Jeremias
... steht jede Nacht auf dem Treppenabsatz, schnauft, denkt und jetzt – scheitert er an den 39 Stufen zur Wahrheit.
Das Licht im Gang ging – seiner Zeitschaltuhr entsprechend – aus. Der Hausmeister hatte es aus Sparsamkeitsgründen anders getaktet. Das war später die einzige Erklärung, die noch fehlte: Warum das Licht so früh ausging.
Im dritten Stock, am Treppenabsatz schnaufte jemand. Flach, pfeifend, wie ein Sprinter, ein untrainierter. Flacher Atem und das fast unhörbare Ticken der Zeitschaltuhr: “Late-Night-Groove in Sendling“ – Jeremias Blitzgedanke nach Schnaufer Nummer 17. Von Nummer fünf bis 15 hatte er gedacht: “Sollte wieder mehr trainieren.“ Von Nummer eins bis fünf: “Fehler, falsch, Fehler, falsch.“ Und nach Schnaufer Nummer 17? Die Gedanken wollen nicht kommen heute Nacht. Kurze Zeit hat er eine Ahnung, dass es doch das falsche Zeug war, das er in sich reingekippt hatte. Er hätte beim Bier bleiben sollen, und nicht alles rauchen sollen, was sie ihm hingehalten haben, unten beim rituellen Isar-Grill-Besäufnis-Fest. Die anderen von der Boschetsrieder Straße. Die Kumpels von früher, die sich noch immer, dumpf trinkend, grillend, schweigend treffen, und er aus alter Gewohnheit eben dabei… Isar-Grill-Feste. Verhasste Überbleibsel aus einer verkorksten Jugend, wenn du nicht zu Solln gehörst. Wenn du meinst, Jungs wie Rudi sind Freunde, auch weil der sich so rührend um den kleinen behinderten Bruder kümmert, den Karl, der mittlerweile ein anabolikagestählter Rudi-Beschützer geworden ist.
“Und dann hat Jeremias halt den Mund wieder nicht halten können! Und er ist voll auf den Rudi los! Obwohl der Rudi gar nichts gemacht hat, nur gesagt hat, der Jeremias soll sich nicht so anstellen. Wegen der Claudia damals, der Sollner Schlampe.”
Der unterbemittelte Karl hatte seinen großen Auftritt in der Früh bei den Schlachtern. In der Thalkirchner Straße. Während die aufs Schlachtvieh warten. Karl kommt gern vor Sonnenaufgang vorbei, im Spätsommer vor allem, wenn´s schon kalt ist und die heißen Schweine dampfend vom Laster getrieben werden. Erzählt seine Geschichten. Eine Claudia hat es bis heute noch nicht in Karls wirre Phantasie geschafft: “Die ist doch damals mit jedem um die Häuser gezogen und in die Betten. Die Isar-Claudi, die blonde, kleine süße Maus. “Die Theaternacht war filmreich, weißte ich, wie James Dean! Ankommen auf dem Mofa, Lederjacke, Claudi geschnappt, weil die wollte keinen Milchbubi wie dich! War ‘n guter Fick”, das hat der Rudi dem Jeremias heut ins Gesicht gespuckt. Und hat halt blöderweise mit der alten Geschichte wieder angefangen. Und dann geht der Jeremias voll auf den Rudi los und plötzlich hat der ein Grill-Steakmesser in der Hand, der Jeremias, nicht der Rudi, und rammt das dem Rudi voll in den Oberschenkel. Der hat geschrien wie eine abgestochene Sau, das wisst ihr doch, wie das laut tut, was?! Und der Jeremias ist gerannt wie ein Verrückter, die Isar hinunter.”
Karl macht sich gern mal nützlich bei den Metzgern in den weißen Schürzen und weißen Gummistiefeln. Trägt auch mal ein paar Schweinehälften zum Fleischwolf. Lädt Gewürzkanister ab. Bringt Abfälle weg. Bekommt ´ne Zigarette und kann seine Geschichten loswerden. Meistens Variationen eines durchschnittlichen Vorabendprogrammdrehbuchs. Die Protagonisten heißen immer Karl und Rudi. Und Rudi ist immer der Held, weil er doch Karls älterer Bruder ist. “Schon mit 5 durft ich mitfahren auf dem Mofa”, die Standardfloskel kommt immer! Wenn er von Ausfahrten damals erzählt, dann wird Karls Stimme mit einmal langsam und weich: Mit dem Mofa zum Flaucher, zum Zaun vom Zoo, zum Zuschauen, weil dabei sein, dafür reicht es eben nicht: Das Geld, die Herkunft, der Wille...
