Karl
... ist auf dem Weg ins Theater. Wie immer am Hochzeitstag. Nur leider alleine.
Karl tritt die Kupplung, schiebt den Schalthebel in den Leerlauf, zieht die Handbremse an und dreht den Zündschlüssel. Er hat es geschafft. Er lehnt den Hinterkopf an die Stütze und spürt, wie die Spannung seiner Muskeln nachlässt. Früher hat er sich über Hilde lustig gemacht. Auto fahren mache sie nervös. Er klappt die Blende mit dem Spiegel herunter. Alt ist er geworden. Viele Falten um die Augen. Aber der schicke Anzug passt ihm noch.
Den hat sie immer so bewundert. „Ach, was für ein schöner Mann!“, hat sie gesagt. Oft hat er ihn nicht angehabt. Aber fürs Theater, da hat er ihn immer aus dem Schrank gezogen. Und Hilde hat nie vergessen, ihn rechtzeitig in die Reinigung zu bringen, sodass er am Theaterabend sauber auf dem Bügel hing.
Karl streicht über die weinrote Krawatte, und hält sich die Spitze an die Nase. Wie oft hat er mit Hilde geschimpft, weil sie diese stinkenden Mottenkugeln in seinem Kleiderschrank versteckt hat. „Lieber stinkig als löchrig“, hat sie geantwortet. Jetzt saugt er den Geruch gierig ein.
Seit vier Jahren, zwölf Wochen und vier Tagen ist Hilde tot. Karl beugt das Kinn und schlägt die Lider auf. Energisch atmet er aus. Er hat zu tun. Aufmunternd piept ihm sein Auto hinterher, als er die Fernbedienung drückt. Parkplatz 123, Parkdeck 1, blaue Tür. Die Neuturmstraße umgibt ihn mit Enge und Dunkelheit. An der Ecke Hildegardstraße eine Frau. Sie lehnt mit der Stirn an der Scheibe und starrt in den dunklen Gastraum des Cafés. Die Kapuze ihres Webpelzmantels ist nach hinten gerutscht und fängt die letzten Schneeflocken auf. Aus ihrem Mund strömen kleine Nebel, die sich auf die Fensterscheibe schmiegen. Plötzlich dreht sie sich um und läuft auf die andere Straßenseite, vorbei am Hotel Mandarin. Fast bleibt sie mit der Schulter an ihm hängen, er sieht Panik in ihrem Gesicht. „Entschuldigung“, murmelt Karl und blickt ihr hinterher, wie sie hinter der Hausecke verschwindet. Karl tritt an die Fensterscheibe und versucht zu sehen, was die Frau so fasziniert hat. Doch da ist nichts, nur ein paar leere Tische mit Zuckerstreuern und eine schwach beleuchtete Bar. Die Hildegardstraße ist hell und farblos, der Schnee deckt alles zu. Karl bleibt vor dem Pralinengeschäft stehen. Mokka war ihre Lieblingssorte. Die Bäume an dem kleinen Platz sind mit Lämpchen geschmückt, die Statue davor ist dunkel, Schatten vor einem glitzernden Winterwald. Es riecht salzig, dann nach kalten Zigaretten. Als er in die Maximilianstraße tritt, hört es auf zu schneien. Der kalte Wind schleicht sich unter seinem Hut die Ohren hoch und wieder hinunter an seinem Nacken in den Kragen des Lodenmantels. Das Dröhnen der Straßenbahn schwillt an und vermischt sich mit dem Autolärm.
An ihrem Hochzeitstag haben Hilde und er immer Opernkarten gekauft. Hand in Hand sind sie vom Parkhaus zur Theaterkasse geschlendert. Hilde wollte den Spielplan nicht vorher sehen. Sich selbst überraschen.
