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Sonja

... war erstens durch das Training Leiden gewohnt und zweitens blieb ihr immer noch die Spülmaschine.

„Training gestartet. Einlaufen zehn Minuten. Kein Sollwert.“ Nüchtern blinkt Sonjas Pulsuhr die Worte in die morgendliche Dunkelheit der Implerstraße. Beim ersten Piepen läuft Sonja los. Ganz langsam, zum Warmwerden. An der HypoVereinsbank biegt sie rechts in die Oberländerstraße, wo es bei Bussone schon jetzt hundsgemein nach Kaffee und ofenwarmen Cornetti riecht. Sonja ignoriert die süße Versuchung. Mit einem regelmäßigen Pad-Pad-Pad federn ihre Laufschuhe über den Asphalt und Sonja lächelt. Sie liebt dieses leise Geräusch, mit dem ihre profilarmen Treter die kühle Morgenluft zu Boden drücken. Profilarm. Mit dieser Eigenschaft kommt man aber auch nur als Sportschuh gut weg, denkt sie und läuft durch die Thalkirchner Straße hinunter zu den Isarauen, wo sie fast alle Trainingseinheiten absolviert. Kaum ist sie dort angekommen, kündigt ein dreimaliges Piepen schon das erste von fünf schnellen 2000m-Intervallen an und Sonja gibt Gas. Hopp, lauf, Du Tier! Du bist schließlich nicht zum Spaß hier, denkt sie und anstelle des gemütlichen Pad-Pad-Pad trommeln ihre Füße ein flottes Patta-pitti-patta-pitti auf die Erde. Gute elf Minuten muss Sonja das Tempo halten. Schafft sie es nicht, macht ihre Uhr sie mit einer nervigen Melodie und einem blinkenden SCHNELLER auf ihre Lahmarschigkeit aufmerksam. Ist sie zu flott unterwegs, ertönt eine andere, nervtötende Tonfolge, die selbst leidensfähige Ausdauersportler in den Wahnsinn treibt. Und Sonja ist nicht leidensfähig. Nicht, wenn es um sich wiederholende Geräusche geht. Spätestens nach der dritten akustischen Ermahnung fängt sie an, das Gerät mit einem stoßweise hervorgebrachten „Halt’s Maul, blödes Glump!“ zu beschimpfen. Geholfen hat das bislang aber noch nicht. Würde man Sonja, die soeben am Schinderstadl vorbei Richtung Flauchersteg hetzt, jetzt fragen, ob ihr das Laufen Freude macht, man bekäme nur ein abfälliges „Äh!“ hingeworfen. Mehr ist bei einem Puls knapp unter der Schädeldecke einfach nicht drin. Darum wählt die regelmäßig auftauchende Frage nach dem Warum am liebsten die langsamen Dauerläufe. Gerne verbündet sie sich dafür mit Sonjas innerem Schweinehund, um einen frühzeitigen Abbruch des Trainings zu erwirken. Zum Beispiel mit folgendem Dialog: „Hast du heute schon aus dem Fenster geschaut? Es regnet! Warum bleibst du nicht einfach im Bett? Jeder vernünftige Mensch bleibt bei so einem Wetter daheim.“ – „Du sagst es, aber ich bin nicht vernünftig.“ – „Ich weiß. Leider. Aber dann spar dir wenigstens diese 30km-Einheiten. Das sind dreieinhalb Stunden sinnloses Gerenne. Kein Viech würde freiwillig so lange laufen.“ – „Erstens bin ich kein Viech und zweitens laufen wir beide im Herbst den München Marathon, schon vergessen?“ – „Nein, verdrängt. Ich verstehe auch immer noch nicht, warum wir, nein DU, den überhaupt laufen musst. Es zwingt dich ja niemand.“ – „Das muss auch niemand, ich möchte es einfach mal probieren. Wer weiß, was mir diese Erfahrung bringt.“ – „Das kann ich dir sagen. Krämpfe.“ – „Vielleicht. Aber vielleicht auch etwas ganz anderes. Es heißt doch: Wenn du laufen willst, lauf eine Meile. Wenn du dein Leben ändern willst, lauf einen Marathon.“ – „Aha. Und das glaubst du?“ – „Naja...“ Meistens bricht Sonja an dieser Stelle den Dialog einfach ab. Was soll sie auch sagen? Sie weiß es ja selbst nicht so genau. Und würde sie nicht gerade ihre vierminütige Gehpause machen, hätte sie gar keine Kapazitäten, um darüber nachzudenken. Das ist der Vorteil am Tempotraining. Der Körper ist vollauf mit Atmen, Schwitzen und Laufen beschäftigt, während sich der Kopf auf das Tempo und die Strecke konzentrieren muss. Dabei ist er lediglich zu gedanklichen Hilfeschreien fähig wie „Wann hört es endlich auf?“, „Ist es noch weit?“, „Ich kann nicht mehr!“, „Ich mag nicht mehr!“, „Mein Bein tut weh!“ und „Mir ist schlecht.“

