Besuch bei Thomas Mann (Poschingerstr. 1)
Hermann Hesse hatte sich in den Zwanziger Jahren so sehr in dem Schweizer Bergdorf Montagnola oberhalb von Lugano eingenistet, dass er von dort kaum noch zu längeren Reisen aufbrechen wollte, erst recht nicht zu Lesereisen in verschiedene Städte. Den Verlauf einer solchen, eher unlustig und missmutig unternommenen Reise, die ihn im November 1925 von Locarno über Zürich, Ulm, Augsburg und München nach Nürnberg führte, hat er in einem launigen Bericht festgehalten. Die Nürnberger Reise erschien 1927 als Einzelpublikation, illustriert von Hans Meid (1883-1957), mit dem Hinweis, dass der Text bereits Ende 1925 geschrieben worden sei.
Am Ende dieser Reise mit Lesungen in Ulm (3. November) und Augsburg (5. November) flüchtet sich Hesse zunächst nach München zu einem Freund, einem „von den guten und zuverlässigen“[41], gemeint ist Reinhold Geheeb (vgl. Station 13), fährt von dort nach Nürnberg zu seiner Lesung am 10. November vor dem Literarischen Bund im Künstlerhaus[42], kehrt schon am nächsten Tag zurück nach München und erholt sich eine gute Woche lang bei der Familie Geheeb in der Kratzerstraße 13. Durch Begegnungen mit Freunden und guten Bekannten kommt Hesse in den Tagen bis zu seiner Abreise (vermutlich am 20. November) bald wieder zu sich.
Am Samstag, dem 14. November 1925, sieht Hesse im Münchner Schauspielhaus an der Maximilianstraße 35 (heute 26) die Nachmittagsvorstellung des chinesischen Märchen- oder Hetärenspiels Der Kreidekreis (1925) von Klabund (1890-1928). Am Abend besucht er dann, für ihn eher ungewöhnlich, seinen Schriftstellerkollegen Thomas Mann (1875-1955) in dessen Haus im Münchner Herzogpark, Poschingerstraße 1.
ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Unbekannt / TMA_0285
In einem Brief an Emmy Ball-Hennings vom 15. November 1925 fasst Hesse den Besuch vom Vorabend so zusammen:
Gestern Abend (…) war ich zum Abendessen und bis spät in die Nacht hinein bei Thomas Mann, den ich wohl seit 16 oder 17 Jahren nicht mehr gesehen hatte, der sich aber nicht im mindesten verändert hat und in seiner gepflegten und wohlgelaunten Art mir wieder außerordentlich sympathisch war.[43]
Wann und wo die hier erinnerte Begegnung um 1909/10 stattgefunden hat, muss offenbleiben. Hesse und Thomas Mann kannten sich persönlich schon seit ihrer ersten Begegnung in einem Münchner Hotel Anfang April 1904, eingeladen von ihrem gemeinsamen Verleger Samuel Fischer. Hesse sah den Unterschied der beiden Autoren „schon an Kleidung und Schuhzeug“ und fragte Thomas Mann zudem, ob er „mit dem Autor der drei Romane der Herzogin von Assy“, also mit Heinrich Mann, verwandt sei, kurzum: Diese „erste Begegnung stand mehr unter dem Zeichen des Zufalls und einer rein literarischen Neugierde als dem einer beginnenden Freundschaft und Kameradschaft“.[44] Hesse hatte bereits 1903 Thomas Manns Novellenband Tristan mit kleinen Einschränkungen gelobt, und 1909 den Roman Königliche Hoheit eher kritisch gewürdigt, wofür ihm Thomas Mann brieflich jedoch ausdrücklich dankte.[45]
Den guten Eindruck, den Hermann Hesse von Thomas Mann bei dem Besuch am 14. November 1925 gewann, hat er noch etwas ausführlicher als in dem Brief an Emmy Ball-Hennings in der Nürnberger Reise (1927) festgehalten:
Ich war einen Abend bei Thomas Mann, ich wollte ihm zeigen, daß meine alte Liebe zu seiner Art nicht geschwunden sei, und ich hatte auch ein wenig Lust zu sehen, wie es nun wohl mit diesem Manne stehe, der seine Arbeit so treu und gediegen leistet und dennoch die Fragwürdigkeiten und Verzweiflungen unsres Berufs so tief zu kennen scheint. Bis lange in die Nacht saß ich an seinem Tisch, und er führte die Sache schön und stilvoll durch, in guter Laune, ein wenig herzlich, ein wenig spöttisch, beschützt von seinem schönen Hause, beschützt von seiner Klugheit und guten Form. Ich bin auch für diesen Abend dankbar.[46]
Thomas Mann wird nicht erst an diesem Abend in München die romantische Doppelseele Hesses zwischen dem weisen Siddharta (1922) und dem todessüchtigen Steppenwolf (1927) erkannt haben, die in Narziß und Goldmund (1930) kombiniert erscheint. Und so ist es auch kein großes Wunder, dass dieser Abend später im Werk Hesses, genauer im Glasperlenspiel, eine Spur hinterlassen hat. Davon gleich mehr. Von einem zweiten „Abend bei Thomas Mann“[47] berichtet Hesse am 30. April 1929 anlässlich seiner Lesung in München (Station 11).