„Achtung Dachlawine“ steht auf der Wand an der Ecke. Karl sieht nach oben. Keine Lawine. Zwischen den Pflastersteinen bilden die Zigarettenkippen und die Apfelreste ein Muster: Ein Pfeil nach rechts. Karl lächelt. Seine Hilde. Immer sendet sie ihm kleine Botschaften, verschlüsselte Hinweise aus dem Nichts. Er folgt dem Pfeil. Vor der Theaterkasse bleibt er stehen. Da sitzen sie, die freundlichen jungen Leute in ihrem hellen Glaskäfig. Noch nicht jetzt. Karl wird wiederkommen. Nach dem Spazierengehen.
Sie sind immer spazieren gegangen und haben sich ins Café gesetzt. Er will jetzt nicht an Hilde denken, er will geradeaus denken. Klar, geometrisch, glatt. So wie der Platz, der Marstall, so wie die Steinwürfel, die Fenster und die Dächer. Da ist sie wieder, seine Hilde. Sie winkt ihm durch die Straßenlaternen zu, diese eleganten, zerbrechlichen Wesen aus einer anderen Zeit. Bald wird der Wind auch sie umblasen und in den Himmel tragen. Über die Straße in den Hofgarten. Hier türmen sich Schneeberge, weiß und grau wie eine Bergkuppe. Wilder Kaiser. So gerne wollte sie mal wieder hin, wenigstens mit der Bergbahn nach oben.
Karl betritt den unbefestigten Weg. Sofort verlässt der Lärm seinen Körper. Da ist es, das freundliche Vogelgezwitscher. Die Stille tut ihm weh, der Schmerz drückt sich in den Hohlraum in seinem Bauch, er wird nach unten gepresst. Er schließt sie Augen. Versinken. In der Ruhe, in Hilde, in dem Nebel, in der Glocke, die über dem Platz zu liegen scheint. Hinter ihm rumpelt ein Rollkoffer, aus Richtung der Feldherrnhalle hupt es. Er ist noch da. Das Schild auf der Bank leuchtet, als die Sonne darauf scheint. Er folgt dem Strahl. „Für meine liebe Oma“ steht da. Hilde hätte sich darüber lustig gemacht. Oder? Karls Hände sind kalt und schmerzen. Er hat Hunger. Am Zaun gegenüber dem Herkulessaal spricht Hilde wieder zu ihm: lauter Notenschlüssel sieht er da, aufgereiht auf einer Linie aus braunem Metall. Ja Hilde, ich geh ja die Karten kaufen, lass mich doch erst mal was essen. Es ist 10:18. Ich geh ja schon. Durch den Bogen sieht und hört er die Autos auf der Brienner Straße. Als er durch das Tor tritt, muss er zur Seite springen. Ein Fahrrad rast an ihm vorbei. Ein alter Mann tritt wie wild in die Pedale. Er führt Selbstgespräche und keucht verwirrt. Nein, Karl wird nicht so enden. Hilde soll stolz auf ihn sein. Heute wird er den Löwen nicht die Bronzenase streicheln. Immer hat sie es getan, aber genutzt hat es doch nichts. Der junge Mann, der an ihm vorbei geht, spricht mit dem Mikrofon vor seinem Mund. Da ist er, der Geruch. Schmalzgebackenes. Karl kann es nicht mehr verhindern: die Tränen steigen ihm in die Augen. Fast blind läuft er die wenigen Schritte die Residenzstraße hinunter und bleibt vor dem Schaufenster stehen. Die Leuchtschrift vor Gold verspricht Kaffee Hag und Konditorei. Karl sieht Spiegel, Baisermandelberge, feinste Konditorwaren, hausgemachte Pralinen, seit 1825. In weißen Haushaltskleidern und weinroten Schürzen ordnen sie die Auslagen. Drinnen sitzt eine alte Frau mit einer weißen gehäkelten Haubenmütze, unter der lila ondulierte Haare hervorspitzen. Geschimpft hat sie, seine Hilde, wie man am Tisch denn eine Mütze anlassen kann, so alt sind sie doch noch nicht. Er geht auf den Eingang zu, will endlich hinein zu ihr, zu seinen Erinnerungen. Da ist plötzlich der Geruch weg. Ach Hilde, seufzt er, was du alles von mir willst.
