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Pioniersteg: „Eine Zierde für den Verein“

Den Sommer 1926 verbringt Marieluise Fleißer in Ingolstadt. Nach der Uraufführung ihres Stücks Fegefeuer in Ingolstadt im April des Jahres ist sie dank eines Vertrags mit dem Ullstein Verlag finanziell einigermaßen gut versorgt. Sie erwirbt endlich eine Schreibmaschine – und begibt sich auf die Suche nach einem Thema für ein neues Stück. Während eines Besuchs bei Bertolt Brecht in Augsburg berichtet sie diesem von der aktuellen Ingolstädter Attraktion: Am Künettegraben errichten Pioniere einen hölzernen Steg über die Schutter, den Nebenfluß der Donau, der damals noch quer durch die Südstadt fließt (wenn auch untertägig, d.h. überbaut und -brückt) und bei der heutigen Schutterstraße in die Donau mündet. Und so findet also Brecht ein Thema für das nächste Stück von Fleißer: Über die Pioniere in Ingolstadt soll sie schreiben! Das Stück Pioniere in Ingolstadt wird 1928 in Dresden uraufgeführt, prominent aber erst durch die Inszenierung 1929 am Berliner Theater am Schiffbauerdamm, die einen Skandal zur Folge hat, der das Verhältnis zwischen Fleißer und ihrer Heimatstadt für Jahre trübt. Und so avanciert Pioniere in Ingolstadt zum „verdammten Stück“, auch und gerade in Fleißers eigener Perspektive.

Groß scheint jedenfalls ihr Wille, anhand des Pionierstegs eine andere Geschichte zu erzählen als die der Pioniere in Ingolstadt: Schon 1930, ein Jahr nach dem Skandal, wird die hölzerne Brücke erneut zum Schauplatz der Fleißerschen Literatur. Und wieder fungiert sie als Ursache der Geschichte; diesmal stellt sie nicht den Grund dafür dar, dass Pioniere in die Stadt kommen (und das soziale Gefüge durcheinander bringen), sondern den Ort des ersten Augen-Blicks zwischen Gustl Gillich und Frieda Geier, von deren Beziehung der Roman Mehlreisende Frieda Geier (später: Eine Zierde für den Verein) erzählt. Und während im Drama die Brücke einem Sprengstoffanschlag zum Opfer fallen sollte, wird sie in Eine Zierde für den Verein gleichsam verhindert, denn Gustl und Kumpanen klauen das für den Brückenbau gedachte Holz und zimmern sich daraus einen Sprungturm. Gustl nämlich ist die „Zierde für den Verein“: Er ist der ewige Zukunftshoffnung des städtischen Schwimmvereins, der im Freibad im Künettegraben beheimatet ist. Guslt ist der „bekannte Krauler“, „ein Schwimmer und Retter“ – genau wie es Marieluise Fleißers späterer Ehemann Bepp Haindl.

Noch heute befindet sich das städtische Freibad im Künettegraben

Anders als die Fleißer bei Haindl setzt die Geier ihr Wissen, dass ihr treuer Verehrer eigentlich eine andere Frau als sie braucht, in die Realität um und trennt sich von ihm. „Frieda ahnt schattenhaft, daß es keineswegs aus sein wird, wenn sie Schluß macht. Dann fängt was an, von dem niemand weiß, wohin es führt“, heißt es in Eine Zierde für den Verein. Die Schriftstellerin entscheidet sich anders als ihre Figur und heiratet Josef Haindl 1935.

 


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Verfasst von: Bayerische Staatsbibliothek

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