Tanja
... würde viel lieber zu Hause bleiben und dichten oder eine Bucket List schreiben. Aber Frau Schneider wartet.
Haben Sie jemals den Film “Das Beste kommt zum Schluss” gesehen? Der Film, in dem Jack Nicholson und Morgan Freeman eine Bucket List schreiben? Nein? Sie wissen gar nicht, was eine Bucket List ist? Naja, das ist eine Liste der Dinge, die man noch tun möchte, bevor man stirbt. Ist nicht erst seit dem Film ein echter Renner. Besonders bei Jugendlichen. Das können Sie nicht verstehen? Lassen Sie es sich von Tanja erklären. Tanja hat mindestens zehn Bucket Lists geschrieben. Sie ist sechszehn und kann sich das ganz gut vorstellen mit dem Tod, und dass man davor nochmal alles machen will, zu dem man nie gekommen ist. Wenn ihr ein Arzt morgen sagen würde, dass sie noch ein Jahr zu leben hat, würde es Tanja nichts weiter ausmachen. Sie würde ihre neueste Bucket List zücken und die abarbeiten, alle fünfzig Sachen, die da draufstehen. Oder beinahe. Tanja will fünfzig Punkte auf der Liste haben, wie in „Das Beste kommt zum Schluss“. Vielleicht sogar hundert. Sie ist schließlich beweglicher, kreativer, besser informiert darüber, was es Tunswertes gibt auf der Welt, schlicht und einfach jünger als die zwei Opas in dem Film. Ihr werden schon noch mehr Sachen einfallen, mit denen sie ihre Bucket List erweitern kann.
Tanja reißt das Blatt aus ihrem Matheheft, faltet es zusammen und steckt es in ihre Manteltasche. Sie wird sich später darum kümmern. Heute ist Dienstag. Da hat sie ihre Verabredung mit Frau Schneider. Stöhn. Das war noch in ihrer Weltverbesserungsphase. Aus der ist sie längst rausgewachsen, aber irgendwie schafft sie es doch nie bei Frau Schneider anzurufen und ihr zu sagen, dass sie nächsten Dienstag nicht auf sie warten muss. Deshalb muss sie sich zusammenreißen. Und vielleicht fällt ihr im Englischen Garten irgendwas Neues ein, das sie in die Liste aufnehmen kann. Oder die Muse küsst sie und gibt ihr die Idee zu einem neuen Gedicht. Tanja dichtet gerne. Über ernste Sachen, sie ist schließlich kein Kleinkind mehr. Eines Tages wird jemand sie entdecken und ihr sagen, dass sie für seine Band schreiben sollte. Das weiß sie. Ein Mann in schwarzer Lederjacke und schwarzer Jeans. Vielleicht ein Piercing in der Augenbraue. Auf jeden Fall ein Tattoo. Irgendwo an einem verbotenen Platz, den er nur ihr zeigen wird... Sie muss jetzt aber echt gehen.
Sie rennt die knarrende Holztreppe runter und versucht den Alte-Menschengeruch aus dem Appartement im Parterre zu ignorieren. Muffig. Gruft, denkt Tanja. Draußen auf der Herzogstraße schneidet ihr die Kälte in die Knochen. Tanja saugt sich die Januarluft in die Lungen. Eisluft schneidet meine Blutbahn, entfacht meine Raserei, meinen Wahn, meine Lust, oh Luft, denkt sie. Das klingt gut. Das muss sie sich merken. Sie schlägt den Kragen ihres Wintermantels hoch, umfasst ihn mit einer Hand – so poetisch – und stemmt sich gegen den Wind, der ihr von der Leopoldstraße entgegenbläst. Sie hofft, dass im Mocca irgendjemand sitzt, den sie kennt, damit sie zu denen sagen kann: „Ich hab grad keine Zeit, würd mich ja gern zu euch setzen, sieht aus, als ob ihr’s verdammt gemütlich habt, aber kann nicht, ich muss zu meiner alten Dame, die auf ihr Gassigehen wartet.“ Und die anderen würden sie bewundern, dafür, dass sie sich so aufopfert und das so kurz vor der Matheschulaufgabe. Und sie könnte sagen: „Ne, ne, ich interessiere mich halt für alte Menschen, meine Frau ist auch voll lieb.“ Und die anderen würden wissen, dass sie das nur so sagt, weil sie eben ein guter Mensch ist. Tanja wirft sich im Schaufenster vom Asiamarkt einen Blick zu. Sie lässt ihre Mundwinkel schnell fallen. Sie darf nicht zu glücklich aussehen, sonst werden die anderen merken, dass es ihr Spaß macht, für einen aufopfernden Menschen gehalten zu werden. Außerdem läuft kein Dichter grinsend durch München. Sie muss unglücklich aussehen. Die Last des Gewissens auf ihren Schultern. Kurz davor aufzugeben. So verdammt kurz davor. Das sieht besser aus.
