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Carry Brachvogel. Foto: Philipp Kester, FM-87-61-1014-9 (Münchner Stadtmuseum)

München, Ludwigstraße 33 (Carry Brachvogel)

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Das frühere Haus in der Ludwigstraße 17b, HB-XXIII-163 (c) Stadtarchiv München

Das Gebäude in der heutigen Ludwigstraße 33 stellt einen Erinnerungsort für die Münchner Schriftstellerin Carry Brachvogel dar. Es steht auch für die Kultur der literarischen Salons in München, von denen München weit ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts geprägt ist. Heute gehört das Gebäude zur Ludwig-Maximilians-Universität, in den Räumlichkeiten befindet sich das Institut für Statistik. Zu Carry Brachvogels Lebzeiten trug das Haus die Nummer 17b. Die frühere Hausnummer kann man noch heute im Stein über der Tür lesen.

1894 zieht Carry Brachvogel von der Brienner Straße 54, zu ihrer Mutter in die Ludwigstraße 17b, direkt neben das Münchner Siegestor. Dies scheint Symbolkraft gehabt zu haben. Ihr damaliger Förderer und Berater ist Ernst Freiherr von Wolzogen, der eine zentrale Stellung im Münchner Kulturbetrieb und Netzwerke im ganzen deutschen Reich besitzt. Er vermittelt sie auch zum S. Fischer Verlag, „damals der berühmte Verlag aller ‚Drangvollen‘“, wie Carry Brachvogel diesen selbst beschrieben hat. Bereits 1895 erscheint ihr Debütroman Alltagsmenschen in Berlin, mit dem sie zu einer in ganz Deutschland bekannten Schriftstellerin avanciert. Bis 1933 wird sie fortan nicht nur ein Star am bayerischen, sondern auch am deutschen Literaturhimmel sein.

Brachvogels Roman wird allseits hoch gepriesen. Ungewöhnliches Darstellungstalent, herausragende psychologische Scharfsichtigkeit, großes poetisches Können, bedeutende erzählerische Fähigkeiten werden ihr nachgesagt und eine große Karriere auf dem Gebiet der Sitten- und Charakterisierungskunst prophezeit. Obwohl sie erst einen Roman veröffentlicht hat, zählt Christian Morgenstern Brachvogel schon 1895, zu dem „vierblättrigen Kleeblatt moderner Frauenliteratur, das ich mir im Garten von S. Fischers Verlag in Berlin gepflückt“.

Am Siegestor eröffnet Carry Brachvogel 1894 einen literarischen Salon, der sich schnell einen Namen macht. Ernst Freiherr von Wolzogen hat den „Teetisch am Siegestor als bedeutenden Treffpunkt literarischen Lebens charakterisiert und die Schriftstellerin als charismatische Persönlichkeit beschrieben:

In München fand ich auch eine Art gesellschaftlich-künstlerische Anregung wieder, die ich seit meiner Weimarer Zeit recht sehr vermißt hatte, nämlich den literarischen Salon der geistvollen Dame [...]. Und wenige Jahre später tat die Witwe Wolfgang Brachvogels, die neuerdings zu verdientem Ansehen als Romanschriftstellerin gelangte, Carry Brachvogel, einen richtigen literarischen Salon auf, der wohl allen, die ihn häufig besuchten, in dankbarer Erinnerung geblieben ist. Die Dame des Hauses, als feingebildete Jüdin, voll gepfefferter Bosheit und schlagfertigem Geiste, war der starke Magnet, der sowohl Einheimische als zugereiste Gäste an den Teetisch am Siegestor lockte.

Carry Brachvogel hatte es nicht nötig mit der geschmacklosen Aufdringlichkeit von Berliner Emporkömmlingsgattinnen Berühmtheiten meuchlings anzufallen und in ihren Salon zu schleifen. Ihre Gäste wurden auch bei ihr nicht auf dem Präsentierteller herumgeboten oder gar auf der Zitronenpresse ausgequetscht, sondern sie durften sich ganz nach ihrem Gefallen geben, ja sogar auf Stumpfsinn posieren, wenn ihnen das Spaß machte. Frau Carry vergewaltigte niemanden, obwohl sie selten einen mit ihrer Bosheit verschonte. Ihr Trick bestand einfach darin, Widerspruch herauszufordern, dann platzten die Geister ganz von selbst aufeinander. Und je heftiger der Streit der Meinungen hin und her wogte, desto freier gingen die Geister aus sich heraus und zeigten sich von ihren besten Seiten. Im Salon der Brachvogel langweilte man sich niemals. Und da diese Tatsache sich bald herum gesprochen hatte, so bemühten sich die Leute von Geist und Talent selber um eine Einführung in den Salon, und die kluge Dame hatte es nicht nötig, ihnen nachzulaufen.

Viele bekannte Münchner Persönlichkeiten sind bei Brachvogel Gast, darunter Stammgäste Max Haushofer, Emma Merk und Marie Haushofer. Auch Rainer Maria Rilke, der Mitte der 1890er-Jahre nach München kommt, verkehrt in Carry Brachvogels Salon, wie er selbst schreibt:

Das eigentlich intime Künstlermünchen lernt man bei den sogenannten ‚Tees‘  kennen – auf den Referentensitzen kann man immer das scharfe Profil der Frau Carry Brachvogel entdecken, deren geistvolle Bosheit und deren treffenden Witz man an ihren Teeabenden genießen muß.

In Rilkes Gedichtband Advent findet sich unter „Freunden“ auch ein Gedicht, das er Carry Brachvogel gewidmet hat:

Frau Carry Brachvogel

Ein weisses Schloss in weisser Einsamkeit.
In blanken Sälen schleichen leise Schauer.
Totkrank krallt das Gerank sich an die Mauer,
Und alle Wege weltwärts sind verschneit.

Darüber hängt der Himmel brach und breit.
Es blinkt das Schloss. Und längs den weissen Wänden
Hilft sich die Sehnsucht fort mit irren Händen ...
Die Uhren stehn im Schloss: Es starb die Zeit.

(Rainer Maria Rilke. In: Advent. P. Friesenhahn, Leipzig, 1. Aufl., S. 27)

 


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Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Ingvild Richardsen

Sekundärliteratur:

Brachvogel, Carry (1895): Alltagsmenschen. S. Fischer, Berlin.

Richardsen, Ingvild (2018): Carry Brachvogel. In: Evas Töchter. Volk Verlag, München.