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Alfred Andersch, 1974 (Bayerische Staatsbibliothek/Timpe).

Neustätterstraße 6: Wohnhaus Familie Andersch

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München, Neustätterstraße 6. Im dritten Stock der Balkon der einstigen Wohnung der Familie Andersch. Foto: Dirk Heißerer

Einen ersten bewussten Lebensmoment vermittelt Andersch zu Beginn seines autobiographischen Berichts Die Kirschen der Freiheit (1952). Da steht der Fünfjährige im Frühjahr 1919 auf dem Balkon der elterlichen Wohnung in der Neustätterstraße 6/III und schaut hinab auf die Leonrodstraße. Es ist die Zeit der „Münchner Räterepublik“, oder besser deren Zerschlagung ab Mai 1919. Der Knabe sieht vom Balkon aus, wie „Menschen in langen Reihen die Leonrodstraße in München [...] in Richtung auf das Oberwiesenfeld zu“ geführt werden, „um [...] in den weiten Höfen, vor den Garagenwänden des ‚Kraftverkehr Bayern‘“, erschossen zu werden. Mit erhobenen Händen oder den Händen auf dem Kopf gehen „[l]ange Kolonnen“ vorüber, von Gewehrträgern bewacht.

 

München, Max-Joseph-Platz. Festgenommene Rotgardisten, 1919 (Bayerische Staatsbibliothek/Hoffmann).

„Sah das vom Balkon unserer Wohnung in einer Seitenstraße aus, aber verstand es damals noch nicht. ‚Das Gesindel‘, hörte ich meinen Vater hinter mir sagen, denn die Räterepublik war zu Ende, aber dann zog er mich doch weg. [...] Sah damals mit meinem fünfjährigen Kindergesicht über die Brüstung des Balkons hinweg auf sie hinab, aber wußte noch nicht, daß sie zum Erschießen geführt wurden, daß ich keinen von ihnen jemals kennenlernen würde.“[13] Ein starker Beginn, anschaulich authentisch und zugleich programmatisch. Allerdings gibt es hier eine Unstimmigkeit. So wurden die Garagen des „Kraftverkehr Bayern“ nachweislich erst 1925 eingerichtet[14] und waren noch 2015 als Theaterbühnen in Betrieb. Offen bleiben muss freilich, ob es sich hier um ein bewusstes oder ein unbewusstes Versehen handelt.

Der Vater, Alfred Andersch sen. (1875-1929), Buchhändler und Antiquar, ist kriegsversehrt und handelt bald darauf mit Immobilien, Lebensversicherungen und Torf. Er schließt sich 1920 der Deutschen Arbeiterpartei (DAP), der späteren NSDAP, an. Und am 9. November 1923 marschiert er beim Putschversuch von Hitler und Ludendorff in der ersten Reihe mit.[15] Sein Sohn Alfred Andersch jun. wird dagegen, nach gescheiterter Schullaufbahn, 1932, mit 18 Jahren, „Karriere im Kommunistischen Jugendverband“ machen und zum „Organisationsleiter“ für Südbayern aufsteigen.[16]

Andersch jun. ist der mittlere von drei Söhnen des Ehepaars Alfred und Hedwig Andersch, geb. Watzek (1884-1976). Seine Kindheit in Neuhausen zwischen der Beobachtung des Fünfjährigen im Frühjahr 1919 und dem Eintritt 1924 ins Wittelsbacher Gymnasium am Marsplatz, ist geprägt vom „Gefühl der Langeweile [...] zwischen den charakterlosen Fassaden der bürgerlichen Mietshäuser“ und einem Gefühl „faden Wartens“: „Meine damals schon bebrillten Augen blickten in eine Landschaft verwaschener Häuserfronten, toter Exerzierplätze, aus roten Ziegelwänden zusammengesetzter Kasernen; die Lacherschmied-Wiese war im Sommer ganz ausgedörrt und die Rufe der Fußballspieler drangen matt in das Zimmer, in dem ich lustlos an den Schularbeiten saß.“[17] Aus dieser Misere macht sich der Schüler Andersch mit dem Fahrrad nach Schleißheim auf, um dort den Park und im Schloss die Kunstsammlung zu besichtigen.[18]

Die „Exerzierplätze“ beziehen sich auf das großflächige Areal der einstigen Max-II-Kaserne,[19] das heutige Wohngebiet zwischen Leonrod- und Lazarett-, Dachauer- und Albrechtstraße. Von der „endlosen roten Backsteinmauer der Max II.-Kaserne“ ist an anderer Stelle, in der Franz-Kien-Geschichte „Lin aus den Baracken“ (1979), die Rede.[20]

