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Franz Kafka (Fotografie aus dem Atelier Jacobi, 1906)

Kabarett „Elf Scharfrichter“, Türkenstraße 28

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Abb. 9: Franz Kafka: Kunstpostkarte der „Elf Scharfrichter“ mit einem Motiv von Willy Oertel an Paul Kisch vom 5. Dezember 1903, München, 30. November 1903. Akademie der Künste, Berlin, Sammlung Franz Kafka, Autographen-Literatur 52.01.

Nach dem Café Luitpold und der „Dichtelei“ hat Kafka in München noch einen dritten prominenten Künstlertreff aufgesucht. Für die letzte Karte an Paul Kisch wählte er ein vielsagendes Motiv (Abb. 9). Die von Willy Oertel gestaltete Karte[1] zeigt neben den ornamentalen Zeichen „D 11 S“ für „Die 11 Scharfrichter“ einen kauernden nackten Kretin mit Henkerbeil neben einem umgestürzten und befleckten Nachttopf. Kafka hat sich demnach das berühmte Münchner Kabarett „Die Elf Scharfrichter“ in der Türkenstraße 28 angesehen. Die 1901 gegründete Kleinkunstbühne war 1903 im Münchner Theaterleben eine erste Adresse. An prominenter Stelle präsentierte der General-Anzeiger der Münchner Neuesten Nachrichten tagtäglich auf Seite 1 nach den Spielplänen der großen Häuser (Hoftheater, Residenztheater, Gärtnertheater, Schauspielhaus, Volkstheater) auch den detaillierten Spielplan der „Elf Scharfrichter“, jeweils unter dem provokanten Slogan „Täglich Abends 8 Uhr Exekutionen“[2]

Programm 1

In seinen zwölf Münchner Tagen hatte Kafka sogar die Möglichkeit, gleich zwei Programme der „Elf Scharfrichter“ zu erleben. Allerdings stand in der vierten und letzten Saison des Kabaretts das bereits 15. Programm, das vom 6. November bis zum 2. Dezember gegeben wurde, im Zeichen des Niedergangs.[3] Der hohe literarische Anspruch des „neu engagierten“ Regisseurs Franz Blei kam nicht mehr an, die Vorstellungen besuchten anstelle „des früheren Stammpublikums aus Künstlern und Intellektuellen (…) nun zunehmend Touristen, Studenten und Militärs“.[4] Das lange Zeit so erfolgreiche satirische Schauspiel erstarrte, wurde „leere Grimasse“[5]. Von den im Spielplan angekündigten „Solisten“ gehörten die Sängerin Marya Delvard und die „Scharfrichter“ Frigidius Strang (alias Robert Kothe), Balthasar Starr (Marc Henry) und Arcus Troll (Emil Mantels) noch zur alten Garde, neue Mitwirkende wie Dora Stratton, Ingrit (!) Loris, Fritz Quidam, Sebastian Grau, Clément George und Hans Dorbe waren dagegen Newcomer.[6]

Geboten wurden damals Theaterparodien wie das Erfolgsstück „Die Verschönerungskommission“ von Paul Schlesinger, eine „Persiflage“ auf die Sitzung einer „Stadtbaukommission“, die „eine neu zu errichtende Bedürfnisanstalt technisch-praktisch und künstlerisch-architektonisch“[7] diskutiert. Oder die Szene „der eingeschriebene Brief“ von George Courteline, ebenfalls ein Ulk auf den „Bureaukratenzopf“[8], und der Dialog „Um halb ein Uhr nachts“ von Prosper Sylvius, der vom Ensemble erotisch entschärft worden war.[9] Als Monolog präsentierte Arcus Troll das Gedicht „Die Wasserkufe oder der Einsiedler und die Seneschallin von Aquilegia (1795) und brachte, wie die Münchner Post fand, die „nackte Ballade von der tugendsamen Seneschallin und dem von Fleischeslust geplagten Einsiedler (…) in anschaulichstem Reiz zu Gehör“.[10] Mit den von Marc Henry und Marya Delvard gesungenen „graziösen Duette(n) ‚La vilanell‘ und ‚Danse provençale‘“[11] klang das Programm aus. Ob Kafka davon etwas gesehen hat, ist unklar.

Programm 2

Dagegen spricht Einiges dafür, dass Kafka sich das neue Programm der „Elf Scharfrichter“ angesehen hat, das für ein Gastspiel in Wien eingerichtet wurde, und zwar noch am Abend der Premiere am Freitag, dem 4. Dezember 1903, dem letzten Abend seines München-Aufenthalts. Nicht nur die Kunstpostkarte mit dem Motiv von Willy Oertel, die Kafka am nächsten Tag, auf der Heimfahrt nach Prag, in Nürnberg abgeschickt hat, sondern vor allem auch der auf der Karte handschriftlich geäußerte Fluch („Du verfluchter Kerl“) und die damit verbundene „Wuth“ auf Paul Kisch könnten auf das Erlebnis vom Vorabend zurückzuführen sein. Doch der Reihe nach.