Aber vor dem Mocca hockt niemand. Tanja atmet aus und hört auf, ihre Backen einzusaugen, um etwas verhungerter auszusehen. Aus der Siegfriedstraße kommt ihr ein zweiter Windstrom entgegen und sie taumelt etwas. Eine Taube eilt verwirrt zwischen den schwarzen Baumstämmen und dem Straßenschild, an dem ein kaputtes Fahrrad angekettet ist, umher. Als Tanja auf sie zukommt schwirrt sie davon. Ich hoffe, dass du überfahren wirst, Schmutztaube, denkt Tanja. Ihre Backen schmerzen vom Wind, sind bestimmt total rot, wie peinlich. Im Schaufenster der Apotheke steht ausgerechnet Rotbäckchen-Saft. Nein, danke. Eher würde Tanja verrecken. Hoffentlich kommt ihre Mutter nie wieder auf die Idee, ihr Rotbäckchen-Saft zu kaufen. Sie hat Tanja echt eine Flasche zu der Weihnachtsfeier in Deutsch eingepackt. Das wird Tanja nie vergessen. Sie konnte schließlich nicht damit rechnen, dass ihre Mutter so etwas einpackt, wenn sie sagt: „Wir haben morgen Weihnachtsfeier in Deutsch und ich hab versprochen, ich bring was zu trinken mit. Mama, kannst du mir was einpacken?“ Damit hatte sie Kaffee gemeint. Nicht Kleinkindsaft. Mütter. Die gehen echt nicht mit der Zeit.
Im ABC läuft nichts Interessantes. In der Vanilla Lounge sitzen ein paar coole Menschen und lunchen Häppchen. Aber auch nicht weiter interessant. Tanja beschließt, dass Frau Schneider ein bisschen warten kann. Sie braucht jetzt erst mal Koffein. Und überhaupt, ist ja nicht so, dass Frau Schneider wichtigere Dinge zu tun hätte, als auf Tanja zu warten. Das Nagelstudio hat heute mal wieder keine Kunden. Dabei hat es erst letztes Jahr aufgemacht, glaubt Tanja. Im Schaufenster liegen bunte Nageldesigns. Tanja besitzt genau zwei Nagellacke: einen kaugummirosafarbenen, den sie sich vor zwei Jahren gekauft hat, und einen schwarzen, den sie sich zu Weihnachten gewünscht hatte und jetzt jede Woche neu aufstreicht. Im Café Macchiato ist es warm. Es riecht nach Kaffeebohnen und intellektuellen Gesprächen. Ein paar Gymnasiallehrer sitzen an der Theke, ihre Schüler im Nebenraum. Die Lehrer kümmern sich nicht weiter, dass die Schüler sich zurufen: „Hey, lass mich mal Latein abschreiben.“ Ein Mädchen kichert schüchtern in die Richtung der Lehrer und flüstert ihrer Freundin etwas ins Ohr. Die lacht auch. Tanja kennt sie aus der Schule, sie ist sich nicht ganz sicher, ob sie in ihr Gymnasium gehen oder in das, mit dem sie ihren Pausenhof teilt. Sicherheitshalber lächelt sie ihnen nicht zu. Bei der Studentin hinter der Bar bestellt Tanja sich einen Cappucino To Go. Sie fragt „Sojamilch?“ und Tanja sagt „Ja“, obwohl sie das noch nie probiert hat. Klingt aber cool. Tanja bezahlt. Sie wartet und starrt die Bilder an den Wänden an. Schwarz, braun, grau, düster. Wie ihr eigenes Leben, denkt sie. Sie hasst die Schüler dafür, dass sie so ausgelassen sind. Wenn die wüssten, dass eine echte Dichterin unter ihnen wandelt. Der Kaffee pfeift aus der Röhre in einen Styroporbecher. Ohne Label. Cool. „Danke“, sagt Tanja und wirft ein zwanzig Cent Stück in den Trinkgeldbecher auf der Theke. Sie fühlt sich erwachsen. Mit dem Kaffee in der Hand ist es draußen nicht mehr so kalt. Tanja muss nur aufpassen, dass die Flüssigkeit nicht durch die Trinköffnung schwappt und ihren Mantel ruiniert. Als sie die Treppe zur U-Bahn runtergeht – die Rolltreppe funktioniert mal wieder nicht –, merkt sie, dass es fast unmöglich ist, Kaffee zu trinken und gleichzeitig Treppen abwärts zu steigen. Sie dreht sich um und wartet an der Herzogstraße auf eine grüne Ampel. Die Autos lassen den geschmolzenen Schnee in den Rinnsteinen hochschwappen. Tanja überquert die Herzogstraße wartet darauf, dass endlich die andere Ampel grün wird. Die Bäume in der Leopoldstraße sind kahle Rutenbündel, deprimierend. Guter Gedichtstoff. Tanja verbrüht sich den Gaumen, als die Ampel endlich grün wird und sie von den Körpern hinter ihr auf die Straße gedrängt wird. Sie will „Hey!