Neustätterstraße – Marsplatz: Schulweg zum Wittelsbacher Gymnasium
Die Stationen seines Schulwegs zählt Andersch in seiner letzten Erzählung, der Franz-Kien-Geschichte Der Vater eines Mörders auf, die 1980 postum erschien. In dieser Schulgeschichte in der Tradition von Thomas Manns Buddenbrooks (1901) und Heinrich Manns Professor Unrat (1905) versteckt sich Andersch noch einmal hinter seiner Kunstfigur Franz Kien. Mit dem „Vater eines Mörders“ ist sein damaliger Direktor auf dem Wittelsbacher Gymnasium, Gebhard Himmler (1865-1936), der Vater des NS-Politikers und Massenmörders Heinrich Himmler (1900-1945), gemeint. In der Erzählung geht es um eine Griechisch-Stunde, in die der Direktor hereinplatzt und an deren Ende feststeht, dass Franz Kien nicht versetzt wird. Tatsächlich schloss Andersch die Untertertia mit drei Fünfen („ungenügend“) in Latein, Griechisch und Mathematik[27] und einer Vier („mangelhaft“) in Geschichte ab[28] und musste die Schule verlassen.
Der Münchner Rechtsanwalt Otto Gritschneder (1914-2005), einst Anderschs Schulkamerad am Wittelsbacher Gymnasium, hat wiederholt betont, dass dessen Darstellung des Direktors Gebhard Himmler als „Vater eines Mörders“ so nicht stimme; der Vater Heinrich Himmlers sei ganz anders gewesen. Überhaupt kenne er, Gritschneder, Andersch als einen großen Flunkerer, der es geschafft habe, aus seinem Schulheft einen Aufsatz vorzulesen, der da gar nicht drin gestanden habe, denn der faule Andersch habe einfach seine Hausaufgaben nicht gemacht.[29] Übersehen wurde dabei, dass es sich bei den Figuren in Der Vater eines Mörders um eine absichtliche Vertauschung von Person und Typus handelt, dass also in der Kunstfigur Franz Kien die konkrete Person des Schülers Andersch steckt, während die namentliche Person Gebhard Himmler als Vater eines Völkermörders zum Typus des unmenschlichen Pädagogen stilisiert wird. Zudem lässt sich Gebhard Himmler durchaus, wie das Walther Habersetzer anschaulich dargestellt hat, als äußerst fragwürdiger „Zuchtmeister“ verstehen.[30] Es ist also nicht alles gleich falsch, wenn es bei Andersch nicht ‚stimmt‘.
Für Franz Kien hat das schulische Unglück immerhin das eine Gute, dass er fortan den Schulweg, den „langen öden Weg“ nicht mehr zu gehen braucht: „von Neuhausen zum Marsplatz, die Juta- und die Alphonsstraße, die Nymphenburgerstraße und die Blutenburgstraße bis zu dem Kasernen- und Brauereiviertel um den Marsplatz, die Artillerie-Kaserne und die Hacker-Brauerei, lauter öde Straßen“.[31]
Was das „Kasernenviertel“ angeht so handelt es sich um die einstige Kadettenanstalt, die, zusammen mit der Kriegsakademie und der Kriegsschule, zu den Militärbildungsanstalten an der Nordseite des heutigen Marsplatzes gehörte (jetzt großes Gebäude der Telekom); diese drei Gebäude nahmen das gesamte Areal zwischen dem Marsplatz und der Blutenburgstraße ein. Dazu kam die Marsfeldkaserne I (heute Finanzamt), in der das 1. Infanterie-Regiment stationiert war, sie stand zwischen der Arnulfstraße und dem Marsplatz. In der Marsfeldkaserne II, zwischen Blutenburgstraße und Marsplatz (heute Landeskriminalamt) war das 1. Fuß-Artillerie-Regiment stationiert.[32] Nur bei der Brauerei hat sich Andersch geirrt. Nördlich des Zirkus Krone steht die Spatenbrauerei; die Hackerbrauerei lag südlich der Eisenbahngleise am Südende der Hackerbrücke.[33]
Zur Station 4 von 11 Stationen
[27] Vgl. Reinhardt, Andersch (wie Anm. 6), S. 27-29.
[28] Vgl. ebda., S. 28 sowie die Abb. des Jahreszeugnisses für Alfred Andersch jun. vom 20. März 1928 in: Walther Habersetzer: So unrecht hatte Alfred Andersch nicht – der „Zuchtmeister“ Gebhard Himmler (OStD von 1922 bis 1930) (hinfort zitiert: Habersetzer, So unrecht hatte Alfred Andersch nicht). In: Ders. (1997): Ein Münchner Gymnasium in der NS-Zeit. Die verdrängten Jahre des Wittelsbacher Gymnasiums. Ein Beitrag der Geschichtswerkstatt Neuhausen e.V. zum 90jährigen Bestehen. München, S. 7-22, hier S. 21.
[29] Vgl. Reinhardt, Andersch (wie Anm.6), S. 27; 640, Anm. 35.
[30] Vgl. Habersetzer, So unrecht hatte Alfred Andersch nicht (wie Anm. 28).
[31] Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders. Eine Schulgeschichte (1980) (hinfort zitiert: VM). Zürich 1982, S. 119.
[32] Auskunft Franz Schröther, Geschichtswerkstatt Neuhausen, vom 11. August 2017.