Karl ist heute aber blasser als sonst. Wohl wegen dem Blut von Rudis Oberschenkel. Aber nach der zweiten Discount-Fluppe spürt er wieder den Boden unter den Füßen und wankt weiter. Thalkirchner Straße, Richtung Sendlinger Tor. Dort vor der Kirche hofft er auf ´nen Schluck aus Mitleid. Im Park. Wo sie jetzt auch Videoüberwachung haben. Karl scheißt drauf, im wahrsten Sinne des Wortes. Karl, auf der Suche nach neuen Synapsenverbindungen im kaputt-gekifften Kopf.
Schnaufer Nummer 112, die Lunge hat sich längst beruhigt, bringt wieder Klarheit: “Ich geh jetzt da rauf und erklär´s ihr. Das Messer beschleunigt die Sache jetzt. Dann geh ich wieder runter – Schnaufer Nummer 115 – und schau, ob der Rudi noch lebt und den Bullen was gesteckt hat, oder doch besser seine Klappe hält, wegen der drei Schrottautos, die noch auf meinem Sattelschlepper warten. Auf den Abtransport nach Polen!” Weil der Jeremias dem Rudi ja nichts abschlagen kann. Und weil LKW-Führerschein-Kumpels mit hauseigener Speditions-Connection nicht auf Bäumen wachsen. Schnaufer Nummer 121: Ganz schön ruhig hier in diesem Mehrfamilienhaus, Altbaucharme, Singlewohnungen, unten ein Kinderfahrradanhänger. Sonst – heute nicht. Sicher auf Italienurlaub am Gardasee. Mit dem Zug! Korrekte Menschen mit korrekten Save-the-Earth-Ansichten. Hinter korrekt genähten Vorhängen, wo im Küchenregal der Fair-Trade Kaffee wartet.
Wie die Claudia das hier her geschafft hat, ist dem Jeremias ein Rätsel und weil Rätsel gelöst werden wollen, sollte er noch ein Stockwerk schaffen. Aber das Licht ist aus, und Jeremias hat Angst Lichtschalter und Klingel im Gang zu verwechseln und der Mond scheint auch nicht mehr durchs Gangfenster und ihm ist schlecht von dem Kraut, das sie ihm vorhin zwischen die Zähne gesteckt haben und schlecht von der Gewalt, die da in ihm wohnt, immer ein Biest das wartet, auf den großen Auftritt. Vorhang auf. Trommelwirbel: Auf die Bühne, bitte: Jeremias der Scheißkerl. Regieanweisung: Zu gut gebaut für den kleinen Verstand, prügelt sich gern, ist immer noch Jungfrau und weiß, wo es das beste Gras rund um die Schule gibt. Seine heutige Rolle im Schultheaterstück: Tonmischer. Nicht freiwillig. Gibt aber Pluspunkte und bewahrt vor dem Wiederholen der neunten Klasse. Auftritt Jeremias, der verliebte Hund, der sich ausgerechnet die Claudia ausgesucht hat, das Mädchen aus Solln, mit den goldenen Haaren und den Perlenohrringen und dem goldenen Kreuz um den Hals, das die Desdemona spielt.
Jeremias schnauft kaum noch, weil er so in der Erinnerung hängt. An die Theaterpremiere dieser verkorksten Schule, seiner verkorksten Jugend und weil die Julinacht damals alles kaputt gemacht hat. Und weil er seit heut weiß, dass es Rudi war, der die Claudia damals in die Büsche gezerrt hat. Und er hat es ihm über 10 Jahre lang verschwiegen und jetzt sitzt der Jeremias mit der Wahrheit da und kann nichts damit anfangen. Weil zur Wahrheit gehören immer zwei und die Claudia, die wohnt jetzt in Sendling, ganz oben hinter der silberfarbenen Feuerleiter. Das weiß er, weil er doch jede Nacht da steht und sie bewacht. Seit 10 Jahren bewacht er sie, weil viel umgezogen ist sie nicht. Jede Nacht, wenn er nicht gerade Autos für Rudi verschiebt, ist Jeremias am Platz. Jede Nacht steht er auf dem Treppenabsatz, schnauft, denkt und jetzt? Scheitert er an den 39 Stufen zur Wahrheit.