“ rufen, aber der Drängler ist schon weg. Im Karstadt spiegelt sich der graue Himmel, grau und niedrig wie eine schmutzige Federbettdecke. Tanja hat keine Lust mehr. Der Kaffee wirkt noch nicht. Sie sollte für die Matheschulaufgabe lernen. Im Kino Münchner Freiheit spielt derselbe Krempel wie im ABC. Frau Schneider würde wissen wollen, was gerade so lief. Was Tanja las. Was sie schrieb. Bei ihrem allerersten Treffen hatte Tanja Frau Schneider erzählt, dass sie eine Dichterin ist und seitdem lässt die nicht locker, fragt immer, was Tanjas neueste Projekte sind und so. Dabei versteht Frau Schneider Tanjas Ideen gar nicht. Frau Schneider hält Heyne und Rilke für große Dichter. Tanja verehrt Marilyn Manson. Sie verstehen, dass das manchmal zu Problemen führt? Was Tanja hasst, ist, dass Frau Schneider denkt, sie verstünde Tanja. Wie so eine Ersatzmutter. Frau Schneider erzählt Tanja von ihren Gedanken zu Leben und Tod, eines von Tanjas Lieblingsgedichtthemen. Frau Schneiders Freunde sterben alle. Einer nach dem anderen. Und Tanja will das alles gar nicht hören, sie schaltet meistens auf Durchzug, wenn Frau Schneider wieder von einer Beerdigung im Freundeskreis erzählt. Oder am Schlimmsten von ihrem toten Mann. Das will Tanja echt nicht wissen.
Das rote Gebäude mit dem „Fitness“-Schild und dem italienischen Restaurant im Erdgeschoß wirkt heute fahl, als ob es einen neuen Anstrich bräuchte. In dem Klamottenladen daneben sieht Tanja ein Kleid, das ihr gefällt. Der Preis gefällt ihr nicht so. Vorm Starbucks bleibt sie eine Sekunde lang stehen und schlürft demonstrativ aus ihrem logolosen Styroporbecher. Aber die Leute im Starbucks bemerken sie nicht. Die im McDonalds auch nicht. Der Brunnen auf dem Wedekindplatz mit Brettern bedeckt, festgenagelt. Im Sommer hat Tanja hier eine tote Ratte schwimmen gesehen. Ihr wird schlecht. Sie ist zu spät. Sie geht schneller, an der Gummizelle vorbei, am Pasta e Basta, am Butterbrot, und sie kann schon die Baumskelette im Englischen Garten sehen. Sie biegt in die Gunezrainerstraße ein und rennt um die Kurve. Der Maibaum auf der rechten Seite ragt drohend in den Himmel. Lauf schneller, sagt er. Vor dem Kiosk knurrt sie ein Hund an, aber dessen Herrchen lächelt. Tanja entspannt sich ein bisschen. Frau Schneider wird schon nicht wegrennen. Sie sollte sich ein paar Sachen ausdenken, die sie Frau Schneider erzählen kann. Tanjas Schuhe bleiben bei jedem Schritt im Schneeschlammmix hängen. Fahrradreifen, Hunde und andere Menschen vor ihr haben die Parkwege in diesen Brei verwandelt. „Sind Sie gut hierhergekommen, Frau Schneider? Wollen Sie bei diesem Wetter durch den Park laufen? Wie jede Woche?“ Sie wird es wollen. Sie ist eine tapfere alte Dame. Und es geht ihr eigentlich gar nicht so schlecht. „Wie geht es Ihnen heute, Frau Schneider?“ Sie wird es nicht zugeben wollen. Sie sagt jeden Dienstag „Es geht mir wie immer, Tanja. Ich werde älter, Tanja.“ Und sie klingt so leidend. Das nervt Tanja. Tanja glaubt, dass Frau Schneider sich zusammenreißen sollte. Hin und wieder sagt Frau Schneider sogar „Ich kann nicht mehr nur warten, Tanja.“ Darauf hat Tanja keine Antwort. Was soll sie auch dazu sagen? „Ich will nicht mehr aufs Alleinsein warten, Tanja.“ Aber meistens hört Frau Schneider dann wieder auf, in diesem Tonfall zu reden. „Was hast du denn in dieser Woche erlebt, Tanja?