Die Kollegen sahen sich wieder im März 1933, als für Thomas Mann in Lugano unversehens das Exil begann, er Hesse in Montagnola besuchte und mit ihm ausgedehnte Spaziergänge unternahm. (Abb. 15) Jetzt war es Hesse, der Thomas Mann als Besucher empfing: Hesse wohnte damals bereits seit August 1931 in seinem eigenen Haus, der Casa Hesse, das ihm seine Zürcher Freunde Elsy und Hans C. Bodmer nach seinen Wünschen erbaut und ihm auf Lebenszeit zur Verfügung gestellt hatten.
Aus den Kollegen wurden Freunde, die sich gegenseitig aus ihren Werken grüßten. So entdeckte Hesse in Thomas Manns zweitem Joseph-Roman, Der junge Joseph (1934), „den Gruß an den Steppenwolf“ und sah „mit frohem Schrecken auch dieses Symbol in die Unendlichkeit der Äonen und des Mythos zurückgerückt“.[48]
Gemeint ist der Unterricht, den Joseph durch Eliezer erfährt, und dabei vom „Waldmenschen Egidu“ hört „und wie die Dirne aus Uruk, der Stadt, ihn zur Gesittung bekehrte“ und es „vorzüglich“ gefunden habe, „wie die Dirne den Steppenwolf zustutzte, nachdem sie ihn durch ein Liebesleben von sechs Tagen und sieben Nächten für die Verfeinerung empfänglich gemacht“.[49]
Hermann Hesse wiederum lässt in seinem Glasperlenspiel (1943) Thomas Mann ungleich gewichtiger als „Meister Thomas von der Trave“ auftreten:
Glasperlenspielmeister war damals Thomas von der Trave, ein berühmter, weitgereister und weltgewandter Mann, konziliant und vom artigsten Entgegenkommen gegen jedermann, der sich ihm näherte, in den Spielangelegenheiten aber von wachsamster und asketischster Strenge, ein großer Arbeiter, was jene nicht ahnten, die ihn nur von der repräsentativen Seite kannten, etwa im Festornat als Leiter der großen Spiele oder beim Empfang von Abordnungen aus dem Ausland.[50]
Und dieser „Magister Ludi“ lädt nun den Helden Josef Knecht „eines Tages“ zu sich: Er „empfing ihn in seiner Wohnung, in Haustracht, und fragte ihn, ob es möglich und angenehm sein würde, in den nächsten Tagen, immer um diese Tageszeit für eine halbe Stunde zu kommen.“[51] Vom „Festornat“ zur „Haustracht“ – gut möglich, dass hier der Abend des 14. November 1925 in München mitgemeint ist, als Hermann Hesse und Thomas Mann sich derart vertraulich verständigt hatten, dass Thomas Manns Art – „er führte die Sache schön und stilvoll durch“ – durchaus als Vorbild, wenn nicht sogar als Anlass für die vielen folgenden Gespräche zwischen dem „Magister Ludi“ und Josef Knecht im Glasperlenspiel angesehen werden kann. Und als im Dezember 1934 in der Neuen Rundschau (Berlin) Hesses „Versuch einer allgemeinverständlichen Einführung in das Glasperlenspiel“ erschien, da las Thomas Mann dieses „Vorspiel zu seinem mysteriösen Spätwerk vom ‚Glasperlenspiel‘ (…), ‚als wär’s ein Stück von mir‘“.[52]
Aufgrund dieser Seelenverwandtschaft hat Thomas Mann im Gegenzug dem Freund eine vielsagende handschriftliche Widmung in seinen Roman Doktor Faustus (1947) eingetragen: „T.v.d.Tr. – Thomas von der Trave / Hermann Hesse / dies Glasperlenspiel mit schwarzen Perlen / von seinem Freunde / Thomas Mann“.[53]
