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Alfred Andersch, 1974 (Bayerische Staatsbibliothek/Timpe).

Volkartstraße 68: Volkartshof (richtig: Volkartbierhalle)

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München, Volkartstraße 68. Haus der einstigen „Volkartbierhalle“. Foto: Dirk Heißerer

Wohl auch als Gegenreaktion zur politischen Haltung des 1928 verstorbenen Vaters (vgl. Station 1) engagierte sich der 18-jährige Alfred Andersch bei den Jung-Kommunisten und wurde „Organisationsleiter des KJV Südbayern“.[41] Als Parteilokal benennt Andersch in den Kirschen der Freiheit, Kapitel 1, Teil 2, „Verschüttetes Bier“, das „Gasthaus ‚Volkartshof‘“,[42] das sich damals in der Volkartstraße 24 befand. Dieses Lokal (heute „Pardi“) war allerdings nicht das Parteilokal der Kommunisten, sondern seit dem 8. Mai 1931 bis zum 8. Juli 1932 das Versammlungslokal der örtlichen NSDAP![43] Die Kommunisten trafen sich dagegen von 1922 bis 1933 in der „Volkartsbierhalle“ (Adressbuch München 1923) an der Volkartstraße 68, einem frühen Parteilokal der USPD.[44]

Auch hier stellt sich die Frage, ob Andersch die Verwechslung absichtlich, etwa als Provokation, geplant hat oder ob sie ihm unabsichtlich unterlaufen ist. In der späten Franz-Kien-Geschichte „Lin aus den Baracken“ (1979) wird die „Volkartbierhalle“ als Kommunistentreff um 1932 in den „Leonrod-Hof“ verfremdet.[45] Eine Gaststätte mit diesem Namen gab es in Neuhausen allerdings nie.[46] Dass es sich dabei um die „Volkartbierhalle“ handelt, zeigt die Raumdarstellung im „trüben Wirtshauslicht“,[47] das so bereits in den Kirschen der Freiheit vorkommt: „Das Licht im Gasthaus ‚Volkartshof‘ war trüb.“[48] Der in Kirschen der Freiheit geschilderte Konflikt zwischen dem jungen Ästheten und seinen Büchern von Lenin und Upton Sinclair auf der einen Seite und den eher illiteraten Genossen auf der anderen ist auf jeden Fall unaufhebbar. In den ruhigen Alltag mit den Kindern, die am „Straßen-Ausschank [...] das Bier in Krügen für das Abendessen“[49] holten, platzt schließlich eine Saalschlacht, aus der Andersch wieder nur durch die Flucht, diesmal mit dem Fahrrad an den Walchensee, entkommt.

Eine ähnliche Vergeblichkeit, eine Unaufhebbarkeit der Gegensätze, wird auch im folgenden Teil 3 des ersten Kapitels, „In der Tasche geballt“, geschildert. Ein vor dem, von der SA besetzten, Gewerkschaftshaus an der Pestalozzistraße 40/42 (heute Neubau) ausrutschender Motorradfahrer der SA eröffnet kurz die Möglichkeit für ein Einschreiten und eine Änderung des Geschehens. Doch dieser Moment der Aktion bleibt aus, die Faust wird nur in der Tasche geballt, der Gegner behält die Oberhand. Andersch schildert das eigene Versagen als Beispiel für das historische Versagen der Linken im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Noch kurz vor seinem Tod hat er dieses Scheitern in einem Interview mit Jürg Acklin in einer rückwärtsgewandten Utopie so zusammengefasst: „Ich bin der Meinung, daß die kommunistische Partei im Jahre 1933 mit der Machtergreifung von Hitler den Bürgerkrieg hätte auslösen müssen. Sie hatte eine sehr schlagkräftige, paramilitärische Organisation, den ‚Rotfrontkämpferbund‘, die Sozialdemokraten eine paramilitärische Massenorganisation, das ‚Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold‘. Diese beiden Organisationen zusammen hätten gegen die SA kämpfen müssen. Und damit wäre die ganze Geschichte, ich bringe das immer wieder auf diese sehr zugespitzte Formulierung, ein Bürgerkrieg in Deutschland hätte der Welt einen Weltkrieg erspart.“[50]

 


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[41] Reinhardt, Andersch (wie Anm. 6), S. 36.

[42] KF (wie Anm. 1), S. 22f.

[43] Vgl. Baumann, Günther (2001): „Verschüttetes Bier“. Wirtshäuser in der Volkartstraße im politischen Kampf zwischen „links und rechts“. In: Neuhauser Werkstatt-Nachrichten, H. 6, Sommer, S. 23-25, hier S. 23.

[44] Ebda., S. 25; vgl. Reinhardt, Andersch (wie Anm. 6), S. 40; Weyerer, Dichtung und Wahrheit (wie Anm. 14), S. 31.

[45] Lin (wie Anm. 20), S. 48, 55.

[46] Von 1905 bis 1922 existierte die Gaststätte „Leonrod“ in der Leonrodstraße 42. Das ist das noch heute bestehende Gebäude an der südwestlichen Ecke der Kreuzung Leonrod- / Albrechtstraße. Auskunft Franz Schröther, Geschichtswerkstatt Neuhausen, vom 12. August 2017.

[47] Lin (wie Anm. 20), S. 55.

[48] KF (wie Anm. 1), S. 22f.

[49] Ebda., S. 30.

[50] Zit. n. Heißerer, Offene Figuren (wie Anm. 12), S. 11; vgl. Alfred Andersch: Der Seesack. Aus einer Autobiographie (1977). In: Andersch, Lesebuch (wie Anm. 1), S. 93.

Verfasst von: Dr. Dirk Heißerer