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Franz Kafka (Fotografie aus dem Atelier Jacobi, 1906)

Glaspalast

Ein fraglicher Tag in München. Dass Franz Kafka am 12. Oktober 1913 auf der Rückreise von Riva am Gardasee nach Prag in München Station gemacht hat, wäre kaum der Rede wert, wenn der dreiwöchige Aufenthalt Kafkas in einem Reformsanatorium nicht so interessant und literarisch folgenreich gewesen wäre. „Der Aufenthalt in Riva hatte für mich eine große Wichtigkeit“, heißt es am 15. Oktober im Tagebuch.[1] Kafkas konnte seine dort verstärkt erwogenen Zweifel an seiner ganzen Existenz zwischen Amt, Literatur, Judentum und möglicher Ehe auch durch die Anwendungen in der berühmten „Wasserheilanstalt“ nicht ausräumen. Sein Besuch in Malcesine auf den Spuren von Goethes Italienischer Reise (1816), mehr noch die unverhoffte Liebe zu einer jungen Frau, einer 18-jährigen Christin, für die er, wieder zurück in Prag, in mehreren verteilten Fragmenten die für ihn (und Riva) so aufschlussreiche Geschichte „Der Jager Gracchus“ schreiben wird (die er im Zusammenhang ebenso wenig jemals lesen wird wie die Adressatin) – all das damals Erlebte ist bis ins Detail wiederholt dargestellt worden.[2] Was aber hat das mit München zu tun?

Am Ende seiner ersten Woche im Sanatorium Dr. von Hartungen schreibt Franz Kafka am 28. September 1913 seinem Freund Max Brod einen Brief, dem er eine kurze Nachschrift anfügt:

„Auf der Rückfahrt bleibe ich einen Tag in München; wenn Du irgendeinen Botengang (ernsthafteres dürfte es nichts sein) für mich hättest, dann schreibe mir. Es wäre das einzige Nützliche was ich in München tun würde“.[3]

Was könnte das für ein „Botengang“ gewesen sein? Vielleicht wieder einer in Sachen Kunst, wie im November 1903 für Paul Kisch, was aber wegen der falschen Adresse der Pension Lorenz schief gegangen war (Station 1)? Wenn Kafka am Samstag, dem 11. Oktober 1913, von Riva so rechtzeitig abgereist sein sollte[4], um wenigstens den Sonntagvormittag in München zu verbringen und spät abends in Prag anzukommen, könnte er in diesen Stunden bis mittags den Besuch im Glaspalast nachgeholt haben, was die Schließung des Gebäudes im November 1903 verhindert hatte. Das war jetzt anders. Die XI. Internationale Kunstausstellung war bis Ende Oktober 1913 täglich von 9 Uhr bis 18 Uhr geöffnet. Der Besuch im Glaspalast, vom Bahnhof aus rasch erreichbar, konnte gut das zweite „Nützliche“ von Kafkas kurzem Aufenthalt in München sein, und als ‚Bote‘ hätte er Max Brod sicher davon berichtet.

 


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[1] Franz Kafka: Tagebücher (wie Anm. 114), S. 582.

[2] Vgl. Albino Tonelli: Il secondo viaggio a Riva (1913), in: Albino Tonelli: Ai confini della Mitteleuropa. Il Sanatorium von Hartungen di Riva del Garda. Dai fratelli Mann a Kafka gli ospiti della cultura europeas. Riva del Garda / Trento 1995, S. 269-293; Dirk Heißerer: Der Jäger Gracchus. Franz Kafka, in: Heißerer 1999 (wie Anm. 106), S. 173-198; Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Entscheidungen 1910-1915. Frankfurt am Main 2002, 72017, S. 420-429; Hartmut Binder: Im Sanatorium Hartungen; Der Jäger Gracchus, in: Hartmut Binder: Mit Kafka in den Süden. Eine historische Bilderreise in die Schweiz und zu den oberitalienischen Seen. Praha 2007, S. 85-96, 97-104.

[3] Franz Kafka: Brief an Max Brod in Prag, Riva, 28.9.1913, in: Franz Kafka: Briefe 1913 - März 1914, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main 1999, S. 285f., hier S. 286, Brief 615.

[4] Reiner Stach nennt als Abreisetag den 11. Oktober (in: Stach 2017 (wie Anm. 14), S. 244). Tonelli 1995 (vgl. Anm. 118), S. 287 lässt Kafka am 12. Oktober abreisen. Für die Herausgeber der Tagebücher Kafkas endet der Aufenthalt schon am 6. Oktober (vgl. Franz Kafka: Tagebücher (wie Anm. 114), S. 145).

Verfasst von: Dr. Dirk Heißerer

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