Hesse dankte dem Freund Anfang März 1948 und meinte zugleich, dass „diesem höllischen und entzückenden Buch mit den gewohnten Kategorien nicht beizukommen“ sei.[54]
Konkreter, noch dazu mit einem Bezug auf München, hatte Hesse den Faustus schon Ende Januar 1948 in einem Brief an den Schweizer Literaturkritiker Otto Basler beurteilt. Das „‘faustisch‘ Deutsche“ des Romans habe Thomas Mann ergänzt durch „das Stück Zeitgeschichte und Schlüsselroman, den schlechteren aber auch amüsanteren Teil des Werkes“, und habe dadurch
insofern ins Schwarze getroffen, als München in der Geschichte der reaktionären Tendenzen wirklich eine führende Rolle gespielt hat und vermutlich auch heut noch spielt. Schon vor 1914 war es der Hauptsitz der ‚Alldeutschen‘, besonders einige Verleger stützten diese Bewegung. Nach dem ersten Krieg war es der Hauptort des sentimentalen Nationalismus, hier ließ man Eisner und Landauer ermorden, ließ Hitler groß werden, machte nach dem Putsch von 1923 seine Festungshaft zur Operette etc. etc.[55]
Die Freundschaft der Dichterkollegen war für beide etwas Besonderes. Schon in seinem Gruß zu Hesses 60. Geburtstag hatte Thomas Mann bekannt, er habe innerhalb der „literarischen Generation“, die mit ihm angetreten sei, Hesse schon „früh als den mir Nächsten und Liebsten erwählt und sein Wachstum mit einer Sympathie begleitet, die aus Verschiedenheiten so gut ihre Nahrung zog wie aus Ähnlichkeiten“.[56] Das Bekenntnis wiederholte er dann wortwörtlich im Gruß zu Hesses 70. Geburtstag.[57] Und so ist Hesse für Thomas Mann in seinem Gruß zu Hesses 75. Geburtstag 1952 weiterhin sein „würdiger Freund“, den er nur in einem Punkt ermahnt: „Und sterben Sie ja nicht vor mir!“[58]
Hesse hielt sich daran. Als Thomas Mann am 12. August 1955 in Zürich gestorben war, bekannte er gegenüber der Witwe Katia Mann, dass ihm in seinem „Kreise keine zweite so intensive langandauernde, keine so treue und fruchtbare Lebensgemeinschaft begegnet“ sei, und „der treue Freund“ ohne sie, Katia Mann, „dies so unerhört reiche, tapfere, große Leben (…) nicht (…) hätte leben und vollenden können“.[59] Öffentlich rief Hesse dem Freund in der Neuen Zürcher Zeitung einen Abschiedsgruß nach, der seine einzigartige Wertschätzung bekundet:
Was hinter seiner Ironie und seiner Virtuosität an Herz, an Treue, Verantwortlichkeit und Liebesfähigkeit stand, jahrzehntelang völlig unbegriffen vom großen deutschen Publikum, das wird sein Werk und Andenken weit über unsere verworrenen Zeiten hinaus lebendig erhalten.[60]
[41] Hermann Hesse: Die Nürnberger Reise (1927), in: Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Band 11 (wie Anm. 6), S. 129-182, hier S. 178f.; zur Fahrt von Augsburg nach München am 06.11.1925 vgl. das Zitat aus dem Brief Hesses an Major Eugen Link aus Augsburg vom 06.11.1925, in: Michael Limberg (Hg.): Autorenabende mit Hermann Hesse. Eine Dokumentation.Norderstedt 2016, S. 263.
[42] Vgl. Jürgen Below: Hermann Hesse Bibliographie. Sekundärliteratur 1899-2007. Band 1. Berlin, New York 2007, S. 513f.