Heute scheint allerdings etwas anders zu sein. Während Sonja auf der Tierparkbrücke bei flottem Gehtempo wieder zu Atem kommt, fällt ihr die angeblich lebensverändernde Wirkung von Marathonläufen wieder ein. Na, auf mein Liebesleben hat die Lauferei jedenfalls keinen Einfluss. Das ist so absent, wie es ohne Laufen auch schon war, denkt Sonja und wirft einen Blick auf die Liebesschlösser, die allmählich das Brückengeländer überwuchern. Was für ein Schmarrn, ein kitschiger. Aber eins muss man Mister Minit lassen, besser kann man seine Vorhängeschlösser nicht vermarkten, murmelt sie und macht sich bereit für das nächste Intervall, das sie schnurgerade zwischen Isar und Isarkanal entlang führt und elf Minuten Denkpause garantiert. Zumindest fast. Sonjas Gehirn scheint zu viel Energie übrig zu haben. Denn auch während sie versucht, ihre gesamte Aufmerksamkeit auf den Boden vor ihren Füßen und auf ihr Halbmarathonrenntempo zu richten, gelingt es ihren grauen Zellen, ein paar Gesprächsfetzen durch die Synapsen zu funken. Die Fetzen stammen aus einem Gespräch mit Sonjas Ex-Kollegin Christine. Diese war vor ein paar Tagen zum Mittagessen in der Agentur vorbeigekommen und hatte gefragt, wie es bei Sonja derzeit liefe. „Ach, laufen tut es immer gut, nur gehen manchmal schlecht“, hatte Sonja gewitzelt und sich dafür von Christine eine hochgezogene Augenbraue und ein tiefes Seufzen eingehandelt. „Du weißt genau, was ich meine. Bewegt sich denn was in deinem Leben? Von deinen Beinen jetzt mal abgesehen. Irgendwelche Affären, von denen ich wissen müsste?“ Affären? Für Affären war Sonja noch nie berühmt gewesen und Morgenstund‘ hatte vielleicht Gold im Mund, bei Joggern aber auch immer einen leicht verschwitzten Geruch am Leib. Und so eine Grubenlampe auf der Stirn machte in der Dunkelheit zwar Sinn, aber ganz sicher kein vorteilhaftes Aussehen. „Gut, muss ja nicht. Vielleicht läuft dir bei der Laufmesse im Oktober was Passendes über den Weg.“ – „Das hoffe ich schwer! Am liebsten ein Paar günstige Trailschuhe in Größe 39. Meine alten haben nämlich schon wieder über 1.000km in der Sohle und ziemlich an Profil eingebüßt. Damit komme ich sicher nicht sturzfrei durch den Winter.“ Und wenn Sonja sich nicht sofort wieder auf den Weg konzentriert, kommt sie nicht mal sturzfrei durch den heutigen Lauf. Vor lauter Denkerei hätte sie fast eine Wurzel übersehen, erst im letzten Moment kann sie darüber springen. Herrgott nochmal, pass doch auf, du blöde Kuh. Schluss jetzt mit Denken. Sieh lieber zu, dass du da hoch kommst, ermahnt sie sich, bevor sie mit rasselnder Lunge den Höllerer Berg nach oben rumpelt. Nie gelingt es ihr, die Intervalle so hinzudeichseln, dass sie bergauf eine Gehpause einlegen kann. Aber Bergaufpassagen bringen ja angeblich Kraft. Ob dem Läufer oder dem Berg, hat Sonja noch nicht herausgefunden. Oben angekommen hechelt sie über die Großhesseloher Brücke auf die andere Isarseite. Endlich geht es auf der Hochleite entlang auf den Heimweg.

