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Neues Rathaus: „Der Venusberg“

1472 wird in Ingolstadt die erste bayerische Universität gegründet, die als intellektuelles Bollwerk der Gegen-Reformation und Kaderschmiede der Jesuiten fungiert; ab dem Jahr 1537 wird die Stadt zur Festungsstadt ausgebaut. Wer in solcher Atmosphäre aufwächst, der entwickelt vermutlich ein gutes Gespür für die Inszenierungen männlicher Macht, seien sie nun katholisch oder militärisch. Jedenfalls sticht das dramatische Talent der Luis Fleißer früh ins Auge. Als sie die Hauptrolle der alljährlichen Schulaufführung spielt, „fesselt“ sie, wie die Ingolstädter Zeitung schreibt, „durch ihr hingebungsvolles, aus tiefster Seele geschöpftes Spiel den Zuschauer“.

Das Neue Rathaus von Ingolstadt

Wo heute das Neue Ingolstädter Rathaus steht, befindet sich zu Kindheitszeiten von Luis Fleißer das Alte Theater. Die genaue damalige Lage kann man Fleißers Erzählung Der Venusberg entnehmen:

Salzstadel und Theater waren dicke Nachbarn, sie konnten sich in die Fenster sehen, der Platz hieß nicht wie heut. Er schrieb sich französisch nach dem Gouvernementgebäude, das ihn flankierte. Damals standen noch verschattete Bäume darauf, damals war er intimer, das freistehende Theater schnitt ihn schon vor der Schuttergasse ab.

Bemerkenswerterweise schildert diese Erzählung die theatrale Initiation eines Ichs als wiederholte Erkenntnis, dass dem schönen Schein nicht zu trauen ist. Die erste Begegnung mit dem Theater findet von außen statt; die Großmutter weist das fünfjährige Kind auf das Gebäude hin: „Sie zeigte es mir und rief es mit seinem Namen an. Das rätselhafte Wort ging mir seltsam ein, und seit es in meinen Kopf fiel, hat es mich nie ganz verlassen und machte Tumult und nahm mir die Ruhe weg.“ Vor allem lernt das Ich das Theater in einer Ausnahmesituation kennen, denn die Feuerwehr ist gerade zugange. Allein, selbst das Löschen und Rettungsrutschen entpuppt sich als Schauspiel: „Dies war die fällige Übung der Feuerwehr, das Stadttheater war nur angenommenes Brandobjekt.“ Und Zuhause verkleiden sich die Eltern regelrecht, wenn sie ins Theater aufbrechen. Sogar das Theater selbst spielt Theater: Vordereingang hui, Hintereingang pfui. Doch drinnen, endlich, ein „magischer Hohlraum“: „Ein Venusberg hatte sich rot aufgetan“.

Links das Telegramm von Moriz Seeler, in dem er sofortige Antwort erbittet, „ob einverstanden mit dem Titel Fußwaschung“. Rechts das Fegefeuer-Premierentelegramm von Fleißer an ihre Eltern: „Uraufführung gelungen Großer Beifall“.

Einen ähnlich „magischen Hohlraum“ stellt ab Frühjahr 1923 wohl Lion Feuchtwangers Münchner Arbeitszimmer dar, in dem dieser mit Bertolt Brecht an einem Stück schreibt, das Marieluise Fleißer – wie Feuchtwanger sie endgültig tauft – wenigstens teilweise zu lesen bekommt, während ihr der reizvolle Brecht noch bis März 1924 vorenthalten wird. Wohl nicht zufällig beginnt Fleißer just zu dieser Zeit mit der Arbeit an ihrem ersten Drama; es soll Die Fußwaschung heißen. Brecht vermittelt das Stück nach Berlin, an die dank Arnolt Bronnens Vatermord und Brechts Baal längst legendäre „Junge Bühne“ von Moriz Seeler. Doch Seeler gefällt der Titel nicht, er macht mehrere Vorschläge „und überfährt sie schließlich mit dem Titel Fegefeuer in Ingolstadt“, wie es in Meine Biographie heißt. Diese lokale Etikettierung wird Marieluise Fleißer nicht mehr los.

 


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Verfasst von: Bayerische Staatsbibliothek

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