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Franz Kafka (Fotografie aus dem Atelier Jacobi, 1906)

Stadtrundfahrt

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Abb. 12. Hauptbahnhof München, 1911. In: Die Saison (München), Jg. 16 (1911), H. 1 (Sonderheft München), S. 17. Privatbesitz.

Junggesellen unterwegs. Max Brod und Franz Kafka reisten im September 1909 nach Riva am Gardasee und im Oktober 1910 nach Paris.[1] Ende August 1911 führt sie die dritte und letzte gemeinsame Urlaubsreise drei Wochen von Prag über München in die Schweiz, nach Italien und wieder nach Paris. Die Freunde, 28 und 27 Jahre alt, haben aber nicht nur ein touristisches, sondern auch ein literarisches Reiseziel. Sie wollen die Erlebnisse in ihren jeweiligen Tagebüchern festhalten und daraus ein gemeinsames Buch entwickeln. Das Vorhaben kommt zwar über das erste Kapitel nicht hinaus, doch der anfängliche Schwung führt gleich am Anfang zu einem erotisch prickelnden Abenteuer mit einer Zufallsbekanntschaft auf einer nächtlichen Stadtrundfahrt durch das verregnete München, absurd und kurios. Da das erste (und einzige) „Kapitel des Buches ‚Richard und Samuel‘“[2] im Mai 1912 schon veröffentlicht wurde und mittlerweile auch die handschriftlichen Aufzeichnungen dazu vorliegen, lassen sich das konkrete wie das literarische Reiseabenteuer sehr gut nachvollziehen.

Es beginnt in Prag am 26. August 1911 mit der Abfahrt des Zuges nach München um 13:02 Uhr. In Pilsen kommt der Zug um 15:03 Uhr an; eine junge Dame, Angela Rehberger, 24 Jahre, Tochter eines Offiziers, steigt zu, und im Abteil kommt das Trio in ein lebhaftes Gespräch. Während die junge Frau darauf sinnt, mit einem Kartenscherz ihre Bürokollegen zu foppen, haben es ihre neuen Bekannten insgeheim auf ein erotisches Abenteuer mit ihr abgesehen, das in München mit einer nächtlichen Stadtrundfahrt beginnen soll. Bei der Ankunft in der Residenzstadt um 21:43 Uhr ist es zwar dunkel und es regnet, außerdem sträubt sich die junge Dame ein wenig, mit den beiden jungen Männern loszufahren, – Kafka fühlt sich erinnert an den seinerzeit aktuellen Stummfilm „‘Die weiße Sklavin‘, in dem die unschuldige Heldin gleich am Bahnhofsausgang im Dunkel von fremden Männern in ein Automobil gedrängt und weggeführt wird“[3] ­, aber dann geht es doch mit einem Taxi los.

Man hat eine halbe Stunde Zeit. Im Romankapitel sind Richard (alias Kafka) und Samuel (alias Brod) mit Dora Lippert (alias Angela Rehberger) unterwegs, die Passage wird aus der Sicht Richards geschildert:

„Der Chauffeur, von uns aufgefordert, ruft die Namen der unsichtbaren Sehenswürdigkeiten aus. Die Pneumatics rauschen auf dem nassen Asphalt wie der Apparat im Kinematographen. Wieder diese ‚weiße Sklavin‘. Diese leeren langen gewaschenen schwarzen Gassen. Das Deutlichste sind die unverhängten großen Fenster des Restaurants ‚Vier Jahreszeiten‘, dessen Name uns als des elegantesten irgendwie bekannt war. Verbeugung eines livrierten Kellners vor einer Tischgesellschaft. Bei einem Denkmal, das wir in einem glücklichen Einfall für das berühmte Wagnerdenkmal erklären, zeigt sie Teilnahme. Nur beim Freiheitsmonument mit seinen im Regen klatschenden Fontänen ist längerer Aufenthalt gegönnt. Brücke über die nur geahnte Isar. Schöne herrschaftliche Villen längs des Englischen Gartens. Ludwigstraße, Theatinerkirche, Feldherrnhalle, Pschorrbräu. Ich weiß nicht, wieso das kommt: ich erkenne nichts wieder, obwohl ich doch schon mehrmals in München war. Sendlinger Tor. Bahnhof, den rechtzeitig zu erreichen ich (besonders Doras wegen) Sorge hatte. So sind wir wie eine daraufhin ausgerechnete Feder in genau zwanzig Minuten durch die Stadt geschnurrt, nach dem Taxameter.“[4]