Am 4. Dezember 1903 gab der General-Anzeiger der Münchner Neuesten Nachrichten unter dem wiederholten Motto „Täglich Abends 8 Uhr Exekutionen“ das „Gastspielprogramm“ der „Elf Scharfrichter“ bis zum 7. Dezember bekannt. Eröffnet werde mit dem „Scharfrichtermarsch (gesungen und getanzt von den Elf Scharfrichtern)“, es folgten „Verlobung. – Rabbi Esra. – Verschönerungskommission. – Urteil des Paris. – Totengräber.– Lebensläufe. – Hochzeitsmusikanten.“[12]  Als „Solisten“ wurden Marya Delvard, Ingrit Loris, Arcus Troll, Clément George, Balthasar Starr, Frigidius Strang, Fritz Quidam und Hans Dorde genannt, neu dazu kamen Rolf Ruff und Leonhard Bulmans.

Abb. 10: Die Bühne der »Elf Scharfrichter« mit einem der Darsteller samt Richtschwert. Zeichnung für eine Ansichtskarte (Detail), 1901. Stadtarchiv München. Signatur DE-1992-FS-PK-ERG-05-0035.

So hörte Franz Kafka denn zum ersten oder schon zum wiederholten Mal den „Scharfrichtermarsch“ beim Einzug der elf vermummten Darsteller: „Erbauet ragt der schwarze Block. / Wir richten scharf und herzlich. / Blutrotes Herz, blutroter Rock, / All unsere Lust ist schmerzlich. // Wer mit dem Tag verfeindet ist, / Wird blutig exequieret, / Wer mit dem Tod befreundet ist, / Mit Sang und Kranz gezieret.“[13] Es folgte das absurde „Etepetetodram“ „Die Verlobung“ von Hanns von Gumppenberg, worin ein schlichter Verehrer verdammt wird, weil er das Wort „Geburtstag“ ausspricht, dagegen ein schwadronierender Nebenbuhler fast ans Ziel kommt, beim Luftsprung aber seine Hosen zerreißt.[14]

Als künstlerischer Höhepunkt folgte der jüdisch inspirierte Dialog des „Rabbi Esra“ von Frank Wedekind. Das ist jedoch  wohl eher ein Monolog, wobei der Partner, wie sich Wedekinds Gattin Tilly später erinnerte, „nur schöne Staffage“[15] war: „Der Rabbi spricht mit seinem Sohn, dem zwanzigjährigen Moses, den er davor warnt, voreilig das falsche Mädchen zu heiraten, das Moses, wie er meint, ‚von ganzem Herzen liebt‘.“[16] Mit seiner ersten Frau, Lea, habe er Lust und Liebe nicht gefunden, dagegen hätten mit der zweiten Frau, Sarah, Liebe und Lust zu neuem Leben, zum Sohne Moses, geführt. Der Monolog, so Tilly Wedekind, enthalte „Wedekinds religiöses Bekenntnis zum Eros oder sein erotisches Bekenntnis zur Religion“.[17]

Eine Stelle daraus ging Kafka vermutlich besonders nahe. Rabbi Esra berichtet, wie er Gott geflucht habe, als seine erste Frau, Lea, bei der Geburt des ersten Kindes mit dem Kind gestorben sei: 

„Da habe ich mich empört wider Jehova, da habe ich geschrien: Verflucht sei dein Name! Warum hast du mir genommen ein Weib, das ich mir habe gewählt, um dir zu dienen! Bist du geschlagen mit Dummheit, daß du zerschmetterst dein Kind und verschonst deine Feinde! Kannst du nicht nehmen das Lamm dem Reichen, mußt du es nehmen dem Armen, dem es ist gewesen sein alles! Verflucht sei dein Name!“[18]

Diese kühne Stelle könnte Kafka am nächsten Tag zu dem Fluch auf den, in seinen Augen untreuen, Freund Paul Kisch veranlasst haben, der ihn in den Münchner Tagen anscheinend so schnöde im Stich gelassen und ihm keine einzige Karte geschrieben hatte: 

„Du verfluchter Kerl, Du bist der einzige an den ich nur mit Wuth habe denken können. Das hier ist also die fünfte Karte. Ich bitte um Adressen, bitte bitte, sollte ich am Ende auf den Knien nach Prag rutschen? Na warte!“[19]