“, fragt sie dann. Deshalb braucht Tanja eine gute Geschichte, die sie Frau Schneider erzählen kann. Sie könnte ihr von Markus erzählen. Wie seine Haare im Nacken langsam wachsen. Tanja beobachtet diese Haare jeden Tag. Wenn sie lang genug sind, um die Sonnenstrahlen aus dem Fenster einzufangen, geht Markus zum Friseur. Und dann kann Tanja ihnen wieder beim Wachsen zusehen. Sie hasst Sabrina dafür, dass sie Markus durch die Haare fahren darf. Tanja ist eifersüchtig. Deshalb kann sie Frau Schneider nichts von Markus erzählen. Sie will nicht, dass Frau Schneider von Markus Nacken weiß. Niemand soll etwas von Markus Nacken wissen. Der gehört Tanja. Der Kleinhesseloher See liegt ruhig und grün unter einer dünnen Eisschicht. Die Ufer sind schneebedeckt, fluffig. Eine Ente ist hiergeblieben. Tanja fragt sich, ob Enten überhaupt in den Süden fliegen. Die hier jedenfalls nicht. Die Ente folgt Tanja, watschelt und schielt zu ihr hinüber. Tanja steuert auf die Parkbank zu, auf der Frau Schneider seit zwei Jahren jeden Dienstag auf sie wartet, egal ob es regnet, schneit oder München unter einer Föhnwelle stöhnt.
Irgendwie sieht Tanja Frau Schneider nicht. Vielleicht liegt es an den dunklen Büschen hinter der Bank. Tanja kommt näher. Keine Frau Schneider. Vielleicht ist das die falsche Bank. Tanja glaubt das zwar nicht, aber warum sitzt da sonst keine Frau Schneider? Vielleicht hat Frau Schneider sich auf die falsche Bank gesetzt. Vielleicht ist Frau Schneider zu spät. Vielleicht ist sie schon gegangen. Tanja zückt ihr Handy. Scheiße, sie ist zehn Minuten zu spät. Warum musste sie auch Kaffee kaufen? Wo ist Frau Schneider? Ist sie echt gegangen? Hat sie nicht mehr auf Tanja gewartet? Nach nur zehn Minuten? Sie wartet sonst immer. Es ist nicht das erste Mal, dass Tanja zu spät ist. Nein, sie muss sich auf eine andere Bank gesetzt haben. Tanjas Schritte werden schneller. Sie rennt um den Kleinhesseloher See. Denkmal. Biergarten. Bank. Bank. Leer. Leer. Leer. Leer!
Das ist wieder die gleiche Bank. Wo ist Frau Schneider? Tanja darf jetzt nicht ausflippen. Frau Schneider ist zu spät. Ganz einfach. Tanja rennt noch einmal um den Kleinhesseloher See, weil sie es nicht glaubt. Nichts. Keine Frau Schneider. Wo ist Frau Schneider? Wo sind Sie, Frau Schneider? Tanja sucht nach Frau Schneiders Telefonnummer in ihrem Handy. Die muss sie doch gespeichert haben. Okay. Ruhig. Da ist die Nummer. Tanja lässt es klingeln, bis der Anrufbeantworter rangeht. Tanja war dabei, als Frau Schneider sich ein neues Telefon beim Karstadt am Hauptbahnhof gekauft hat. Sie hat ihr den Tipp mit der männlichen Stimme gegeben. Sie hasst die männliche Stimme. Sie will mit Frau Schneider sprechen! Wo ist Frau Schneider? Was, wenn sie ausgerutscht ist? Irgendwo liegt und Hilfe braucht?
Wie kann Tanja Frau Schneider finden?
Der Sozialdienst. So hat Tanja Frau Schneider damals gefunden. Über die Website von „Engel“ oder so was. Junge Menschen treffen alte Menschen. Helfen. Lesen ihnen vor. Tanja hatte nicht damit gerechnet, dass ihre alte Frau spazieren gehen will.
Tanja googelt den Sozialdienst. Da! Sie ruft die Telefonnummer auf „Kontakt“ an.
„Wo ist Frau Schneider?“
Frau Schneider ist am Freitag in der Aussegnungshalle vom Nordfriedhof. Frau Schneider wartet nicht mehr.
Tanja sitzt auf der Parkbank. Sie zieht die Bucketlist aus der Tasche und zerreißt sie in kleinstmögliche Fetzen. Die Fetzen lösen sich im Matsch auf. Die Ente hat Tanja eingeholt und isst sie letzten Papierreste.
Den ganzen Spaziergang auf der Karte verfolgen ...
