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Hermann Hesse, ca. 1927

Maximilianstr. 4 (später 17): Lesung im Hotel Vier Jahreszeiten

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Die einzige nachweisbare öffentliche Lesung Hermann Hesses in München[73] veranstaltete am Donnerstag, dem 18. April 1929, im Hotel Vier Jahreszeiten, Maximilianstraße 4 (heute 17), das Dichterforum der „Argonauten“. Dieser Verein war 1924 in München von einem Kreis um den Verleger Ernst Heimeran (1902-1955) und den Künstler und Dichter Ernst Penzoldt (1892-1955) gegründet worden. Als „Bund zeitgenössischer Dichter und Kunstfreunde“, der „die Pflege zeitgenössischer Dichtung durch regelmäßige Vortragsabende und gesellschaftliche Veranstaltungen“[74] anstrebte, bereicherten die „Argonauten“ das kulturelle Leben Münchens bis zur erzwungenen Auflösung Ende 1934 mit großem Schwung. Die Hesse-Lesung im Cherubin-Saal des Hotels Vier Jahreszeiten war bereits „der 60. Dichter-Abend“ der „Argonauten“.[75]

Schon die Ankündigung betonte die Einmaligkeit der Veranstaltung:

Hermann Hesse liest / Der Dichter, der sich im Sommer in Montagnola verborgen hält, im Winter in Zürich lebt, der noch unter dem Decknamen eines Emil Sinclair mit seinem ‚Demian‘ eine Generation erschütterte, der von sich selbst sagt, er sei unausstehlich, besuchen und besucht werden sei ihm gemeinhin ein Greuel, Hermann Hesse eine Berühmtheit und dennoch ein ganz Abseitiger also, macht eine Ausnahme und liest, wie wir heute schon mitteilen können, am Donnerstag, den 18. April, im Cherubin bei den Argonauten.[76]

Diese Ankündigung verfasste Ernst Heimeran, der mit Hesse zwei Jahre wegen der Lesung korrespondiert hatte.[77] Hesse hätte vermutlich auch diese Einladung nicht angenommen, wenn sie nicht aus München gekommen wäre: „Doch ist München mir als Stadt lieb, so dass ich gern einmal wieder hinkäme.“[78] Nach der Einigung auf den 18. April 1929 und der Mitteilung, dass er in diesen Tagen „als Gast bei Dr. Geheeb“ wohnen werde, bat Hesse darum, die Adresse nicht zu verraten und gab Heimeran ein paar Stichworte mit: „Ich bitte sehr, sagen Sie die Adresse nicht, und sagen Sie denen, die insistieren, dass Hesse ein unausstehlicher Kerl sei, der Besuche von Kollegen, Backfischen, Komponisten, Journalisten etc. etc. nicht leiden kann und eventuell grob wird. Im Uebrigen freue ich mich auf München“.[79] Heimeran setzte diese Hinweise wörtlich in seine Ankündigung um.

Der Abend fand lebhaften Zuspruch: „Der Saal war bis auf den letzten Platz ausgefüllt, vor die erste Reihe wurde eine noch erstere Reihe eingezwängt, in der sogar auf einem Stuhl Platz für zwei geschaffen werden mußte.“[80] Viele bekamen keine Karten mehr und mussten umkehren. „Und oben auf dem Podium saß der stürmisch begrüßte Dichter Hermann Hesse, ein asketisch ebenso beherrschtes Antlitz, bäuerischer Grundtyp, ins Geistige gelöst. Langsam trug er, von Wort zu Wort tastend, jedes betonend und feierlich aus dem Buchstaben hervorhebend, gelassen seinen Vortrag dem Ende entgegen.“[81]

Den Pressestimmen zufolge las Hesse das damals angeblich noch unveröffentlichte Kunstmärchen Piktors Verwandlungen (1954), das allerdings in einem Sonderdruck schon 1925 erschienen war[82], gefolgt von acht Gedichten, darunter „Der Dichter“, „September“, „Alle Tode“ und „Vergänglichkeit“, und schloss die Lesung mit dem Schlusskapitel „Govinda“ aus Siddharta. Eine indische Dichtung (1922). Man war zufrieden: „Es ergab sich ein gerundeter Einblick in die Vorstellungs- und Glaubenswelt, die sich der Dichter seit dem Krieg erarbeitet hat, als Abwehr gegen den von allen Seiten andringenden Pessimismus, das eigene und allgemeine Schuldgefühl, als Schutz seiner Romantik.“[83] „Ein „feiner und seltener Abend“[84], hieß es, und: „Herzlicher Beifall dankte.“[85]