[43] Hermann Hesse: Brief an Emmy Ball-Hennings, München, 15.11.1925, in: Hermann Hesse, Emmy Ball-Hennings, Hugo Ball: Briefwechsel 1921 bis 1927, hrsg. und kommentiert von Bärbel Reetz. Frankfurt am Main 2003, Nr. 163, S. 350-352, hier S. 351f. (S. 352 die Klabund-Kreidekreis-Erwähnung). Vgl. die falsche Datierung „25.11.1925“ und das korrumpierte Zitat in: Volker Michels: Vorwort, in: Hermann Hesse, Thomas Mann: Briefwechsel, hrsg. von Anni Carlsson und Volker Michels. Frankfurt am Main 22007, S. 7-41, hier S. 26.
[44] Vgl. Hermann Hesse: An Thomas Mann zu seinem 75. Geburtstag (1950), in: Hermann Hesse, Thomas Mann: Briefwechsel (wie Anm. 43), S. 277f., hier S. 277, sowie den Brief an Thomas Mann, Marin près Neuchâtel, 19.11.1946 in: ebd., S. 387f.; zur Datierung des Treffens in München Anfang April 1904 vgl. die Briefe Samuel Fischers an Hermann Hesse, Rapallo, 1.3.1904 und Berlin, 22.4.1904, in: Samuel Fischer, Hedwig Fischer: Briefwechsel mit Autoren, hrsg. von Dierk Rodewald und Corinna Fiedler. Frankfurt am Main 1989, Nrn. 705 und 706, S. 617f.
[45] Vgl. Hermann Hesse, Thomas Mann: Briefwechsel (wie Anm. 43), S. 43-50.
[46] Hermann Hesse: Die Nürnberger Reise (1927) (wie Anm. 42), S. 180.
[47] Hermann Hesse: Brief an seinen Sohn Bruno, Zürich, 30.04.1929, in: Hermann Hesse: Die Briefe. Band 4: 1924-1932, hrsg. von Volker Michels. Berlin 2016, S. 323.
[48] Hermann Hesse: Postkarte an Thomas Mann, Anfang April 1934, in: Hermann Hesse, Thomas Mann: Briefwechsel (wie Anm. 43), S. 107.
[49] Thomas Mann: Der junge Joseph (1934). Erstes Hauptstück: Thot, Der Unterricht, in: Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Band 7.1: Joseph und seine Brüder I. Die Geschichten Jaakobs. Roman; Der junge Joseph. Roman. Frankfurt am Main 2018, S. 382.
[50] Hermann Hesse: Sämtliche Werke. Band 5: Die Romane. Das Glasperlenspiel. Frankfurt am Main 2003, S. 123.
[51] Ebd., S. 124.
[52] Thomas Mann: Dem sechzigjährigen Hermann Hesse (1937), in: Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Band XIII. Nachträge. Frankfurt am Main 1974, S. 840-843, hier S. 842.
[53] Vgl. Hermann Hesse, Thomas Mann: Briefwechsel (wie Anm. 43), Abb. 17 (nach S. 286).
[54] Hermann Hesse: Brief an Thomas Mann, Anfang März 1948, in: Ebd., S. 254.
[55] Hermann Hesse: Brief an Otto Basler [20.1.1948], in: Hermann Hesse: Gesammelte Briefe, Dritter Band (wie Anm. 2), Nr. 450, S. 457f.; vgl. dazu den ähnlich lautenden kritischen Brief Hesses an Horst Kliemann von 1948, worin er München als „die Stadt der Hitlerei par excellence“ bezeichnet, in: ebd., Nr. 492, S. 494.
[56] Thomas Mann: Dem sechzigjährigen Hermann Hesse (1937) (wie Anm. 52).
[57] Thomas Mann: Hermann Hesse zum siebzigsten Geburtstag (1947), in: Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band X, Reden und Aufsätze 2, Frankfurt am Main 1974, S. 515-520, hier S. 519.
[58] Thomas Mann: [An Hermann Hesse], in: Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band X (wie Anm. 57), S. 529f., hier S. 529.
[59] Hermann Hesse: Brief an Katia Mann, Sils Maria [nach dem 12.08.1955], in: Hermann Hesse: Gesammelte Briefe, Vierter Band: 1949-1962, hrsg. von Volker Michels, Frankfurt am Main 1986, Nr. 279, S. 244
[60] Hermann Hesse, Thomas Mann: Briefwechsel (wie Anm. 43), S. 322.