Sein Rücken spürt die kalte Wand, und irgendeine Fußleiste drückt auf die Nieren. Aber sonst lässt es sich aushalten auf dem Parkett-Boden. Den haben sie neu abgezogen und versiegelt, es riecht noch nach Farbe. Gang auch gestrichen. Wertsteigernde Sanierung im Investitionsobjekt. Innenstadtnah. Im szenigen Viertel. Der Bussone steht jetzt ja auch im Reiseführer. Und die Ökos pilgern zum Stemmerhof und die Sportler joggen im Westpark – mit Kinderwagen. Weil der hat ´ne Scheibenbremse! Ideale Wohngegend für den Münchner oder den, der’s werden will! Wo doch der Szene-Bäcker auch am Sonntag auf hat.
Jeremias starrt auf die Wohnungstür schräg unter seinem Wachplatz. Es ist die einzige Konstante in seinem Leben. Che Guevara und die Katze! Seine Nachtgestalten. Che in Form von harten Borsten eines Fußabstreifers. Die Katze heute nicht im Treppenhaus unterwegs. Die Klappe in die weiße Altbau-Charme-Wohnungstür – eine Edelstahlklappe natürlich – zu! Katze drin! Che schweigsam!
“Karl hat ein schlechtes Gewissen. Karl geht zu den Bullen. Karl erzählt in seinem minderbemittelten Hirn die Geschichte von damals und dann bin ich dran.” Rudi hat zwar Schmerzen, aber so wirklich schlimm ist es nicht. Die Jeans hat dann doch viel von der Wucht abgehalten, mit der der Jeremias zugestochen hat. Und eigentlich hat der Rudi immer gemeint, dass der Jeremias das weiß mit der Claudia damals beim Theater-Abend. “Da war ja auch irgendwie nichts. Schnelle Nummer am Kinderspielplatz, besoffen wie wir alle waren. Gut, die Claudia war jetzt nicht so begeistert, aber so wirklich gewehrt hat sie sich nicht! Ich mein, dass die dann nicht wieder kommt im nächsten Schuljahr und die Eltern was von Schizophrenie erzählen, was weiß denn ich, was das ist. Und der Jeremias – stürzt völlig ab, dealt mit Gras und später mit anderem Zeugs und hat kein Zuhause. Treibt sich seit 10 Jahren nachts in fremden Häusern rum und tut jetzt so, als hätte er die Moral erfunden. Aber wenn der Karl die Schnauze nicht hält, dann bin ich womöglich doch dran. Wegen der Claudia. Wenn die sagt, dass sie nicht wollen hat.“
Rudi schmeißt die Jeans in den Mülleimer am Roecklplatz, und freut sich, wenn er sich die entsetzten Mütterblicke vorstellt, in ein paar Stunden, wenn eine von den Bugaboo-Mamis mit Latte-Glas vom Italiener die Hose mit spitzen Fingern aus dem Mülleimer zieht. Und vielleicht die Bullen ruft, oder das Gesundheitsamt. Dann denkt er noch mal kurz an Claudia und humpelt über die Ehrengut heim in die Au. Der Kiosk am Schyrenbad ist sicher noch offen. Auf ein letztes Bier.