Die anschließende Geselligkeit, von der Hesse, einer Erinnerung Hans Brandenburgs zufolge, unbedingt hatte „dispensiert“[86] werden wollen, war für Hesse eine lärmende Qual, die nur dadurch gelindert wurde, dass er an dem Abend als Ruhepol den Dichter Hans Carossa (1878-1956) kennenlernte, wie er ihm im Sommer 1929 in einem Brief aus Montagnola gestand: „Die eine Freude war Ihr Auftauchen an jenem Abend in München, wo ich inmitten dieser schnatternden und wilden Gesellschaft von lauter Redakteuren ohne Sie gewiß verzweifelt wäre.“[87]

Carossa, damals wohnhaft im Haus Theresienstraße 46 (heute Neubau, Gedenktafel von Eugen Weiß, 1978), hat seine Eindrücke der „Vorlesung von Hermann Hesse“ bereits am Tag darauf in einem Brief an seine spätere Frau Hedwig Kerber festgehalten:

Er hatte dem Vorsitzenden der Argonauten auf einer Karte mitgeteilt, daß jeder Grobheiten zu gewärtigen habe, der sich nach der Vorlesung ihm nähern wolle; doch ließ er mir und noch ein paar Menschen heimlich mitteilen, daß er furchtbar gern ein Glas Wein mit uns trinken möchte. Das Publikum war in solchen Massen angestürmt, daß die Hälfte wieder heimgehen mußte, und vor Respekt wagte kaum jemand zu räuspern, obgleich oder wahrscheinlich weil Hesse deutlich merken ließ, wie entsetzlich zuwider ihm die ganze Sache war. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie leidend und vergrämt dieser Mann aussah. Ich wollte mich gleich heimbegeben, aber da ereilte mich ein Bote von ihm, und nun saßen wir eine Stunde beisammen in einem äußerst fröhlichen Gespräch, sodaß ich ihn kaum mehr erkannte.[88]

Hesse lobte dabei Hans Carossas Rumänisches Tagebuch (1924) aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und stellte Carossa seine „sehr schöne Freundin“ vor, die aus Czernowitz stammende Ninon Dolbin, geb. Ausländer (1895-1966), die „ganze Stellen aus dem Tagebuch auswendig“[89] wusste und 1931 Hesses dritte Ehefrau wurde.

Noch 25 Jahre später erinnerte sich Hesse an diese Begegnung, als er Carossa sein „Piktormärchen“ in der Faksimile-Ausgabe der Handschrift mit acht Aquarellen zusandte: „Ich glaube, damals in München, als ich Sie nach einer Vorlesung zum erstenmal sah, habe ich dies Märchen, das damals neu war, vorgelesen. Nehmen Sie das farbige Ding freundlich auf, es eignet sich auch zum Vorlesen.“[90] Carossa dankte für das Geschenk am 1. März 1956: „Der Abend, an dem Sie das herrliche Märchen in München vorlasen, gehört zu den großen Erinnerungen meines Lebens, was für Zeiten waren das!“[91]

 


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[73] In seiner Rezension „Hermann Hesse liest“ (in: Münchener Zeitung, Nr. 108/109 vom 20./21.04.1929, S. 2) gibt Hans Brandenburg zwar den Hinweis auf eine frühere Lesung Hesses in München: „Die Neugier auf den Dichter (…) war umso größer, als dieser sich in München am Vortragstisch zuletzt vor dem Krieg hat hören lassen.“ Doch diese angebliche Lesung hat sich bislang nicht ermitteln lassen. Auch die Chronologie von Hesses Lesungen in: Michael Limberg (Hg.): Autorenabende mit Hermann Hesse (wie Anm. 41), S. 348-352 weist keine frühere Lesung Hesses in München nach; Limberg datiert jedoch Hesses Lesung, wie der Herausgeber der Hesse-Briefe Band 4 (vgl. Anm. 87), versehentlich auf den 20.04.1929 (ebd., S. 314, 351, 354).

[74] Vgl. Thomas Roth: Die „Argonauten“: ein Münchner Dichterforum – von Ernst Penzoldt mitgestaltet, in: Stadtmuseum und Stadtarchiv Erlangen (Hrsg.): Ernst Penzoldt. Kunst und Poesie. Ausstellung im Palais Stutterheim 3. Mai bis 14. Juni 1992. Erlangen 1992, S. 111-127, hier S. 111.

[75] Vgl. N.N.: Hermann Hesse liest aus eigenen neuen Werken. Argonauten Abend im Cherubinsaal, in: Münchner Post (München), Nr. 92 vom 20./21.04.1929, S. 2.