[33] Ebda.
Die Stationen seines Schulwegs zählt Andersch in seiner letzten Erzählung, der Franz-Kien-Geschichte Der Vater eines Mörders auf, die 1980 postum erschien. In dieser Schulgeschichte in der Tradition von Thomas Manns Buddenbrooks (1901) und Heinrich Manns Professor Unrat (1905) versteckt sich Andersch noch einmal hinter seiner Kunstfigur Franz Kien. Mit dem „Vater eines Mörders“ ist sein damaliger Direktor auf dem Wittelsbacher Gymnasium, Gebhard Himmler (1865-1936), der Vater des NS-Politikers und Massenmörders Heinrich Himmler (1900-1945), gemeint. In der Erzählung geht es um eine Griechisch-Stunde, in die der Direktor hereinplatzt und an deren Ende feststeht, dass Franz Kien nicht versetzt wird. Tatsächlich schloss Andersch die Untertertia mit drei Fünfen („ungenügend“) in Latein, Griechisch und Mathematik[27] und einer Vier („mangelhaft“) in Geschichte ab[28] und musste die Schule verlassen.
Der Münchner Rechtsanwalt Otto Gritschneder (1914-2005), einst Anderschs Schulkamerad am Wittelsbacher Gymnasium, hat wiederholt betont, dass dessen Darstellung des Direktors Gebhard Himmler als „Vater eines Mörders“ so nicht stimme; der Vater Heinrich Himmlers sei ganz anders gewesen. Überhaupt kenne er, Gritschneder, Andersch als einen großen Flunkerer, der es geschafft habe, aus seinem Schulheft einen Aufsatz vorzulesen, der da gar nicht drin gestanden habe, denn der faule Andersch habe einfach seine Hausaufgaben nicht gemacht.[29] Übersehen wurde dabei, dass es sich bei den Figuren in Der Vater eines Mörders um eine absichtliche Vertauschung von Person und Typus handelt, dass also in der Kunstfigur Franz Kien die konkrete Person des Schülers Andersch steckt, während die namentliche Person Gebhard Himmler als Vater eines Völkermörders zum Typus des unmenschlichen Pädagogen stilisiert wird. Zudem lässt sich Gebhard Himmler durchaus, wie das Walther Habersetzer anschaulich dargestellt hat, als äußerst fragwürdiger „Zuchtmeister“ verstehen.[30] Es ist also nicht alles gleich falsch, wenn es bei Andersch nicht ‚stimmt‘.
Für Franz Kien hat das schulische Unglück immerhin das eine Gute, dass er fortan den Schulweg, den „langen öden Weg“ nicht mehr zu gehen braucht: „von Neuhausen zum Marsplatz, die Juta- und die Alphonsstraße, die Nymphenburgerstraße und die Blutenburgstraße bis zu dem Kasernen- und Brauereiviertel um den Marsplatz, die Artillerie-Kaserne und die Hacker-Brauerei, lauter öde Straßen“.[31]
Was das „Kasernenviertel“ angeht so handelt es sich um die einstige Kadettenanstalt, die, zusammen mit der Kriegsakademie und der Kriegsschule, zu den Militärbildungsanstalten an der Nordseite des heutigen Marsplatzes gehörte (jetzt großes Gebäude der Telekom); diese drei Gebäude nahmen das gesamte Areal zwischen dem Marsplatz und der Blutenburgstraße ein. Dazu kam die Marsfeldkaserne I (heute Finanzamt), in der das 1. Infanterie-Regiment stationiert war, sie stand zwischen der Arnulfstraße und dem Marsplatz. In der Marsfeldkaserne II, zwischen Blutenburgstraße und Marsplatz (heute Landeskriminalamt) war das 1. Fuß-Artillerie-Regiment stationiert.[32] Nur bei der Brauerei hat sich Andersch geirrt. Nördlich des Zirkus Krone steht die Spatenbrauerei; die Hackerbrauerei lag südlich der Eisenbahngleise am Südende der Hackerbrücke.[33]
Zur Station 4 von 11 Stationen
[27] Vgl. Reinhardt, Andersch (wie Anm. 6), S. 27-29.
[28] Vgl. ebda., S. 28 sowie die Abb. des Jahreszeugnisses für Alfred Andersch jun. vom 20. März 1928 in: Walther Habersetzer: So unrecht hatte Alfred Andersch nicht – der „Zuchtmeister“ Gebhard Himmler (OStD von 1922 bis 1930) (hinfort zitiert: Habersetzer, So unrecht hatte Alfred Andersch nicht). In: Ders. (1997): Ein Münchner Gymnasium in der NS-Zeit. Die verdrängten Jahre des Wittelsbacher Gymnasiums. Ein Beitrag der Geschichtswerkstatt Neuhausen e.V. zum 90jährigen Bestehen. München, S. 7-22, hier S. 21.
[29] Vgl. Reinhardt, Andersch (wie Anm.6), S. 27; 640, Anm. 35.
[30] Vgl. Habersetzer, So unrecht hatte Alfred Andersch nicht (wie Anm. 28).
[31] Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders. Eine Schulgeschichte (1980) (hinfort zitiert: VM). Zürich 1982, S. 119.
[32] Auskunft Franz Schröther, Geschichtswerkstatt Neuhausen, vom 11. August 2017.
[33] Ebda.