Jeremias hat geschlafen. Nur so ist es möglich, dass die Katze ihm so viel Vertrauen geschenkt hat und nun eingerollt in seinem Schoß liegt. Auf der Suche nach Abwechslung ist sie zu ihm gekommen. Musste nicht lange suchen. Mit ihrer rauen Zunge leckt sie über Jeremias linke Hand. Jeremias erschrickt, im Schlaf. Und wenn Jeremias erschrickt aus seinen Träumen, dann schreit er. Und das erschreckt die Katze. Die springt hoch, die Katzenklappe knallt. Das Licht geht an, aber keiner kommt aus der Tür. Geblendet stiert Che Guevara Jeremias an! Und es ist als zuckte die Augenbraue im Fußabstreifer. Und Jeremias greift unwillkürlich nach dem Steakmesser, das ihm im Schlaf aus der Hand gefallen ist. Und sieht daran Rudis Blut kleben und will es dem Revolutionsführer hinstrecken. Zeigen, dass er die Claudi rächen kann. Jeremias will also auf Che Guevara zugehen, Haltung annehmen. Aber: Die Maler haben die Farbeimer stehen gelassen. Und Jeremias fällt über die Farbeimer vom dritten Treppenabsatz. So ohne Licht, wegen der Zeitschaltuhr, weil der Hausmeister doch sparen will, für die Investoren aus der Schweiz, die das Haus gekauft haben und sich nur nette Mieter wünschen. Nicht solche, wie diese blonde Frau im fünften Stock, die mit dem Tick durchs Treppenhaus läuft und immer “HA!” brüllt und im Nachthemd Desdemona rezitiert. Solche Mieter wollen sie nicht, und deswegen die kurze Einstellung der Flurbeleuchtung und andere kleine wirkungsvolle Schikanen. Das wird der Hausmeister später sagen, also auch das mit den Schikanen, weil schuld sein will er nicht. Aber jetzt fällt Jeremias erst mal über die Farbkübel und er fällt die Treppe runter, ungebremst. Weil seine linke Hand noch in Gedanken bei der Zunge der Katze ist und in der rechten Hand hält er das Steakmesser, richtig hoch, wie eine Trophäe, was keiner sieht, weil es dunkel ist. Und weil es das Schicksal heute so will, fällt er, als er sich reflexartig zusammenkugelt beim Fallen, in das Steakmesser, an dem noch Rudis Blut klebt, und weil die Milz so weich ist, absorbiert die quasi das Messer, und weil es dunkel ist, und das Haus nur noch von der Katze bewohnt wird, wegen der neuen Besitzer aus der Schweiz, die alle rausgekündigt haben, wird auch der Hausmeister den Jeremias erst finden, wenn der Milzriss dem toten Träumer einen ewigen Schlaf beschert hat. Einen Schlaf, den in der Nußbaumstraße einem 4-Bett-Zimmer auch die Claudia gerade sucht.
Den ganzen Spaziergang auf der Karte verfolgen ...
... steht jede Nacht auf dem Treppenabsatz, schnauft, denkt und jetzt – scheitert er an den 39 Stufen zur Wahrheit.
Das Licht im Gang ging – seiner Zeitschaltuhr entsprechend – aus. Der Hausmeister hatte es aus Sparsamkeitsgründen anders getaktet. Das war später die einzige Erklärung, die noch fehlte: Warum das Licht so früh ausging.
Im dritten Stock, am Treppenabsatz schnaufte jemand. Flach, pfeifend, wie ein Sprinter, ein untrainierter. Flacher Atem und das fast unhörbare Ticken der Zeitschaltuhr: “Late-Night-Groove in Sendling“ – Jeremias Blitzgedanke nach Schnaufer Nummer 17. Von Nummer fünf bis 15 hatte er gedacht: “Sollte wieder mehr trainieren.“ Von Nummer eins bis fünf: “Fehler, falsch, Fehler, falsch.“ Und nach Schnaufer Nummer 17? Die Gedanken wollen nicht kommen heute Nacht. Kurze Zeit hat er eine Ahnung, dass es doch das falsche Zeug war, das er in sich reingekippt hatte. Er hätte beim Bier bleiben sollen, und nicht alles rauchen sollen, was sie ihm hingehalten haben, unten beim rituellen Isar-Grill-Besäufnis-Fest. Die anderen von der Boschetsrieder Straße. Die Kumpels von früher, die sich noch immer, dumpf trinkend, grillend, schweigend treffen, und er aus alter Gewohnheit eben dabei… Isar-Grill-Feste. Verhasste Überbleibsel aus einer verkorksten Jugend, wenn du nicht zu Solln gehörst. Wenn du meinst, Jungs wie Rudi sind Freunde, auch weil der sich so rührend um den kleinen behinderten Bruder kümmert, den Karl, der mittlerweile ein anabolikagestählter Rudi-Beschützer geworden ist.
“Und dann hat Jeremias halt den Mund wieder nicht halten können! Und er ist voll auf den Rudi los! Obwohl der Rudi gar nichts gemacht hat, nur gesagt hat, der Jeremias soll sich nicht so anstellen. Wegen der Claudia damals, der Sollner Schlampe.”