Diese Stadtrundfahrt bei Nacht und Regen hat es in sich: Sie ist ein Stummfilm in Worten. Dabei wirken die vom Chauffeur des Wagens ausgerufenen „Namen der unsichtbaren Sehenswürdigkeiten“ in ihrer Absurdität nicht nur wie eine „Wortschöpfung“[5] Karl Valentins, dessen eigene „Münchner Fremdenrundfahrt“ in einem Tonfilm von 1929 dagegen vergleichsweise bieder wirkt.[6]

Die „Sehenswürdigkeiten“ der Regennacht-Rundfahrt 1911 wirken dagegen beliebig, ihre Stimmigkeit ist nur sekundär. Wollte man dem Trio auf seiner rasanten Fahrt vom Bahnhof aus folgen, ließe sich in der Maximilianstraße das Hotel Vier Jahreszeiten mit einer durch ein Restaurantfenster beobachteten Szene erkennen, das folgende „Denkmal“ wäre das Maxmonument, das kühn zum „Wagnerdenkmal“ erklärt wird, obwohl es doch erst 1913 am Prinzregententheater aufgestellt wurde. Das „Freiheitsmonument mit seinen im Regen klatschenden Fontänen“ wäre der Friedensengel (1896), zu dem es über die Widenmayerstraße zur Prinzregentenstraße und über die Luitpoldbrücke ging. Nach kurzer Rast fuhr das Auto auf der Luitpoldbrücke über „die nur geahnte Isar“ wieder zurück, und von der unteren Prinzregentenstraße bog die kleine Reisegruppe in die Königinstraße ein, auf der sie, den Englischen Garten rechts und die „schönen herrschaftlichen Villen“ links, bis zur Veterinärstraße fuhr, von dort auf die Ludwigstraße kam und um das (nicht erwähnte) Siegestor herum wieder hinunter zur Theatinerkirche gleich neben der Feldherrnhalle gelangte. Nach der Theatinerstraße und dem Marienplatz erreichte das Gefährt über die Kaufingerstraße die 1895/96 umgebauten Pschorrbräubierhallen in der Neuhauserstraße 11 (heute Neubau), rollte weiter zum Sendlinger Tor und kehrte wieder zurück zum Bahnhof.

Auch wenn es mit dem erotischen Abenteuer nichts wird und Dora dank ihrer beiden Kavaliere noch rechtzeitig den Zug nach Innsbruck erreicht, freuen sich Richard und Samuel danach, wie ihre lebendigen Vorbilder am Bahnhof „eine eigens für Hände und Gesichtwaschen eingerichtete Anstalt (…) zu finden. Man öffnet uns eine ‚Kabine‘, allerdings könnte man sich schönere Waschgelegenheiten denken, auch haben wir gerade noch Zeit, mit unseren Kleidern bepackt uns in der Enge zwischen den zwei Waschbecken hin und her zu drehn, trotzdem sind wir einig, dass Kultur in dieser reichsdeutschen Einrichtung liegt. In Prag könnte man lange auf den Bahnhöfen herumsuchen, ehe man so etwas fände.“[7] Und dann fahren Richard/Franz und Samuel/Max weiter durch die Nacht nach Zürich. 

Exkurs Station 10.1: Eine Münchner Künstlerpension

Wieder zurück in Prag, arbeiten Kafka und Brod an dem Romanprojekt „Richard und Samuel“ weiter und sammeln dazu erotische Motive. Eines davon vermittelt ihnen der österreichische Zeichner Alfred Kubin (1877-1959), als er im September 1911 in Prag mit Max Brod zusammentrifft. Im Tagebuch notiert Kafka am 26. September 1911, was Max Brod ihm aus der Erinnerung an die Gespräche mit Kubin mitgeteilt hat: 

„Geschichten von einer Künstlerpension in München, wo Maler und Veterinärärzte wohnten (die Schule der letzteren war in der Nähe) und wo es so verlottert zugieng, daß die Fenster des gegenüberliegenden Hauses, von wo man eine gute Aussicht hatte vermietet wurden. Um diese Zuseher zu befriedigen, sprang manchmal ein Pensionär auf das Fensterbrett und löffelte in Affenstellung seinen Suppentopf aus.“[8]