... würde viel lieber zu Hause bleiben und dichten oder eine Bucket List schreiben. Aber Frau Schneider wartet.
Haben Sie jemals den Film “Das Beste kommt zum Schluss” gesehen? Der Film, in dem Jack Nicholson und Morgan Freeman eine Bucket List schreiben? Nein? Sie wissen gar nicht, was eine Bucket List ist? Naja, das ist eine Liste der Dinge, die man noch tun möchte, bevor man stirbt. Ist nicht erst seit dem Film ein echter Renner. Besonders bei Jugendlichen. Das können Sie nicht verstehen? Lassen Sie es sich von Tanja erklären. Tanja hat mindestens zehn Bucket Lists geschrieben. Sie ist sechszehn und kann sich das ganz gut vorstellen mit dem Tod, und dass man davor nochmal alles machen will, zu dem man nie gekommen ist. Wenn ihr ein Arzt morgen sagen würde, dass sie noch ein Jahr zu leben hat, würde es Tanja nichts weiter ausmachen. Sie würde ihre neueste Bucket List zücken und die abarbeiten, alle fünfzig Sachen, die da draufstehen. Oder beinahe. Tanja will fünfzig Punkte auf der Liste haben, wie in „Das Beste kommt zum Schluss“. Vielleicht sogar hundert. Sie ist schließlich beweglicher, kreativer, besser informiert darüber, was es Tunswertes gibt auf der Welt, schlicht und einfach jünger als die zwei Opas in dem Film. Ihr werden schon noch mehr Sachen einfallen, mit denen sie ihre Bucket List erweitern kann.
Tanja reißt das Blatt aus ihrem Matheheft, faltet es zusammen und steckt es in ihre Manteltasche. Sie wird sich später darum kümmern. Heute ist Dienstag. Da hat sie ihre Verabredung mit Frau Schneider. Stöhn. Das war noch in ihrer Weltverbesserungsphase. Aus der ist sie längst rausgewachsen, aber irgendwie schafft sie es doch nie bei Frau Schneider anzurufen und ihr zu sagen, dass sie nächsten Dienstag nicht auf sie warten muss. Deshalb muss sie sich zusammenreißen. Und vielleicht fällt ihr im Englischen Garten irgendwas Neues ein, das sie in die Liste aufnehmen kann. Oder die Muse küsst sie und gibt ihr die Idee zu einem neuen Gedicht. Tanja dichtet gerne. Über ernste Sachen, sie ist schließlich kein Kleinkind mehr. Eines Tages wird jemand sie entdecken und ihr sagen, dass sie für seine Band schreiben sollte. Das weiß sie. Ein Mann in schwarzer Lederjacke und schwarzer Jeans. Vielleicht ein Piercing in der Augenbraue. Auf jeden Fall ein Tattoo. Irgendwo an einem verbotenen Platz, den er nur ihr zeigen wird... Sie muss jetzt aber echt gehen.
Sie rennt die knarrende Holztreppe runter und versucht den Alte-Menschengeruch aus dem Appartement im Parterre zu ignorieren. Muffig. Gruft, denkt Tanja. Draußen auf der Herzogstraße schneidet ihr die Kälte in die Knochen. Tanja saugt sich die Januarluft in die Lungen. Eisluft schneidet meine Blutbahn, entfacht meine Raserei, meinen Wahn, meine Lust, oh Luft, denkt sie. Das klingt gut. Das muss sie sich merken. Sie schlägt den Kragen ihres Wintermantels hoch, umfasst ihn mit einer Hand – so poetisch – und stemmt sich gegen den Wind, der ihr von der Leopoldstraße entgegenbläst. Sie hofft, dass im Mocca irgendjemand sitzt, den sie kennt, damit sie zu denen sagen kann: „Ich hab grad keine Zeit, würd mich ja gern zu euch setzen, sieht aus, als ob ihr’s verdammt gemütlich habt, aber kann nicht, ich muss zu meiner alten Dame, die auf ihr Gassigehen wartet.“ Und die anderen würden sie bewundern, dafür, dass sie sich so aufopfert und das so kurz vor der Matheschulaufgabe. Und sie könnte sagen: „Ne, ne, ich interessiere mich halt für alte Menschen, meine Frau ist auch voll lieb.“ Und die anderen würden wissen, dass sie das nur so sagt, weil sie eben ein guter Mensch ist. Tanja wirft sich im Schaufenster vom Asiamarkt einen Blick zu. Sie lässt ihre Mundwinkel schnell fallen. Sie darf nicht zu glücklich aussehen, sonst werden die anderen merken, dass es ihr Spaß macht, für einen aufopfernden Menschen gehalten zu werden. Außerdem läuft kein Dichter grinsend durch München. Sie muss unglücklich aussehen. Die Last des Gewissens auf ihren Schultern. Kurz davor aufzugeben. So verdammt kurz davor. Das sieht besser aus.
