeileitstelle München vom 17. Juli 1942 an Siegmund Hellmann und Carry Brachvogel (Monacensia).

Vernehmungsniederschrift/Zeugenaussage Feodora Brachvogel vom 28. Januar 1956 Staatsarchiv München, Polizeidirektion Nr. 1374/63).

Vernehmungsniederschrift/Zeugenaussage Feodora Brachvogel vom 28. Januar 1956 (Staatsarchiv München KD 2/II Tgb.Nr. 4702/55 - 63/64).