Endlich? Wenn man bedenkt, dass das Trainingsende nahtlos in den Arbeitsbeginn übergehen wird und die frische Luft und die Weite der Isarauen gegen Büromief und einen 17’’-Bildschirm eingetauscht werden müssen, vielleicht sollte Sonja sich das mit dem Heimweg nochmal überlegen und nicht zurück in die Stadt, sondern die Isar entlang nach Süden laufen. Einfach mal sehen, wie weit sie kommt. Apropos weit kommen. Im Gegensatz zu Christine, die derzeit als Teamleitung Marketing durchstartet, ist Sonja jobmäßig noch nicht allzu weit gekommen. Sie dümpelt immer noch in ihrer ersten Festanstellung herum und spielt nach knapp fünf Jahren bisweilen mit dem Gedanken, sich etwas Neues zu suchen. Meistens dann, wenn ihr die Routinetätigkeiten zum Hals heraushängen und sie sich fühlt, wie die Praktikantin auf Lebenszeit. Warum sie dennoch in ihrem Dasein als PR-Trulla verharrt, liegt zum einen an ihrer Unentschlossenheit („Ich weiß schon, dass ich eigentlich einen anderen Beruf schwänze, ich weiß nur noch nicht welchen.“), ihrer latenten Versagensangst („Und was, wenn ich für etwas anderes als Waschzettel texten, Bücher verschicken und den Agenturhaushalt schmeißen gar nicht geeignet bin?“) und an ihrer ausgeprägten Wertschätzung für Gleichförmigkeit und pünktliche Feierabende. Gegen den letzten Punkt hatte sogar Christine nichts einzuwenden. „Na gut, die pünktlichen Feierabende lasse ich gelten, aber an deiner Abulie müssen wir arbeiten, du feiges Ei!“ – „Jawohl, Frau Teamleitung, du hast ja Recht.“ – „Schön, dass du’s einsiehst. Wie machst du das eigentlich, dass dir bei den ewig gleichen Pressetexten und Telefonanrufen nicht das Hirn einschläft?“ – „Das geht nur, weil ich das alles nicht mehr so ernst nehme. Nehmen wir die nervigen Anrufer. Die leite ich entweder aufs Faxgerät um oder ich behaupte, dass ich gerade in einen Tunnel fahre und sie nicht hören kann. Dann unterbreche ich die Verbindung und lege den Hörer für mindestens eine Stunde neben das Telefon. Unseren Autoren, die nicht verstehen, warum wir ihnen keine Buchbesprechung in Spiegel, FAZ, ZEIT, Welt oder SZ verschaffen können, empfehle ich die Lektüre ihres aktuellen Buches. Dort finden sie die Ursache auf jeder einzelnen der selbstverfassten Seiten Schwarz auf Weiß. Und wenn das auch nicht hilft, stelle ich zum Chef durch. Deeskalationsstufe nennt er das. Ich mache es vor allem deshalb, weil sein schicksalsergebenes Seufzen einfach unbezahlbar ist.“