Aber vor dem Mocca hockt niemand. Tanja atmet aus und hört auf, ihre Backen einzusaugen, um etwas verhungerter auszusehen. Aus der Siegfriedstraße kommt ihr ein zweiter Windstrom entgegen und sie taumelt etwas. Eine Taube eilt verwirrt zwischen den schwarzen Baumstämmen und dem Straßenschild, an dem ein kaputtes Fahrrad angekettet ist, umher. Als Tanja auf sie zukommt schwirrt sie davon. Ich hoffe, dass du überfahren wirst, Schmutztaube, denkt Tanja. Ihre Backen schmerzen vom Wind, sind bestimmt total rot, wie peinlich. Im Schaufenster der Apotheke steht ausgerechnet Rotbäckchen-Saft. Nein, danke. Eher würde Tanja verrecken. Hoffentlich kommt ihre Mutter nie wieder auf die Idee, ihr Rotbäckchen-Saft zu kaufen. Sie hat Tanja echt eine Flasche zu der Weihnachtsfeier in Deutsch eingepackt. Das wird Tanja nie vergessen. Sie konnte schließlich nicht damit rechnen, dass ihre Mutter so etwas einpackt, wenn sie sagt: „Wir haben morgen Weihnachtsfeier in Deutsch und ich hab versprochen, ich bring was zu trinken mit. Mama, kannst du mir was einpacken?“ Damit hatte sie Kaffee gemeint. Nicht Kleinkindsaft. Mütter. Die gehen echt nicht mit der Zeit.
Im ABC läuft nichts Interessantes. In der Vanilla Lounge sitzen ein paar coole Menschen und lunchen Häppchen. Aber auch nicht weiter interessant. Tanja beschließt, dass Frau Schneider ein bisschen warten kann. Sie braucht jetzt erst mal Koffein. Und überhaupt, ist ja nicht so, dass Frau Schneider wichtigere Dinge zu tun hätte, als auf Tanja zu warten. Das Nagelstudio hat heute mal wieder keine Kunden. Dabei hat es erst letztes Jahr aufgemacht, glaubt Tanja. Im Schaufenster liegen bunte Nageldesigns. Tanja besitzt genau zwei Nagellacke: einen kaugummirosafarbenen, den sie sich vor zwei Jahren gekauft hat, und einen schwarzen, den sie sich zu Weihnachten gewünscht hatte und jetzt jede Woche neu aufstreicht. Im Café Macchiato ist es warm. Es riecht nach Kaffeebohnen und intellektuellen Gesprächen. Ein paar Gymnasiallehrer sitzen an der Theke, ihre Schüler im Nebenraum. Die Lehrer kümmern sich nicht weiter, dass die Schüler sich zurufen: „Hey, lass mich mal Latein abschreiben.“ Ein Mädchen kichert schüchtern in die Richtung der Lehrer und flüstert ihrer Freundin etwas ins Ohr. Die lacht auch. Tanja kennt sie aus der Schule, sie ist sich nicht ganz sicher, ob sie in ihr Gymnasium gehen oder in das, mit dem sie ihren Pausenhof teilt. Sicherheitshalber lächelt sie ihnen nicht zu. Bei der Studentin hinter der Bar bestellt Tanja sich einen Cappucino To Go. Sie fragt „Sojamilch?“ und Tanja sagt „Ja“, obwohl sie das noch nie probiert hat. Klingt aber cool. Tanja bezahlt. Sie wartet und starrt die Bilder an den Wänden an. Schwarz, braun, grau, düster. Wie ihr eigenes Leben, denkt sie. Sie hasst die Schüler dafür, dass sie so ausgelassen sind. Wenn die wüssten, dass eine echte Dichterin unter ihnen wandelt. Der Kaffee pfeift aus der Röhre in einen Styroporbecher. Ohne Label. Cool. „Danke“, sagt Tanja und wirft ein zwanzig Cent Stück in den Trinkgeldbecher auf der Theke. Sie fühlt sich erwachsen. Mit dem Kaffee in der Hand ist es draußen nicht mehr so kalt. Tanja muss nur aufpassen, dass die Flüssigkeit nicht durch die Trinköffnung schwappt und ihren Mantel ruiniert. Als sie die Treppe zur U-Bahn runtergeht – die Rolltreppe funktioniert mal wieder nicht –, merkt sie, dass es fast unmöglich ist, Kaffee zu trinken und gleichzeitig Treppen abwärts zu steigen. Sie dreht sich um und wartet an der Herzogstraße auf eine grüne Ampel. Die Autos lassen den geschmolzenen Schnee in den Rinnsteinen hochschwappen. Tanja überquert die Herzogstraße wartet darauf, dass endlich die andere Ampel grün wird. Die Bäume in der Leopoldstraße sind kahle Rutenbündel, deprimierend. Guter Gedichtstoff. Tanja verbrüht sich den Gaumen, als die Ampel endlich grün wird und sie von den Körpern hinter ihr auf die Straße gedrängt wird. Sie will „Hey!