In der Viscardigasse nimmt er die Geruchsspur wieder auf. Wirklich Hilde, da rein? Der Coffeeshop hat eine breite Glasfront, die Türen öffnen sich automatisch. Dunkelbrauner Boden, riesige weinrote Sessel, orange Strohhalme. Plötzlich setzt ein Wummern ein. Karl blickt um sich. Die Menschen scheinen das Wummern nicht zu hören. Er geht an der Theke vorbei und sieht sich suchend um. Keine Garderobe. Er legt den Mantel über die Sitzlehne ihm gegenüber. Immer noch beachtet niemand ihn oder die laute Musik. Der Plastikstuhl ist nicht so unbequem, wie er aussieht. Karl lacht laut. Die junge Frau sieht kurz durch ihn hindurch, dann starrt sie wieder auf ihren Bildschirm. Die daneben blättert ihre Zeitungsseite um. Hinter ihm sitzen zwei Frauen mit drei Kinderwagen. Eine dritte balanciert ein Tablett mit fünf bunten Bechern auf den Tisch zu.
Hilde und er saßen meistens am Fenster. Er trank Schwarz, Hilde nahm drei Stück Zucker. „Am Hochzeitstag mag ich es süß“, sagte sie jedes Jahr, obwohl sie ihren Kaffee immer gesüßt trank. Wenn sie nur da wäre, seine wunderschöne, liebe, abenteuerlustige Frau. Karl schluckt, strafft die Schultern, zwingt sich zu einem Lächeln und geht zurück an der Theke entlang. Selbstbedienung. Verstohlen blickt er an die Wand hinter den beiden Kellnern. Er sucht auf der Speisekarte nach schwarzem Kaffee, Filterkaffee, Kännchen oder Tasse; oder nach einem Kuchen, den würde er sich heute sogar gönnen. Vor ihm wird die Menschenschlange immer kürzer. Karl wird nervös. Ein Kunde nach dem nächsten bestellt leichtzüngig die eine oder andere Kaffeespezialität. Leider kann er nicht hören, was sie sagen. Sie bezahlen und gehen zum nächsten Kellner durch. Anscheinend muss man hier nicht nur bestellen, sondern sich sein Getränk auch noch selbst abholen.
Ach Hilde! Bei ihren Urlauben nach Italien war sie diejenige gewesen, die im Restaurant das Essen bestellte. Und wie oft mussten sie lachen, weil sie eigentlich gar nicht wussten, was Hilde bestellt hatte, bis der Cameriere die dampfenden Teller vor ihnen abstellte.
„Was darf’s denn sein?“ Die dunkelhaarige Frau blickt ihn freundlich an. Karl räuspert sich.
„Haben Sie Kaffee?“, stammelt er leise. Da spürt er, wie sich eine warme Hand in seine schiebt. Fast fühlt sie sich an wie Hildes Hand. Es ist das kleine Mädchen, das neben ihm steht und ihn freundlich anlächelt. Karl lächelt zurück und schaut der Kellnerin in die Augen. „Also, einen großen Kaffee, schwarz, bitte!“. Die Kellnerin mustert ihn, dann ruft sie hinter sich „Large coffee black for here, please“. Das Mädchen lässt seine Hand los und schaut Karl in die Augen. „Du siehst aus wie mein Opa und der kennt sich auch nicht aus.“
„Zwei Euro achtzig“, sagt die Tresenfrau zu Karl, „setzen Sie sich, ich bringe Ihnen den Kaffee.“ Dankbar lächelt Karl ihr und dem Mädchen zu, bezahlt, gibt ein Trinkgeld und setzt sich auf seinen Stuhl. Die Musik wird leiser. Karl seufzt und schließt die Augen. Hilde zwinkert ihm zu. Jetzt kann er sie hören. „Du schaffst es“, sagt die schönste Stimme, die er je gehört hat. Danke, Hilde!
Den ganzen Spaziergang auf der Karte verfolgen ...