Seufzen kann Sonja allerdings auch ganz gut und tut es auch gerade. Soeben hat sie das letzte Intervall absolviert und ist froh, dass sie die restlichen Kilometer in gemäßigtem Tempo auslaufen darf. Vorbei an der Wallfahrtskirche St. Anna lässt sie sich von der Schwerkraft den Harlachinger Berg hinunter zum Tierpark Hellabrunn ziehen. Vor der Sanierung des Elefantenhauses hatte Sonja manchmal einen der Bewohner zu sehen bekommen. Jetzt bleibt ihr nur das angrenzende Gehege mit seinen entschleunigten Dromedaren. Oder sind es Trampeltiere? Wer von beiden hatte nochmal zwei und wer nur einen Höcker? Egal. Den gleichen konsternierten Gesichtsausdruck, mit dem die Tiere Sonjas Bergabgalopp beobachten, hatte sie auch an Christine bestaunen können. Wobei deren Miene noch eine Spur entsetzter war. Und das kam so: „Du willst mir jetzt aber nicht weismachen, dass du dich auch mit Mülleimer leeren, Milch kaufen und Spülmaschine ausräumen arrangiert hast, oder? Das lässt du doch hoffentlich die Kollegen machen?“ Worauf Sonja gezwungen war, zu beichten. „Milch und Mülleimer würde ich gerne delegieren, es klappt aber nicht. Und die Spülmaschine ist mein wöchentliches Highlight im Agenturhaushalt! Da darf außer mir niemand dran.“ – „Bitte? Erklär mir das!“ – „Ich weiß nicht, du glaubst dann bloß, ich sei total bekloppt.“ – „Mein Herz, wir haben zwei Jahre zusammengearbeitet. Den Glauben habe ich hinter mir gelassen. Ich bin schon auf der Stufe der Gewissheit angelangt.“ – „Haha. Also gut. Kennst du unsere flachen Cappuccino-Tassen, die wir zum Aufwärmen auf der Espressomaschine auftürmen? Es ist so, bevor ich die frischgespülten Tassen staple, schlecke ich sie aus.“ – „Du machst was?“ – „Ich schlecke sie aus. Eine nach der anderen. Und zwar mit Hingabe. Danach räume ich sie an ihren Platz und warte auf die Morgenrunde. Wenn mir die Chefs dabei mit ihrem Kaffee gegenübersitzen, ist der Arbeitstag nur noch halb so schlimm. Apropos Kaffee, wolltest Du nicht auch einen haben?“ An dieser Stelle war Christine die Kinnlade nach unten geklappt und sie hatte Sonja sekundenlang angestarrt, schwankend zwischen Verblüffung und Entsetzen. Dann waren die beiden in schallendes Gelächter ausgebrochen und obwohl Christine das mit dem Ausschlecken nicht wirklich glauben konnte, war sie mit Sonja zum Kaffeetrinken doch lieber nach Gegenüber gegangen.

Das schockierte Gesicht ihrer Ex-Kollegin vor Augen, biegt Sonja nach knapp zwei Stunden laut lachend in die Implerstraße ein. Da soll noch mal jemand behaupten, Laufen würde keinen Spaß machen. Und Arbeiten erst! Man musste halt das Beste daraus machen. Na gut, auf lange Sicht war vielleicht wirklich mal ein Jobwechsel nötig, aber bis zum Marathon würde es locker noch gehen. Und danach hatte Sonja alle Zeit der Welt, sich in Ruhe nach etwas Neuem umzusehen und ein bisschen Veränderung in ihr Leben zu lassen. Und wenn es nicht sofort klappte, würde sie es schon noch ein Weilchen aushalten. Erstens war sie durch das Training Leiden gewohnt und zweitens blieb ihr immer noch die Spülmaschine. War die gestern Abend nicht schon fast voll gewesen? Durfte sie sie bald wieder laufen lassen? Sobald Sonja im Büro war, würde sie das gleich mal überprüfen…


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Verfasst von: © Marion Steiner, 2011

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