Hermann Hesse hatte sich in den Zwanziger Jahren so sehr in dem Schweizer Bergdorf Montagnola oberhalb von Lugano eingenistet, dass er von dort kaum noch zu längeren Reisen aufbrechen wollte, erst recht nicht zu Lesereisen in verschiedene Städte. Den Verlauf einer solchen, eher unlustig und missmutig unternommenen Reise, die ihn im November 1925 von Locarno über Zürich, Ulm, Augsburg und München nach Nürnberg führte, hat er in einem launigen Bericht festgehalten. Die Nürnberger Reise erschien 1927 als Einzelpublikation, illustriert von Hans Meid (1883-1957), mit dem Hinweis, dass der Text bereits Ende 1925 geschrieben worden sei.
Am Ende dieser Reise mit Lesungen in Ulm (3. November) und Augsburg (5. November) flüchtet sich Hesse zunächst nach München zu einem Freund, einem „von den guten und zuverlässigen“[41], gemeint ist Reinhold Geheeb (vgl. Station 13), fährt von dort nach Nürnberg zu seiner Lesung am 10. November vor dem Literarischen Bund im Künstlerhaus[42], kehrt schon am nächsten Tag zurück nach München und erholt sich eine gute Woche lang bei der Familie Geheeb in der Kratzerstraße 13. Durch Begegnungen mit Freunden und guten Bekannten kommt Hesse in den Tagen bis zu seiner Abreise (vermutlich am 20. November) bald wieder zu sich.
Am Samstag, dem 14. November 1925, sieht Hesse im Münchner Schauspielhaus an der Maximilianstraße 35 (heute 26) die Nachmittagsvorstellung des chinesischen Märchen- oder Hetärenspiels Der Kreidekreis (1925) von Klabund (1890-1928). Am Abend besucht er dann, für ihn eher ungewöhnlich, seinen Schriftstellerkollegen Thomas Mann (1875-1955) in dessen Haus im Münchner Herzogpark, Poschingerstraße 1.
ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Unbekannt / TMA_0285
In einem Brief an Emmy Ball-Hennings vom 15. November 1925 fasst Hesse den Besuch vom Vorabend so zusammen:
Gestern Abend (…) war ich zum Abendessen und bis spät in die Nacht hinein bei Thomas Mann, den ich wohl seit 16 oder 17 Jahren nicht mehr gesehen hatte, der sich aber nicht im mindesten verändert hat und in seiner gepflegten und wohlgelaunten Art mir wieder außerordentlich sympathisch war.[43]
Wann und wo die hier erinnerte Begegnung um 1909/10 stattgefunden hat, muss offenbleiben. Hesse und Thomas Mann kannten sich persönlich schon seit ihrer ersten Begegnung in einem Münchner Hotel Anfang April 1904, eingeladen von ihrem gemeinsamen Verleger Samuel Fischer. Hesse sah den Unterschied der beiden Autoren „schon an Kleidung und Schuhzeug“ und fragte Thomas Mann zudem, ob er „mit dem Autor der drei Romane der Herzogin von Assy“, also mit Heinrich Mann, verwandt sei, kurzum: Diese „erste Begegnung stand mehr unter dem Zeichen des Zufalls und einer rein literarischen Neugierde als dem einer beginnenden Freundschaft und Kameradschaft“.[44] Hesse hatte bereits 1903 Thomas Manns Novellenband Tristan mit kleinen Einschränkungen gelobt, und 1909 den Roman Königliche Hoheit eher kritisch gewürdigt, wofür ihm Thomas Mann brieflich jedoch ausdrücklich dankte.[45]
Den guten Eindruck, den Hermann Hesse von Thomas Mann bei dem Besuch am 14. November 1925 gewann, hat er noch etwas ausführlicher als in dem Brief an Emmy Ball-Hennings in der Nürnberger Reise (1927) festgehalten:
Ich war einen Abend bei Thomas Mann, ich wollte ihm zeigen, daß meine alte Liebe zu seiner Art nicht geschwunden sei, und ich hatte auch ein wenig Lust zu sehen, wie es nun wohl mit diesem Manne stehe, der seine Arbeit so treu und gediegen leistet und dennoch die Fragwürdigkeiten und Verzweiflungen unsres Berufs so tief zu kennen scheint. Bis lange in die Nacht saß ich an seinem Tisch, und er führte die Sache schön und stilvoll durch, in guter Laune, ein wenig herzlich, ein wenig spöttisch, beschützt von seinem schönen Hause, beschützt von seiner Klugheit und guten Form. Ich bin auch für diesen Abend dankbar.[46]
Thomas Mann wird nicht erst an diesem Abend in München die romantische Doppelseele Hesses zwischen dem weisen Siddharta (1922) und dem todessüchtigen Steppenwolf (1927) erkannt haben, die in Narziß und Goldmund (1930) kombiniert erscheint. Und so ist es auch kein großes Wunder, dass dieser Abend später im Werk Hesses, genauer im Glasperlenspiel, eine Spur hinterlassen hat. Davon gleich mehr. Von einem zweiten „Abend bei Thomas Mann“[47] berichtet Hesse am 30. April 1929 anlässlich seiner Lesung in München (Station 11).