“ rufen, aber der Drängler ist schon weg. Im Karstadt spiegelt sich der graue Himmel, grau und niedrig wie eine schmutzige Federbettdecke. Tanja hat keine Lust mehr. Der Kaffee wirkt noch nicht. Sie sollte für die Matheschulaufgabe lernen. Im Kino Münchner Freiheit spielt derselbe Krempel wie im ABC. Frau Schneider würde wissen wollen, was gerade so lief. Was Tanja las. Was sie schrieb. Bei ihrem allerersten Treffen hatte Tanja Frau Schneider erzählt, dass sie eine Dichterin ist und seitdem lässt die nicht locker, fragt immer, was Tanjas neueste Projekte sind und so. Dabei versteht Frau Schneider Tanjas Ideen gar nicht. Frau Schneider hält Heyne und Rilke für große Dichter. Tanja verehrt Marilyn Manson. Sie verstehen, dass das manchmal zu Problemen führt? Was Tanja hasst, ist, dass Frau Schneider denkt, sie verstünde Tanja. Wie so eine Ersatzmutter. Frau Schneider erzählt Tanja von ihren Gedanken zu Leben und Tod, eines von Tanjas Lieblingsgedichtthemen. Frau Schneiders Freunde sterben alle. Einer nach dem anderen. Und Tanja will das alles gar nicht hören, sie schaltet meistens auf Durchzug, wenn Frau Schneider wieder von einer Beerdigung im Freundeskreis erzählt. Oder am Schlimmsten von ihrem toten Mann. Das will Tanja echt nicht wissen.
Das rote Gebäude mit dem „Fitness“-Schild und dem italienischen Restaurant im Erdgeschoß wirkt heute fahl, als ob es einen neuen Anstrich bräuchte. In dem Klamottenladen daneben sieht Tanja ein Kleid, das ihr gefällt. Der Preis gefällt ihr nicht so. Vorm Starbucks bleibt sie eine Sekunde lang stehen und schlürft demonstrativ aus ihrem logolosen Styroporbecher. Aber die Leute im Starbucks bemerken sie nicht. Die im McDonalds auch nicht. Der Brunnen auf dem Wedekindplatz mit Brettern bedeckt, festgenagelt. Im Sommer hat Tanja hier eine tote Ratte schwimmen gesehen. Ihr wird schlecht. Sie ist zu spät. Sie geht schneller, an der Gummizelle vorbei, am Pasta e Basta, am Butterbrot, und sie kann schon die Baumskelette im Englischen Garten sehen. Sie biegt in die Gunezrainerstraße ein und rennt um die Kurve. Der Maibaum auf der rechten Seite ragt drohend in den Himmel. Lauf schneller, sagt er. Vor dem Kiosk knurrt sie ein Hund an, aber dessen Herrchen lächelt. Tanja entspannt sich ein bisschen. Frau Schneider wird schon nicht wegrennen. Sie sollte sich ein paar Sachen ausdenken, die sie Frau Schneider erzählen kann. Tanjas Schuhe bleiben bei jedem Schritt im Schneeschlammmix hängen. Fahrradreifen, Hunde und andere Menschen vor ihr haben die Parkwege in diesen Brei verwandelt. „Sind Sie gut hierhergekommen, Frau Schneider? Wollen Sie bei diesem Wetter durch den Park laufen? Wie jede Woche?“ Sie wird es wollen. Sie ist eine tapfere alte Dame. Und es geht ihr eigentlich gar nicht so schlecht. „Wie geht es Ihnen heute, Frau Schneider?“ Sie wird es nicht zugeben wollen. Sie sagt jeden Dienstag „Es geht mir wie immer, Tanja. Ich werde älter, Tanja.“ Und sie klingt so leidend. Das nervt Tanja. Tanja glaubt, dass Frau Schneider sich zusammenreißen sollte. Hin und wieder sagt Frau Schneider sogar „Ich kann nicht mehr nur warten, Tanja.“ Darauf hat Tanja keine Antwort. Was soll sie auch dazu sagen? „Ich will nicht mehr aufs Alleinsein warten, Tanja.“ Aber meistens hört Frau Schneider dann wieder auf, in diesem Tonfall zu reden. „Was hast du denn in dieser Woche erlebt, Tanja?