Der unterbemittelte Karl hatte seinen großen Auftritt in der Früh bei den Schlachtern. In der Thalkirchner Straße. Während die aufs Schlachtvieh warten. Karl kommt gern vor Sonnenaufgang vorbei, im Spätsommer vor allem, wenn´s schon kalt ist und die heißen Schweine dampfend vom Laster getrieben werden. Erzählt seine Geschichten. Eine Claudia hat es bis heute noch nicht in Karls wirre Phantasie geschafft: “Die ist doch damals mit jedem um die Häuser gezogen und in die Betten. Die Isar-Claudi, die blonde, kleine süße Maus. “Die Theaternacht war filmreich, weißte ich, wie James Dean! Ankommen auf dem Mofa, Lederjacke, Claudi geschnappt, weil die wollte keinen Milchbubi wie dich! War ‘n guter Fick”, das hat der Rudi dem Jeremias heut ins Gesicht gespuckt. Und hat halt blöderweise mit der alten Geschichte wieder angefangen. Und dann geht der Jeremias voll auf den Rudi los und plötzlich hat der ein Grill-Steakmesser in der Hand, der Jeremias, nicht der Rudi, und rammt das dem Rudi voll in den Oberschenkel. Der hat geschrien wie eine abgestochene Sau, das wisst ihr doch, wie das laut tut, was?! Und der Jeremias ist gerannt wie ein Verrückter, die Isar hinunter.”
Karl macht sich gern mal nützlich bei den Metzgern in den weißen Schürzen und weißen Gummistiefeln. Trägt auch mal ein paar Schweinehälften zum Fleischwolf. Lädt Gewürzkanister ab. Bringt Abfälle weg. Bekommt ´ne Zigarette und kann seine Geschichten loswerden. Meistens Variationen eines durchschnittlichen Vorabendprogrammdrehbuchs. Die Protagonisten heißen immer Karl und Rudi. Und Rudi ist immer der Held, weil er doch Karls älterer Bruder ist. “Schon mit 5 durft ich mitfahren auf dem Mofa”, die Standardfloskel kommt immer! Wenn er von Ausfahrten damals erzählt, dann wird Karls Stimme mit einmal langsam und weich: Mit dem Mofa zum Flaucher, zum Zaun vom Zoo, zum Zuschauen, weil dabei sein, dafür reicht es eben nicht: Das Geld, die Herkunft, der Wille...
Karl ist heute aber blasser als sonst. Wohl wegen dem Blut von Rudis Oberschenkel. Aber nach der zweiten Discount-Fluppe spürt er wieder den Boden unter den Füßen und wankt weiter. Thalkirchner Straße, Richtung Sendlinger Tor. Dort vor der Kirche hofft er auf ´nen Schluck aus Mitleid. Im Park. Wo sie jetzt auch Videoüberwachung haben. Karl scheißt drauf, im wahrsten Sinne des Wortes. Karl, auf der Suche nach neuen Synapsenverbindungen im kaputt-gekifften Kopf.
Schnaufer Nummer 112, die Lunge hat sich längst beruhigt, bringt wieder Klarheit: “Ich geh jetzt da rauf und erklär´s ihr. Das Messer beschleunigt die Sache jetzt. Dann geh ich wieder runter – Schnaufer Nummer 115 – und schau, ob der Rudi noch lebt und den Bullen was gesteckt hat, oder doch besser seine Klappe hält, wegen der drei Schrottautos, die noch auf meinem Sattelschlepper warten. Auf den Abtransport nach Polen!” Weil der Jeremias dem Rudi ja nichts abschlagen kann. Und weil LKW-Führerschein-Kumpels mit hauseigener Speditions-Connection nicht auf Bäumen wachsen. Schnaufer Nummer 121: Ganz schön ruhig hier in diesem Mehrfamilienhaus, Altbaucharme, Singlewohnungen, unten ein Kinderfahrradanhänger. Sonst – heute nicht. Sicher auf Italienurlaub am Gardasee. Mit dem Zug! Korrekte Menschen mit korrekten Save-the-Earth-Ansichten. Hinter korrekt genähten Vorhängen, wo im Küchenregal der Fair-Trade Kaffee wartet.