... ist auf dem Weg ins Theater. Wie immer am Hochzeitstag. Nur leider alleine.
Karl tritt die Kupplung, schiebt den Schalthebel in den Leerlauf, zieht die Handbremse an und dreht den Zündschlüssel. Er hat es geschafft. Er lehnt den Hinterkopf an die Stütze und spürt, wie die Spannung seiner Muskeln nachlässt. Früher hat er sich über Hilde lustig gemacht. Auto fahren mache sie nervös. Er klappt die Blende mit dem Spiegel herunter. Alt ist er geworden. Viele Falten um die Augen. Aber der schicke Anzug passt ihm noch.
Den hat sie immer so bewundert. „Ach, was für ein schöner Mann!“, hat sie gesagt. Oft hat er ihn nicht angehabt. Aber fürs Theater, da hat er ihn immer aus dem Schrank gezogen. Und Hilde hat nie vergessen, ihn rechtzeitig in die Reinigung zu bringen, sodass er am Theaterabend sauber auf dem Bügel hing.
Karl streicht über die weinrote Krawatte, und hält sich die Spitze an die Nase. Wie oft hat er mit Hilde geschimpft, weil sie diese stinkenden Mottenkugeln in seinem Kleiderschrank versteckt hat. „Lieber stinkig als löchrig“, hat sie geantwortet. Jetzt saugt er den Geruch gierig ein.
Seit vier Jahren, zwölf Wochen und vier Tagen ist Hilde tot. Karl beugt das Kinn und schlägt die Lider auf. Energisch atmet er aus. Er hat zu tun. Aufmunternd piept ihm sein Auto hinterher, als er die Fernbedienung drückt. Parkplatz 123, Parkdeck 1, blaue Tür. Die Neuturmstraße umgibt ihn mit Enge und Dunkelheit. An der Ecke Hildegardstraße eine Frau. Sie lehnt mit der Stirn an der Scheibe und starrt in den dunklen Gastraum des Cafés. Die Kapuze ihres Webpelzmantels ist nach hinten gerutscht und fängt die letzten Schneeflocken auf. Aus ihrem Mund strömen kleine Nebel, die sich auf die Fensterscheibe schmiegen. Plötzlich dreht sie sich um und läuft auf die andere Straßenseite, vorbei am Hotel Mandarin. Fast bleibt sie mit der Schulter an ihm hängen, er sieht Panik in ihrem Gesicht. „Entschuldigung“, murmelt Karl und blickt ihr hinterher, wie sie hinter der Hausecke verschwindet. Karl tritt an die Fensterscheibe und versucht zu sehen, was die Frau so fasziniert hat. Doch da ist nichts, nur ein paar leere Tische mit Zuckerstreuern und eine schwach beleuchtete Bar. Die Hildegardstraße ist hell und farblos, der Schnee deckt alles zu. Karl bleibt vor dem Pralinengeschäft stehen. Mokka war ihre Lieblingssorte. Die Bäume an dem kleinen Platz sind mit Lämpchen geschmückt, die Statue davor ist dunkel, Schatten vor einem glitzernden Winterwald. Es riecht salzig, dann nach kalten Zigaretten. Als er in die Maximilianstraße tritt, hört es auf zu schneien. Der kalte Wind schleicht sich unter seinem Hut die Ohren hoch und wieder hinunter an seinem Nacken in den Kragen des Lodenmantels. Das Dröhnen der Straßenbahn schwillt an und vermischt sich mit dem Autolärm.
An ihrem Hochzeitstag haben Hilde und er immer Opernkarten gekauft. Hand in Hand sind sie vom Parkhaus zur Theaterkasse geschlendert. Hilde wollte den Spielplan nicht vorher sehen. Sich selbst überraschen.