Die Kollegen sahen sich wieder im März 1933, als für Thomas Mann in Lugano unversehens das Exil begann, er Hesse in Montagnola besuchte und mit ihm ausgedehnte Spaziergänge unternahm. (Abb. 15) Jetzt war es Hesse, der Thomas Mann als Besucher empfing: Hesse wohnte damals bereits seit August 1931 in seinem eigenen Haus, der Casa Hesse, das ihm seine Zürcher Freunde Elsy und Hans C. Bodmer nach seinen Wünschen erbaut und ihm auf Lebenszeit zur Verfügung gestellt hatten.
Aus den Kollegen wurden Freunde, die sich gegenseitig aus ihren Werken grüßten. So entdeckte Hesse in Thomas Manns zweitem Joseph-Roman, Der junge Joseph (1934), „den Gruß an den Steppenwolf“ und sah „mit frohem Schrecken auch dieses Symbol in die Unendlichkeit der Äonen und des Mythos zurückgerückt“.[48]
Gemeint ist der Unterricht, den Joseph durch Eliezer erfährt, und dabei vom „Waldmenschen Egidu“ hört „und wie die Dirne aus Uruk, der Stadt, ihn zur Gesittung bekehrte“ und es „vorzüglich“ gefunden habe, „wie die Dirne den Steppenwolf zustutzte, nachdem sie ihn durch ein Liebesleben von sechs Tagen und sieben Nächten für die Verfeinerung empfänglich gemacht“.[49]
Hermann Hesse wiederum lässt in seinem Glasperlenspiel (1943) Thomas Mann ungleich gewichtiger als „Meister Thomas von der Trave“ auftreten:
Glasperlenspielmeister war damals Thomas von der Trave, ein berühmter, weitgereister und weltgewandter Mann, konziliant und vom artigsten Entgegenkommen gegen jedermann, der sich ihm näherte, in den Spielangelegenheiten aber von wachsamster und asketischster Strenge, ein großer Arbeiter, was jene nicht ahnten, die ihn nur von der repräsentativen Seite kannten, etwa im Festornat als Leiter der großen Spiele oder beim Empfang von Abordnungen aus dem Ausland.[50]
Und dieser „Magister Ludi“ lädt nun den Helden Josef Knecht „eines Tages“ zu sich: Er „empfing ihn in seiner Wohnung, in Haustracht, und fragte ihn, ob es möglich und angenehm sein würde, in den nächsten Tagen, immer um diese Tageszeit für eine halbe Stunde zu kommen.“[51] Vom „Festornat“ zur „Haustracht“ – gut möglich, dass hier der Abend des 14. November 1925 in München mitgemeint ist, als Hermann Hesse und Thomas Mann sich derart vertraulich verständigt hatten, dass Thomas Manns Art – „er führte die Sache schön und stilvoll durch“ – durchaus als Vorbild, wenn nicht sogar als Anlass für die vielen folgenden Gespräche zwischen dem „Magister Ludi“ und Josef Knecht im Glasperlenspiel angesehen werden kann. Und als im Dezember 1934 in der Neuen Rundschau (Berlin) Hesses „Versuch einer allgemeinverständlichen Einführung in das Glasperlenspiel“ erschien, da las Thomas Mann dieses „Vorspiel zu seinem mysteriösen Spätwerk vom ‚Glasperlenspiel‘ (…), ‚als wär’s ein Stück von mir‘“.[52]
Aufgrund dieser Seelenverwandtschaft hat Thomas Mann im Gegenzug dem Freund eine vielsagende handschriftliche Widmung in seinen Roman Doktor Faustus (1947) eingetragen: „T.v.d.Tr. – Thomas von der Trave / Hermann Hesse / dies Glasperlenspiel mit schwarzen Perlen / von seinem Freunde / Thomas Mann“.[53]
