Graf: Türkenstraße 57
Seitdem er 1917 in die Maxvorstadt gezogen ist, verbringt Oskar Maria Graf die Nächte nur allzu gerne in dem nach dem gleichnamigen Satireblatt benannten Lokal „Simplicissimus“ an der Türkenstraße 57. Im „Simpl“ lernt er die Diseuse Marietta und ihren Freund Anthony Hoboken kennen, in dessen Villa Graf und andere Künstler ausufernde Feste feiern. Mit Schwarzmarktgeschäften macht Graf am Ende des Ersten Weltkrieges im „Simpl“ das schnelle Geld. Im Roman Wir sind Gefangene schreibt er:
Ich warf mich erst recht auf das schnelle Verdienen. In den „Simplizissimus“ kam ich, setzte mich zwischen die diskutierenden Dichter und Künstler und zog auf einmal eine lange Hartwurst aus der einen Brusttasche, aus der anderen Damenstrümpfe, aus der Joppentasche feinste Schokolade. [...] (aus: Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis aus diesem Jahrzehnt. Werkausgabe in 16 Bänden. Hg. von Wilfried F. Schoeller. Bd. 1-13. List Verlag, München/Leipzig 1994, Bd. 1, S. 332f.)
Über die Verwerflichkeit seiner Geschäfte macht sich Graf durchaus Gedanken; doch der eigene Hunger, der „Hunger nach gutem Leben, Hunger nach Macht, Hunger auf alles Annehmliche, was die andern haben, die Satten, die Sicheren und die Überlegenen“ (ebenda, S. 332), überwiegt.
Bei den durchzechten Nächten erwirbt er sich schnell den Ruf als „lautester Dichter Münchens“ und damit auch den Ruf eines Provinzlers und bayerischen Unikums. Dieses Klischee pflegt er selbst nur allzu gerne, bedeutet es doch mehr Freiheiten und Eigenwilligkeiten für ihn, wenngleich er einen Vergleich mit einem anderen bayerischen Provinzschriftsteller scheut: mit Ludwig Thoma. Zwar bewundert Graf ihn, aber
[d]as Bayerische war nur eine Hälfte von mir, die andere unterschied sich sehr gründlich davon. Ein kaltes Grauen fiel mich an, wenn ich mir ausmalte, etwa wie Thoma zum allbeliebtesten bayrischen Nationaldichter aufzusteigen und auf diese Art behäbig mein weiteres Leben abzuleben. Thoma kam aus der Welt des ländlich-soliden, gehobenen Bürgertums und hatte nie die Schrecknisse, die Wirrungen und das rastlose Ausgeliefertsein an die unbekannten rohen Lebenstücken durchzustehen gehabt wie ich. (aus: Oskar Maria Graf: Gelächter von außen. Aus meinem Leben 1918-1933. Werkausgabe in 16 Bänden. Hg. von Wilfried F. Schoeller. Bd. 1-13. List Verlag, München/Leipzig 1994, Bd. 10, S. 257f.)
Beispielhaft für Grafs „Antibavarismus“ ist sein 1947 im Exil erschienener Roman Unruhe um einen Friedfertigen, in dem Graf in der bedrückenden Geschichte des Dorfschusters Julius Kraus die Entstehung und Verhärtung von Feindbildern schildert, wobei das Handeln der Dörfler exemplarisch für die nationalsozialistische Entwicklung im damaligen Deutschland steht.
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Seitdem er 1917 in die Maxvorstadt gezogen ist, verbringt Oskar Maria Graf die Nächte nur allzu gerne in dem nach dem gleichnamigen Satireblatt benannten Lokal „Simplicissimus“ an der Türkenstraße 57. Im „Simpl“ lernt er die Diseuse Marietta und ihren Freund Anthony Hoboken kennen, in dessen Villa Graf und andere Künstler ausufernde Feste feiern. Mit Schwarzmarktgeschäften macht Graf am Ende des Ersten Weltkrieges im „Simpl“ das schnelle Geld. Im Roman Wir sind Gefangene schreibt er:
Ich warf mich erst recht auf das schnelle Verdienen. In den „Simplizissimus“ kam ich, setzte mich zwischen die diskutierenden Dichter und Künstler und zog auf einmal eine lange Hartwurst aus der einen Brusttasche, aus der anderen Damenstrümpfe, aus der Joppentasche feinste Schokolade. [...] (aus: Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis aus diesem Jahrzehnt. Werkausgabe in 16 Bänden. Hg. von Wilfried F. Schoeller. Bd. 1-13. List Verlag, München/Leipzig 1994, Bd. 1, S. 332f.)
Über die Verwerflichkeit seiner Geschäfte macht sich Graf durchaus Gedanken; doch der eigene Hunger, der „Hunger nach gutem Leben, Hunger nach Macht, Hunger auf alles Annehmliche, was die andern haben, die Satten, die Sicheren und die Überlegenen“ (ebenda, S. 332), überwiegt.
Bei den durchzechten Nächten erwirbt er sich schnell den Ruf als „lautester Dichter Münchens“ und damit auch den Ruf eines Provinzlers und bayerischen Unikums. Dieses Klischee pflegt er selbst nur allzu gerne, bedeutet es doch mehr Freiheiten und Eigenwilligkeiten für ihn, wenngleich er einen Vergleich mit einem anderen bayerischen Provinzschriftsteller scheut: mit Ludwig Thoma. Zwar bewundert Graf ihn, aber
[d]as Bayerische war nur eine Hälfte von mir, die andere unterschied sich sehr gründlich davon. Ein kaltes Grauen fiel mich an, wenn ich mir ausmalte, etwa wie Thoma zum allbeliebtesten bayrischen Nationaldichter aufzusteigen und auf diese Art behäbig mein weiteres Leben abzuleben. Thoma kam aus der Welt des ländlich-soliden, gehobenen Bürgertums und hatte nie die Schrecknisse, die Wirrungen und das rastlose Ausgeliefertsein an die unbekannten rohen Lebenstücken durchzustehen gehabt wie ich. (aus: Oskar Maria Graf: Gelächter von außen. Aus meinem Leben 1918-1933. Werkausgabe in 16 Bänden. Hg. von Wilfried F. Schoeller. Bd. 1-13. List Verlag, München/Leipzig 1994, Bd. 10, S. 257f.)
Beispielhaft für Grafs „Antibavarismus“ ist sein 1947 im Exil erschienener Roman Unruhe um einen Friedfertigen, in dem Graf in der bedrückenden Geschichte des Dorfschusters Julius Kraus die Entstehung und Verhärtung von Feindbildern schildert, wobei das Handeln der Dörfler exemplarisch für die nationalsozialistische Entwicklung im damaligen Deutschland steht.
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