„Achtung Dachlawine“ steht auf der Wand an der Ecke. Karl sieht nach oben. Keine Lawine. Zwischen den Pflastersteinen bilden die Zigarettenkippen und die Apfelreste ein Muster: Ein Pfeil nach rechts. Karl lächelt. Seine Hilde. Immer sendet sie ihm kleine Botschaften, verschlüsselte Hinweise aus dem Nichts. Er folgt dem Pfeil. Vor der Theaterkasse bleibt er stehen. Da sitzen sie, die freundlichen jungen Leute in ihrem hellen Glaskäfig. Noch nicht jetzt. Karl wird wiederkommen. Nach dem Spazierengehen.
Sie sind immer spazieren gegangen und haben sich ins Café gesetzt. Er will jetzt nicht an Hilde denken, er will geradeaus denken. Klar, geometrisch, glatt. So wie der Platz, der Marstall, so wie die Steinwürfel, die Fenster und die Dächer. Da ist sie wieder, seine Hilde. Sie winkt ihm durch die Straßenlaternen zu, diese eleganten, zerbrechlichen Wesen aus einer anderen Zeit. Bald wird der Wind auch sie umblasen und in den Himmel tragen. Über die Straße in den Hofgarten. Hier türmen sich Schneeberge, weiß und grau wie eine Bergkuppe. Wilder Kaiser. So gerne wollte sie mal wieder hin, wenigstens mit der Bergbahn nach oben.
Karl betritt den unbefestigten Weg. Sofort verlässt der Lärm seinen Körper. Da ist es, das freundliche Vogelgezwitscher. Die Stille tut ihm weh, der Schmerz drückt sich in den Hohlraum in seinem Bauch, er wird nach unten gepresst. Er schließt sie Augen. Versinken. In der Ruhe, in Hilde, in dem Nebel, in der Glocke, die über dem Platz zu liegen scheint. Hinter ihm rumpelt ein Rollkoffer, aus Richtung der Feldherrnhalle hupt es. Er ist noch da. Das Schild auf der Bank leuchtet, als die Sonne darauf scheint. Er folgt dem Strahl. „Für meine liebe Oma“ steht da. Hilde hätte sich darüber lustig gemacht. Oder? Karls Hände sind kalt und schmerzen. Er hat Hunger. Am Zaun gegenüber dem Herkulessaal spricht Hilde wieder zu ihm: lauter Notenschlüssel sieht er da, aufgereiht auf einer Linie aus braunem Metall. Ja Hilde, ich geh ja die Karten kaufen, lass mich doch erst mal was essen. Es ist 10:18. Ich geh ja schon. Durch den Bogen sieht und hört er die Autos auf der Brienner Straße. Als er durch das Tor tritt, muss er zur Seite springen. Ein Fahrrad rast an ihm vorbei. Ein alter Mann tritt wie wild in die Pedale. Er führt Selbstgespräche und keucht verwirrt. Nein, Karl wird nicht so enden. Hilde soll stolz auf ihn sein. Heute wird er den Löwen nicht die Bronzenase streicheln. Immer hat sie es getan, aber genutzt hat es doch nichts. Der junge Mann, der an ihm vorbei geht, spricht mit dem Mikrofon vor seinem Mund. Da ist er, der Geruch. Schmalzgebackenes. Karl kann es nicht mehr verhindern: die Tränen steigen ihm in die Augen. Fast blind läuft er die wenigen Schritte die Residenzstraße hinunter und bleibt vor dem Schaufenster stehen. Die Leuchtschrift vor Gold verspricht Kaffee Hag und Konditorei. Karl sieht Spiegel, Baisermandelberge, feinste Konditorwaren, hausgemachte Pralinen, seit 1825. In weißen Haushaltskleidern und weinroten Schürzen ordnen sie die Auslagen. Drinnen sitzt eine alte Frau mit einer weißen gehäkelten Haubenmütze, unter der lila ondulierte Haare hervorspitzen. Geschimpft hat sie, seine Hilde, wie man am Tisch denn eine Mütze anlassen kann, so alt sind sie doch noch nicht. Er geht auf den Eingang zu, will endlich hinein zu ihr, zu seinen Erinnerungen. Da ist plötzlich der Geruch weg. Ach Hilde, seufzt er, was du alles von mir willst.