München, Max-II-Kaserne, um 1900. Ansichtskarte, (c) Ulrich Moesslang, URL: http://www.moesslang.net/max_2_kaserne.htm

Aus dieser Zeit der „aus roten Ziegelwänden zusammengesetzte[n] Kasernen“ ist noch das Militärgefängnis an der Leonrodstraße erhalten. Auch die „Lacherschmied-Wiese“ ist heute verschwunden und von einer Wohnanlage überbaut. Die Lacherschmied- oder Lachenschmidwiese hatte ihren Namen vermutlich „von den Pächtern Rosina und Franz Lachenschmid, die von 1922 bis 1924 die Gaststätte ‚Augsburger Hof‘ in der Leonrodstraße, direkt neben der Wiese gelegen, betrieben haben“.[21] Die Lachenschmidwiese diente lange als Schneeabladeplatz und im Zweiten Weltkrieg als Löschteich.[22] Die Neustätterstraße wiederum hat ihren Namen nach dem jüdischen Ehepaar Rosa (1847-1892) und Sigmund Neustätter (1842-1900), die als „bedeutende Wohltätigkeitsstifter“ (Adressbuch München 1911) galten, weil sie 100.000 Mark für arme weibliche Patienten und Rekonvaleszenten gestiftet hatten.[23] Die Straße wurde 1907 benannt, 1937 in „Herrenreiterstraße“ umbenannt und 1947 wieder zurückbenannt.

München, Militärgefängnis (Verwaltungsbau) an der Leonrodstraße 51 (seit 1990 Freigängergebäude der Justitzvollzugsanstalt München). Foto: Dirk Heißerer.

München, Wohnanlage über der einstigen Lacherschmied / Lachenschmid-Wiese an der Leonrod- Ecke Rüthlingstraße. Foto: Dirk Heißerer

 


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[13] KF (wie Anm. 1), S. 9f.; den „Vorderbalkon“ identifiziert Reinhardt, Andersch (wie Anm. 6), S. 19.

[14] Vgl. Weyerer, Benedikt (2003): Dichtung und Wahrheit. Anmerkungen zu Alfred Anderschs Buch Die Kirschen der Freiheit. In: Neuhauser Werkstatt-Nachrichten, H. 10, Sommer (hinfort zitiert: Weyerer, Dichtung und Wahrheit), S. 30-32, hier S. 31.

[15] Reinhardt, Andersch (wie Anm. 6), S. 23f.

[16] Ebda., S. 36f. Herr Weiß, ein einstiger Spielgenosse Anderschs, bezeichnete ihn dem Verf. gegenüber anlässlich eines Vortrags in der Münchner Volkshochschule Neuhausen Anfang der 1990er-Jahre, in mündlicher Mitteilung als ein „Leitpferd“.

[17] KF (wie Anm. 1), S. 11.

[18] Ebda., S. 19f.

[19] Vgl. die Abb. in: Horn, Heinrich Horn; Karl, Willibald (21990): Neuhausen. Geschichte und Gegenwart. Hg. von Richard Bauer. München, S. 56, 106.

[20] Alfred Andersch: Lin aus den Baracken. In: Andersch, Lesebuch (wie Anm. 1) (hinfort abgekürzt: Lin); S. 48-56, hier S. 48. Mit diesen „Baracken“ ist das aus Holzbaracken bestehende „Reserve-Lazarett“ auf dem Oberwiesenfeld gemeint, das östlich vom Leonrodplatz entlang der Schwere-Reiter-Straße stand; dort entsteht derzeit das neue Justizzentrum. Auskunft Franz Schröther, Geschichtswerkstatt Neuhausen, vom 11. August 2017.

[21] Schröther, Franz (2003): Die Leonrodstraße – vom Rotkreuzplatz zum Oberwiesenfeld. In: Neuhauser-Werkstatt-Nachrichten, H. 10, Sommer, S. 5-8, hier S. 7.

[22] Mündliche Mitteilung Franz Schröther, Geschichtswerkstatt Neuhausen, vom 9. August 2017.

[23] Geschichtswerkstatt Neuhausen (Hg.) (2010): Von der „Aiblingerstraße“ bis „Zum Künstlerhof“. Die Straßennamen im Münchner Stadtteil Neuhausen-Nymphenburg. München, S. 152f.

Verfasst von: Dr. Dirk Heißerer