Hesse dankte dem Freund Anfang März 1948 und meinte zugleich, dass „diesem höllischen und entzückenden Buch mit den gewohnten Kategorien nicht beizukommen“ sei.[54]
Konkreter, noch dazu mit einem Bezug auf München, hatte Hesse den Faustus schon Ende Januar 1948 in einem Brief an den Schweizer Literaturkritiker Otto Basler beurteilt. Das „‘faustisch‘ Deutsche“ des Romans habe Thomas Mann ergänzt durch „das Stück Zeitgeschichte und Schlüsselroman, den schlechteren aber auch amüsanteren Teil des Werkes“, und habe dadurch
insofern ins Schwarze getroffen, als München in der Geschichte der reaktionären Tendenzen wirklich eine führende Rolle gespielt hat und vermutlich auch heut noch spielt. Schon vor 1914 war es der Hauptsitz der ‚Alldeutschen‘, besonders einige Verleger stützten diese Bewegung. Nach dem ersten Krieg war es der Hauptort des sentimentalen Nationalismus, hier ließ man Eisner und Landauer ermorden, ließ Hitler groß werden, machte nach dem Putsch von 1923 seine Festungshaft zur Operette etc. etc.[55]
Die Freundschaft der Dichterkollegen war für beide etwas Besonderes. Schon in seinem Gruß zu Hesses 60. Geburtstag hatte Thomas Mann bekannt, er habe innerhalb der „literarischen Generation“, die mit ihm angetreten sei, Hesse schon „früh als den mir Nächsten und Liebsten erwählt und sein Wachstum mit einer Sympathie begleitet, die aus Verschiedenheiten so gut ihre Nahrung zog wie aus Ähnlichkeiten“.[56] Das Bekenntnis wiederholte er dann wortwörtlich im Gruß zu Hesses 70. Geburtstag.[57] Und so ist Hesse für Thomas Mann in seinem Gruß zu Hesses 75. Geburtstag 1952 weiterhin sein „würdiger Freund“, den er nur in einem Punkt ermahnt: „Und sterben Sie ja nicht vor mir!“[58]
Hesse hielt sich daran. Als Thomas Mann am 12. August 1955 in Zürich gestorben war, bekannte er gegenüber der Witwe Katia Mann, dass ihm in seinem „Kreise keine zweite so intensive langandauernde, keine so treue und fruchtbare Lebensgemeinschaft begegnet“ sei, und „der treue Freund“ ohne sie, Katia Mann, „dies so unerhört reiche, tapfere, große Leben (…) nicht (…) hätte leben und vollenden können“.[59] Öffentlich rief Hesse dem Freund in der Neuen Zürcher Zeitung einen Abschiedsgruß nach, der seine einzigartige Wertschätzung bekundet:
Was hinter seiner Ironie und seiner Virtuosität an Herz, an Treue, Verantwortlichkeit und Liebesfähigkeit stand, jahrzehntelang völlig unbegriffen vom großen deutschen Publikum, das wird sein Werk und Andenken weit über unsere verworrenen Zeiten hinaus lebendig erhalten.[60]
[41] Hermann Hesse: Die Nürnberger Reise (1927), in: Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Band 11 (wie Anm. 6), S. 129-182, hier S. 178f.; zur Fahrt von Augsburg nach München am 06.11.1925 vgl. das Zitat aus dem Brief Hesses an Major Eugen Link aus Augsburg vom 06.11.1925, in: Michael Limberg (Hg.): Autorenabende mit Hermann Hesse. Eine Dokumentation.Norderstedt 2016, S. 263.
[42] Vgl. Jürgen Below: Hermann Hesse Bibliographie. Sekundärliteratur 1899-2007. Band 1. Berlin, New York 2007, S. 513f.