“, fragt sie dann. Deshalb braucht Tanja eine gute Geschichte, die sie Frau Schneider erzählen kann. Sie könnte ihr von Markus erzählen. Wie seine Haare im Nacken langsam wachsen. Tanja beobachtet diese Haare jeden Tag. Wenn sie lang genug sind, um die Sonnenstrahlen aus dem Fenster einzufangen, geht Markus zum Friseur. Und dann kann Tanja ihnen wieder beim Wachsen zusehen. Sie hasst Sabrina dafür, dass sie Markus durch die Haare fahren darf. Tanja ist eifersüchtig. Deshalb kann sie Frau Schneider nichts von Markus erzählen. Sie will nicht, dass Frau Schneider von Markus Nacken weiß. Niemand soll etwas von Markus Nacken wissen. Der gehört Tanja. Der Kleinhesseloher See liegt ruhig und grün unter einer dünnen Eisschicht. Die Ufer sind schneebedeckt, fluffig. Eine Ente ist hiergeblieben. Tanja fragt sich, ob Enten überhaupt in den Süden fliegen. Die hier jedenfalls nicht. Die Ente folgt Tanja, watschelt und schielt zu ihr hinüber. Tanja steuert auf die Parkbank zu, auf der Frau Schneider seit zwei Jahren jeden Dienstag auf sie wartet, egal ob es regnet, schneit oder München unter einer Föhnwelle stöhnt.
Irgendwie sieht Tanja Frau Schneider nicht. Vielleicht liegt es an den dunklen Büschen hinter der Bank. Tanja kommt näher. Keine Frau Schneider. Vielleicht ist das die falsche Bank. Tanja glaubt das zwar nicht, aber warum sitzt da sonst keine Frau Schneider? Vielleicht hat Frau Schneider sich auf die falsche Bank gesetzt. Vielleicht ist Frau Schneider zu spät. Vielleicht ist sie schon gegangen. Tanja zückt ihr Handy. Scheiße, sie ist zehn Minuten zu spät. Warum musste sie auch Kaffee kaufen? Wo ist Frau Schneider? Ist sie echt gegangen? Hat sie nicht mehr auf Tanja gewartet? Nach nur zehn Minuten? Sie wartet sonst immer. Es ist nicht das erste Mal, dass Tanja zu spät ist. Nein, sie muss sich auf eine andere Bank gesetzt haben. Tanjas Schritte werden schneller. Sie rennt um den Kleinhesseloher See. Denkmal. Biergarten. Bank. Bank. Leer. Leer. Leer. Leer!
Das ist wieder die gleiche Bank. Wo ist Frau Schneider? Tanja darf jetzt nicht ausflippen. Frau Schneider ist zu spät. Ganz einfach. Tanja rennt noch einmal um den Kleinhesseloher See, weil sie es nicht glaubt. Nichts. Keine Frau Schneider. Wo ist Frau Schneider? Wo sind Sie, Frau Schneider? Tanja sucht nach Frau Schneiders Telefonnummer in ihrem Handy. Die muss sie doch gespeichert haben. Okay. Ruhig. Da ist die Nummer. Tanja lässt es klingeln, bis der Anrufbeantworter rangeht. Tanja war dabei, als Frau Schneider sich ein neues Telefon beim Karstadt am Hauptbahnhof gekauft hat. Sie hat ihr den Tipp mit der männlichen Stimme gegeben. Sie hasst die männliche Stimme. Sie will mit Frau Schneider sprechen! Wo ist Frau Schneider? Was, wenn sie ausgerutscht ist? Irgendwo liegt und Hilfe braucht?
Wie kann Tanja Frau Schneider finden?
Der Sozialdienst. So hat Tanja Frau Schneider damals gefunden. Über die Website von „Engel“ oder so was. Junge Menschen treffen alte Menschen. Helfen. Lesen ihnen vor. Tanja hatte nicht damit gerechnet, dass ihre alte Frau spazieren gehen will.
Tanja googelt den Sozialdienst. Da! Sie ruft die Telefonnummer auf „Kontakt“ an.
„Wo ist Frau Schneider?“
Frau Schneider ist am Freitag in der Aussegnungshalle vom Nordfriedhof. Frau Schneider wartet nicht mehr.
Tanja sitzt auf der Parkbank. Sie zieht die Bucketlist aus der Tasche und zerreißt sie in kleinstmögliche Fetzen. Die Fetzen lösen sich im Matsch auf. Die Ente hat Tanja eingeholt und isst sie letzten Papierreste.
Den ganzen Spaziergang auf der Karte verfolgen ...