Wie die Claudia das hier her geschafft hat, ist dem Jeremias ein Rätsel und weil Rätsel gelöst werden wollen, sollte er noch ein Stockwerk schaffen. Aber das Licht ist aus, und Jeremias hat Angst Lichtschalter und Klingel im Gang zu verwechseln und der Mond scheint auch nicht mehr durchs Gangfenster und ihm ist schlecht von dem Kraut, das sie ihm vorhin zwischen die Zähne gesteckt haben und schlecht von der Gewalt, die da in ihm wohnt, immer ein Biest das wartet, auf den großen Auftritt. Vorhang auf. Trommelwirbel: Auf die Bühne, bitte: Jeremias der Scheißkerl. Regieanweisung: Zu gut gebaut für den kleinen Verstand, prügelt sich gern, ist immer noch Jungfrau und weiß, wo es das beste Gras rund um die Schule gibt. Seine heutige Rolle im Schultheaterstück: Tonmischer. Nicht freiwillig. Gibt aber Pluspunkte und bewahrt vor dem Wiederholen der neunten Klasse. Auftritt Jeremias, der verliebte Hund, der sich ausgerechnet die Claudia ausgesucht hat, das Mädchen aus Solln, mit den goldenen Haaren und den Perlenohrringen und dem goldenen Kreuz um den Hals, das die Desdemona spielt.
Jeremias schnauft kaum noch, weil er so in der Erinnerung hängt. An die Theaterpremiere dieser verkorksten Schule, seiner verkorksten Jugend und weil die Julinacht damals alles kaputt gemacht hat. Und weil er seit heut weiß, dass es Rudi war, der die Claudia damals in die Büsche gezerrt hat. Und er hat es ihm über 10 Jahre lang verschwiegen und jetzt sitzt der Jeremias mit der Wahrheit da und kann nichts damit anfangen. Weil zur Wahrheit gehören immer zwei und die Claudia, die wohnt jetzt in Sendling, ganz oben hinter der silberfarbenen Feuerleiter. Das weiß er, weil er doch jede Nacht da steht und sie bewacht. Seit 10 Jahren bewacht er sie, weil viel umgezogen ist sie nicht. Jede Nacht, wenn er nicht gerade Autos für Rudi verschiebt, ist Jeremias am Platz. Jede Nacht steht er auf dem Treppenabsatz, schnauft, denkt und jetzt? Scheitert er an den 39 Stufen zur Wahrheit.
Sein Rücken spürt die kalte Wand, und irgendeine Fußleiste drückt auf die Nieren. Aber sonst lässt es sich aushalten auf dem Parkett-Boden. Den haben sie neu abgezogen und versiegelt, es riecht noch nach Farbe. Gang auch gestrichen. Wertsteigernde Sanierung im Investitionsobjekt. Innenstadtnah. Im szenigen Viertel. Der Bussone steht jetzt ja auch im Reiseführer. Und die Ökos pilgern zum Stemmerhof und die Sportler joggen im Westpark – mit Kinderwagen. Weil der hat ´ne Scheibenbremse! Ideale Wohngegend für den Münchner oder den, der’s werden will! Wo doch der Szene-Bäcker auch am Sonntag auf hat.
Jeremias starrt auf die Wohnungstür schräg unter seinem Wachplatz. Es ist die einzige Konstante in seinem Leben. Che Guevara und die Katze! Seine Nachtgestalten. Che in Form von harten Borsten eines Fußabstreifers. Die Katze heute nicht im Treppenhaus unterwegs. Die Klappe in die weiße Altbau-Charme-Wohnungstür – eine Edelstahlklappe natürlich – zu! Katze drin! Che schweigsam!