[43] Hermann Hesse: Brief an Emmy Ball-Hennings, München, 15.11.1925, in: Hermann Hesse, Emmy Ball-Hennings, Hugo Ball: Briefwechsel 1921 bis 1927, hrsg. und kommentiert von Bärbel Reetz. Frankfurt am Main 2003, Nr. 163, S. 350-352, hier S. 351f. (S. 352 die Klabund-Kreidekreis-Erwähnung). Vgl. die falsche Datierung „25.11.1925“ und das korrumpierte Zitat in: Volker Michels: Vorwort, in: Hermann Hesse, Thomas Mann: Briefwechsel, hrsg. von Anni Carlsson und Volker Michels. Frankfurt am Main 22007, S. 7-41, hier S. 26.
[44] Vgl. Hermann Hesse: An Thomas Mann zu seinem 75. Geburtstag (1950), in: Hermann Hesse, Thomas Mann: Briefwechsel (wie Anm. 43), S. 277f., hier S. 277, sowie den Brief an Thomas Mann, Marin près Neuchâtel, 19.11.1946 in: ebd., S. 387f.; zur Datierung des Treffens in München Anfang April 1904 vgl. die Briefe Samuel Fischers an Hermann Hesse, Rapallo, 1.3.1904 und Berlin, 22.4.1904, in: Samuel Fischer, Hedwig Fischer: Briefwechsel mit Autoren, hrsg. von Dierk Rodewald und Corinna Fiedler. Frankfurt am Main 1989, Nrn. 705 und 706, S. 617f.
[45] Vgl. Hermann Hesse, Thomas Mann: Briefwechsel (wie Anm. 43), S. 43-50.
[46] Hermann Hesse: Die Nürnberger Reise (1927) (wie Anm. 42), S. 180.
[47] Hermann Hesse: Brief an seinen Sohn Bruno, Zürich, 30.04.1929, in: Hermann Hesse: Die Briefe. Band 4: 1924-1932, hrsg. von Volker Michels. Berlin 2016, S. 323.
[48] Hermann Hesse: Postkarte an Thomas Mann, Anfang April 1934, in: Hermann Hesse, Thomas Mann: Briefwechsel (wie Anm. 43), S. 107.
[49] Thomas Mann: Der junge Joseph (1934). Erstes Hauptstück: Thot, Der Unterricht, in: Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Band 7.1: Joseph und seine Brüder I. Die Geschichten Jaakobs. Roman; Der junge Joseph. Roman. Frankfurt am Main 2018, S. 382.
[50] Hermann Hesse: Sämtliche Werke. Band 5: Die Romane. Das Glasperlenspiel. Frankfurt am Main 2003, S. 123.
[51] Ebd., S. 124.
[52] Thomas Mann: Dem sechzigjährigen Hermann Hesse (1937), in: Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Band XIII. Nachträge. Frankfurt am Main 1974, S. 840-843, hier S. 842.
[53] Vgl. Hermann Hesse, Thomas Mann: Briefwechsel (wie Anm. 43), Abb. 17 (nach S. 286).
[54] Hermann Hesse: Brief an Thomas Mann, Anfang März 1948, in: Ebd., S. 254.
[55] Hermann Hesse: Brief an Otto Basler [20.1.1948], in: Hermann Hesse: Gesammelte Briefe, Dritter Band (wie Anm. 2), Nr. 450, S. 457f.; vgl. dazu den ähnlich lautenden kritischen Brief Hesses an Horst Kliemann von 1948, worin er München als „die Stadt der Hitlerei par excellence“ bezeichnet, in: ebd., Nr. 492, S. 494.
[56] Thomas Mann: Dem sechzigjährigen Hermann Hesse (1937) (wie Anm. 52).
[57] Thomas Mann: Hermann Hesse zum siebzigsten Geburtstag (1947), in: Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band X, Reden und Aufsätze 2, Frankfurt am Main 1974, S. 515-520, hier S. 519.
[58] Thomas Mann: [An Hermann Hesse], in: Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band X (wie Anm. 57), S. 529f., hier S. 529.
[59] Hermann Hesse: Brief an Katia Mann, Sils Maria [nach dem 12.08.1955], in: Hermann Hesse: Gesammelte Briefe, Vierter Band: 1949-1962, hrsg. von Volker Michels, Frankfurt am Main 1986, Nr. 279, S. 244
[60] Hermann Hesse, Thomas Mann: Briefwechsel (wie Anm. 43), S. 322.