[76] Die Ankündigung erschien in: AZ am Abend (München), Nr. 84 vom 11.04.1929, S. 5 sowie am Tag darauf in den Münchner Neuesten Nachrichten (München), Nr. 99 vom 12.04.1929, S. 2.

[77] Vgl. die Auszüge aus den fünf Postkarten Hermann Hesses an Ernst Heimeran aus Montagnola, Zürich und Lörrach zwischen dem 18. Mai 1927 und dem 6. April 1929 in: Autographen & Bücher Eberhard Köstler, Tutzing, Katalog 11: Autographensammlung Ernst Heimeran (1902-1955). Mit einer Einleitung von Dr. Dirk Heißerer. Tutzing 2003, S. 61, Nr. 194. Hans Brandenburg gibt zwar an, er, nicht Heimeran, habe mit Hesse Kontakt aufgenommen, „was als besonders schwierig galt“, und Hesses „Zusage“ erhalten. Da Brandenburg in seinen Erinnerungen den Abend aber fälschlich in den „Spiegelsaal des Bayerischen Hofes“ verlegt, ist die Aussage zumindest zweifelhaft. Vgl. Hans Brandenburg: Im Feuer unserer Liebe. Erlebtes Schicksal einer Stadt. München 1956, S. 160f., hier S. 160.

[78] Ebd.

[79] Ebd.

[80] W.: Hermann Hesse liest, in: AZ am Abend (München), Nr. 92 vom 20./21.04.1929, S. 5.

[81] Ebd.

[82] Vgl. Hermann Hesse: Piktors Verwandlungen. Ein Märchen. Chemnitz (Gesellschaft der Bücherfreunde), 1925, 18 Seiten, 650 Exemplare; ders.: dass., Berlin, Frankfurt am Main (Suhrkamp Verlag) 1954, 36 Seiten, Faksimile-Ausgabe nach der Handschrift, Angaben nach: Joseph Mileck: Hermann Hesse. Biography and Bibliography. Berkeley, Los Angeles, London 1977, S. 240 (III, 29) und S. 221 (II, 111).

[83] Sp.: Hermann Hesse liest, in: Münchner Neueste Nachrichten (München), Nr. 108 vom 21.04.1929, S. 2.

[84] HB. [Hans Brandenburg?]: Hermann Hesse liest, in: Münchener Zeitung, Nr. 108/109 vom 20./21.04.1929, S. 2.

[85] e.k.: Hermann Hesse las (…), in: Bayerische Staatszeitung (München), Nr. 93 vom 24.04.1929, S. 4.

[86] Vgl. Hans Brandenburg. Im Feuer unserer Liebe (wie Anm. 77).

[87] Hermann Hesse: Brief an Hans Carossa, Montagnola, 21.07.1929, in: Hermann Hesse: Gesammelte Briefe, Zweiter Band (wie Anm. 5), Nr. 178, S. 220f., hier S. 221. Im Kommentar zum Wiederabdruck dieses Briefes datiert der Herausgeber die Lesung fälschlich auf den 20.04.1929, vgl. Hermann Hesse: Die Briefe. Band 4 (wie Anm. 47), S. 683. Zur Rolle Hans Carossas am Abend nach Hesses Lesung vgl. den Brief Hesses an Heinrich Wiegand vom Juli 1929, in: in: Hermann Hesse: Gesammelte Briefe, Zweiter Band (wie Anm. 5), Nr. 177, S. 218-220, hier S. 220.

[88] Hans Carossa: Brief an Hedwig Kerber, München, 19.04.1929, in: Hans Carossa: Briefe II: 1919-1936, hrsg. von Eva Kampmann-Carossa. Frankfurt am Main 1978, Nr. 157, S. 169-171, hier S. 170.

[89] Ebd.

[90] Hermann Hesse: Brief an Hans Carossa. Montagnola, Ende Oktober 1954, in: Hermann Hesse: Gesammelte Briefe, Vierter Band (wie Anm. 59), Nr. 245, S. 216.

[91] Hans Carossa: Brief an Hermann Hesse, Rittsteig bei Passau, 01.03.1955, in: Hans Carossa: Briefe III: 1937-1956, hrsg. von Eva Kampmann-Carossa. Frankfurt am Main 1981, Nr. 398, S. 498f., hier S. 499. Mit Dank für die freundliche Vermittlung einer Kopie des Originalbriefs an Dr. h.c. Eva Kampmann-Carossa (1930-2021).

Verfasst von: Dr. Dirk Heißerer

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