Die Zuordnung ist unklar. Die Tierärztliche Fakultät befand sich 1910 in der Veterinärstraße 6 (heute 13) am Englischen Garten. Gemeint sein könnte die legendäre Künstlerpension von Heinrich Fürmann im Nordend an der Belgradstraße 57 (heute Neubauanlage Nr. 61), sie verdankte ihre Entstehung einem umgebauten Pferdestall und war für ihre Künstlerfeste berühmt.[9]

Exkurs Station 10.2: Fasching in München

Noch im November 1911 arbeiten Kafka und Brod an „Richard und Samuel“ weiter. Vermittelt von Kubin besuchen sie dafür am 26. November 1913 den in Prag weilenden Hofrat Anton Maximilian Pachinger (1864-1938) aus Linz, dessen Lebensinhalt aus „Sammeln und Koitieren“ besteht. Kafka notiert ausführlich Pachingers erotische Auslassungen, etwa über Franz Blei, der „in den Münchner litterarischen Gesellschaften wegen litt. Schweinereien mißachtet“ werde, und mit einer erstaunlichen erotischen Statistik zum Münchner Fasching enden. Pachinger teilt seinen jungen Zuhörern mit: 

„Sehr ergiebiger Fasching in München. Nach dem Meldeamt kommen während des Faschings über 6000 Frauen ohne Begleitung nach München offenbar nur um sich koitieren zu lassen. Es sind Verheirathete, Mädchen, Witwen aus ganz Bayern, aber auch aus den angrenzenden Ländern.“[10]

 


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[1] Vgl. Kafka Chronik 1999 (wie Anm. 39), S. 51, 60f; zur Riva-Reise 1909 vgl. Dirk Heißerer: Der Jäger Gracchus. Franz Kafka, in: Dirk Heißerer: Meeresbrausen, Sonnenglanz. Poeten am Gardasee. München, Kreuzlingen 1999, S. 173-198, hier S. 173-179.

[2] Max Brod und Franz Kafka: Erstes Kapitel des Buches „Richard und Samuel“, in: Herder-Blätter (Prag), Jg. 1, Nr. 3, Mai 1912, S. 15-25, auch in: Max Brod, Franz Kafka: Eine Freundschaft. Reiseaufzeichnungen, hrsg. unter Mitarbeit von Hannelore Rodlauer von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1987, S. 193-208, dazu die Tagebuchaufzeichnungen Kafkas („Reise Lugano – Mailand – Paris – Erlenbach“, ebd., S. 143-188) und Brods (Unser Millionenplan ‚Billig‘“, ebd., S. 189-218).

[3] Brod/Kafka 1912 (wie Anm. 108), S. 19; Brod/Kafka 1987 (wie Anm. 108), S. 198; vgl. ausführlich dazu das Kapitel „Immer wieder diese weiße Sklavin“ in: Hanns Zischler: Kafka geht ins Kino, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 47-60.

[4] Brod/Kafka: Erstes Kapitel des Buches „Richard und Samuel“, in: Kafka: Drucke zu Lebzeiten (wie Anm. 101), S. 429f.

[5] Zischler 1988 (wie Anm. 109), S. 50.

[6] Karl Valentin: Münchner Fremdenrundfahrt. In: Karl Valentin: Das Aquarium. Band 8: Filme und Filmprojekte (Sämtliche Werke in neun Bänden), hrsg. von Helmut Bachmaier und Klaus Gronenhorn. München 2007, S. 116-122.

[7] Brod/Kafka 1912 (wie Anm. 108), S. 21; Brod/Kafka 1987 (wie Anm. 108), S. 200.

[8] Franz Kafka: Tagebücher, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley (Franz Kafka: Schriften, Tagebücher. Kritische Ausgabe), Frankfurt am Main 2002, S. 40f., hier S. 41.

[9] Vgl. Heißerer 22016 (wie Anm. 69), S. 138, 213.

[10] Franz Kafka: Tagebücher (wie Anm. 114), S. 271-276, hier S. 272, 274 und 276. Am 12.6.1914 notiert Kafka weitere Erinnerungen an die Gespräche 1911 in Prag mit Kubin und Pachinger (ebd., S. 535f.). Zu Pachingers Münchner Faschingserlebnissen vgl. Franz Lipp: Der Sammler und Kulturhistoriker Anton Maximilian Pachinger, in: Aus dem Antiquariat (Frankfurt am Main), Jg. 27 (1971), Nr. 3, S. A 149-A 164, hier S. 155. Schweiggert 2007 (wie Anm. 4), S. 38f. gibt die Pachinger-Bemerkungen als Kafka-Texte aus.

Verfasst von: Dr. Dirk Heißerer

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