“Karl hat ein schlechtes Gewissen. Karl geht zu den Bullen. Karl erzählt in seinem minderbemittelten Hirn die Geschichte von damals und dann bin ich dran.” Rudi hat zwar Schmerzen, aber so wirklich schlimm ist es nicht. Die Jeans hat dann doch viel von der Wucht abgehalten, mit der der Jeremias zugestochen hat. Und eigentlich hat der Rudi immer gemeint, dass der Jeremias das weiß mit der Claudia damals beim Theater-Abend. “Da war ja auch irgendwie nichts. Schnelle Nummer am Kinderspielplatz, besoffen wie wir alle waren. Gut, die Claudia war jetzt nicht so begeistert, aber so wirklich gewehrt hat sie sich nicht! Ich mein, dass die dann nicht wieder kommt im nächsten Schuljahr und die Eltern was von Schizophrenie erzählen, was weiß denn ich, was das ist. Und der Jeremias – stürzt völlig ab, dealt mit Gras und später mit anderem Zeugs und hat kein Zuhause. Treibt sich seit 10 Jahren nachts in fremden Häusern rum und tut jetzt so, als hätte er die Moral erfunden. Aber wenn der Karl die Schnauze nicht hält, dann bin ich womöglich doch dran. Wegen der Claudia. Wenn die sagt, dass sie nicht wollen hat.“
Rudi schmeißt die Jeans in den Mülleimer am Roecklplatz, und freut sich, wenn er sich die entsetzten Mütterblicke vorstellt, in ein paar Stunden, wenn eine von den Bugaboo-Mamis mit Latte-Glas vom Italiener die Hose mit spitzen Fingern aus dem Mülleimer zieht. Und vielleicht die Bullen ruft, oder das Gesundheitsamt. Dann denkt er noch mal kurz an Claudia und humpelt über die Ehrengut heim in die Au. Der Kiosk am Schyrenbad ist sicher noch offen. Auf ein letztes Bier.
Jeremias hat geschlafen. Nur so ist es möglich, dass die Katze ihm so viel Vertrauen geschenkt hat und nun eingerollt in seinem Schoß liegt. Auf der Suche nach Abwechslung ist sie zu ihm gekommen. Musste nicht lange suchen. Mit ihrer rauen Zunge leckt sie über Jeremias linke Hand. Jeremias erschrickt, im Schlaf. Und wenn Jeremias erschrickt aus seinen Träumen, dann schreit er. Und das erschreckt die Katze. Die springt hoch, die Katzenklappe knallt. Das Licht geht an, aber keiner kommt aus der Tür. Geblendet stiert Che Guevara Jeremias an! Und es ist als zuckte die Augenbraue im Fußabstreifer. Und Jeremias greift unwillkürlich nach dem Steakmesser, das ihm im Schlaf aus der Hand gefallen ist. Und sieht daran Rudis Blut kleben und will es dem Revolutionsführer hinstrecken. Zeigen, dass er die Claudi rächen kann. Jeremias will also auf Che Guevara zugehen, Haltung annehmen. Aber: Die Maler haben die Farbeimer stehen gelassen. Und Jeremias fällt über die Farbeimer vom dritten Treppenabsatz. So ohne Licht, wegen der Zeitschaltuhr, weil der Hausmeister doch sparen will, für die Investoren aus der Schweiz, die das Haus gekauft haben und sich nur nette Mieter wünschen. Nicht solche, wie diese blonde Frau im fünften Stock, die mit dem Tick durchs Treppenhaus läuft und immer “HA!” brüllt und im Nachthemd Desdemona rezitiert. Solche Mieter wollen sie nicht, und deswegen die kurze Einstellung der Flurbeleuchtung und andere kleine wirkungsvolle Schikanen. Das wird der Hausmeister später sagen, also auch das mit den Schikanen, weil schuld sein will er nicht. Aber jetzt fällt Jeremias erst mal über die Farbkübel und er fällt die Treppe runter, ungebremst. Weil seine linke Hand noch in Gedanken bei der Zunge der Katze ist und in der rechten Hand hält er das Steakmesser, richtig hoch, wie eine Trophäe, was keiner sieht, weil es dunkel ist. Und weil es das Schicksal heute so will, fällt er, als er sich reflexartig zusammenkugelt beim Fallen, in das Steakmesser, an dem noch Rudis Blut klebt, und weil die Milz so weich ist, absorbiert die quasi das Messer, und weil es dunkel ist, und das Haus nur noch von der Katze bewohnt wird, wegen der neuen Besitzer aus der Schweiz, die alle rausgekündigt haben, wird auch der Hausmeister den Jeremias erst finden, wenn der Milzriss dem toten Träumer einen ewigen Schlaf beschert hat. Einen Schlaf, den in der Nußbaumstraße einem 4-Bett-Zimmer auch die Claudia gerade sucht.
Den ganzen Spaziergang auf der Karte verfolgen ...