In der Viscardigasse nimmt er die Geruchsspur wieder auf. Wirklich Hilde, da rein? Der Coffeeshop hat eine breite Glasfront, die Türen öffnen sich automatisch. Dunkelbrauner Boden, riesige weinrote Sessel, orange Strohhalme. Plötzlich setzt ein Wummern ein. Karl blickt um sich. Die Menschen scheinen das Wummern nicht zu hören. Er geht an der Theke vorbei und sieht sich suchend um. Keine Garderobe. Er legt den Mantel über die Sitzlehne ihm gegenüber. Immer noch beachtet niemand ihn oder die laute Musik. Der Plastikstuhl ist nicht so unbequem, wie er aussieht. Karl lacht laut. Die junge Frau sieht kurz durch ihn hindurch, dann starrt sie wieder auf ihren Bildschirm. Die daneben blättert ihre Zeitungsseite um. Hinter ihm sitzen zwei Frauen mit drei Kinderwagen. Eine dritte balanciert ein Tablett mit fünf bunten Bechern auf den Tisch zu.
Hilde und er saßen meistens am Fenster. Er trank Schwarz, Hilde nahm drei Stück Zucker. „Am Hochzeitstag mag ich es süß“, sagte sie jedes Jahr, obwohl sie ihren Kaffee immer gesüßt trank. Wenn sie nur da wäre, seine wunderschöne, liebe, abenteuerlustige Frau. Karl schluckt, strafft die Schultern, zwingt sich zu einem Lächeln und geht zurück an der Theke entlang. Selbstbedienung. Verstohlen blickt er an die Wand hinter den beiden Kellnern. Er sucht auf der Speisekarte nach schwarzem Kaffee, Filterkaffee, Kännchen oder Tasse; oder nach einem Kuchen, den würde er sich heute sogar gönnen. Vor ihm wird die Menschenschlange immer kürzer. Karl wird nervös. Ein Kunde nach dem nächsten bestellt leichtzüngig die eine oder andere Kaffeespezialität. Leider kann er nicht hören, was sie sagen. Sie bezahlen und gehen zum nächsten Kellner durch. Anscheinend muss man hier nicht nur bestellen, sondern sich sein Getränk auch noch selbst abholen.
Ach Hilde! Bei ihren Urlauben nach Italien war sie diejenige gewesen, die im Restaurant das Essen bestellte. Und wie oft mussten sie lachen, weil sie eigentlich gar nicht wussten, was Hilde bestellt hatte, bis der Cameriere die dampfenden Teller vor ihnen abstellte.
„Was darf’s denn sein?“ Die dunkelhaarige Frau blickt ihn freundlich an. Karl räuspert sich.
„Haben Sie Kaffee?“, stammelt er leise. Da spürt er, wie sich eine warme Hand in seine schiebt. Fast fühlt sie sich an wie Hildes Hand. Es ist das kleine Mädchen, das neben ihm steht und ihn freundlich anlächelt. Karl lächelt zurück und schaut der Kellnerin in die Augen. „Also, einen großen Kaffee, schwarz, bitte!“. Die Kellnerin mustert ihn, dann ruft sie hinter sich „Large coffee black for here, please“. Das Mädchen lässt seine Hand los und schaut Karl in die Augen. „Du siehst aus wie mein Opa und der kennt sich auch nicht aus.“
„Zwei Euro achtzig“, sagt die Tresenfrau zu Karl, „setzen Sie sich, ich bringe Ihnen den Kaffee.“ Dankbar lächelt Karl ihr und dem Mädchen zu, bezahlt, gibt ein Trinkgeld und setzt sich auf seinen Stuhl. Die Musik wird leiser. Karl seufzt und schließt die Augen. Hilde zwinkert ihm zu. Jetzt kann er sie hören. „Du schaffst es“, sagt die schönste Stimme, die er je gehört hat. Danke, Hilde!
Den ganzen Spaziergang auf der Karte verfolgen ...