Frank Wedekind hat den Monolog vom „Rabbi Esra“ an dem Abend nicht selbst gesprochen. Der Dramatiker gehörte zwar seit Sommer 1901 unter seinem Namen zum Ensemble, hatte sich aber im März 1903 mit den „Elf Scharfrichtern“ überworfen. Kam er „in der letzten Saison noch gelegentlich auf die Bühne in der Türkenstraße zurück“[20], so gehörte er am 4. Dezember 1903 jedoch nicht zur Besetzung und konnte von Kafka nicht leibhaftig erlebt werden.[21]

Nach dem „Rabbi Esra“ wurde auch in diesem zweiten Programm der „Verschönerungsverein“ geboten (vgl. Programm 1). Ihm folgte „Das Urteil des Paris“[22], ein Scherzgedicht von Wieland aus dessen „Komischen Erzählungen (1765). Den Abschluss bildeten drei Terzette mit der Musik von Hannes Ruch (Hans Richard Weinhöppel): „Die Totengräber“ von Hanns von Gumppenberg, „Lebensläufe“ von Gustav Falke und „Die Hochzeitsmusikanten“ von Leo Greiner.[23]

Was Kafka davon wirklich gehört hat, wie er es aufgenommen und behalten hat, kann, wie im Fall des „Rabbi Esra“, nur vermutet werden. Die „Elf Scharfrichter“ in ihrer Endzeit waren Kafka vielleicht tatsächlich „nicht genug konsequent und scharf“[24], wie Gustav Janouch aus einem Gespräch mit Kafka mitteilt. Und möglicherweise stimmt auch Kafkas von Janouch übermitteltes Bonmot, nichts zerstöre „‘den Menschen so gründlich wie Bier und Wirtshausquatsch. So ist es in München, und so ist es in Prag.‘“[25]

Doch die Münchner Eindrücke machten ihm auch aus anderen Gründen zu schaffen. In einem Brief aus Prag an Oskar Pollok entschuldigt sich Kafka am 20. Dezember 1903 dafür, dass er ihm „auch von München nicht mehr geschrieben“ habe, „obwohl ich so viel zu schreiben hatte“. Dabei handele es sich um etwas Grundsätzliches: Er könne „in der Fremde gar nicht schreiben. Alle Worte sind mir dann wild zerstreut und ich kann sie nicht in Sätze einfangen und dann drückt alles Neue so, daß man ihm gar nicht wehren und daß man es nicht übersehn kann“.[26] Das lässt ein wenig besser verstehen, warum Kafka seinen ersten München-Aufenthalt später als „trostlose Jugenderinnerung“[27] abgetan hat. Das „Scharfrichter“-Erlebnis wirkte jedoch, wie noch zu zeigen ist, literarisch eigentümlich nach (Station 13).

 


Zur Station 9 von 13 Stationen



[1] Judith Kemp: „Ein winzig Bild vom großen Leben“. Zur Kulturgeschichte von Münchens erstem Kabarett Die Elf Scharfrichter (1901-1904), München 2017, S. 192.

[2] Die Elf Scharfrichter, in: General-Anzeiger der Münchner Neuesten Nachrichten (München), Nr. 550 vom 24.11.1903, S. 1

[3] Vgl. Kemp 2017 (wie Anm. 70), S. 88-95.

[4] Kemp 2017 (wie Anm. 70), S. 88, 90.

[5] Franz Blei: Die Scharfrichter – Ein Theaterprogramm – Lautensack, in: Franz Blei: Erzählung eines Lebens Leipzig 1930, S. 341-345, hier S. 341.

[6] Vgl. den Online-Anhang zu Kemp 2017 (wie Anm. 70): Die Elf Scharfrichter. Ensemble und MitarbeiterInnen https://www.allitera.de/wp-content/uploads/2017/09/Ensemble.pdf (Aufruf vom 02.05.2022).

[7] Kemp: Anhang (wie Anm. 75), S. 33-35, hier S. 35.

[8] Kemp: Anhang (wie Anm. 75), S. 10.

[9] Kemp: Anhang (wie Anm. 75), S. 37f.

[10] Kemp: Anhang (wie Anm. 75), S. 54.

[11] Kemp: Anhang (wie Anm. 75), S. 135, 147.

[12] Die Elf Scharfrichter, in: General-Anzeiger der Münchner Neuesten Nachrichten (München), Nr. 568 vom 4.12.1903, S. 1.

[13] Teilzitat n. Otto Falckenberg: Mein Leben – Mein Theater. Nach Gesprächen und Dokumenten aufgezeichnet von Wolfgang Petzet. München, Wien, Leipzig 1944, S. 109f.

[14] Kemp: Anhang (wie Anm. 70), S. 19.

[15] Tilly Wedekind: Lulu. Die Rolle meines Lebens. München, Bern, Wien 1969, S. 85.

[16] Ebd., S. 84f.

[17] Ebd., S. 85.

[18] Frank Wedekind: Rabbi Esra, in: Frank Wedekind: Werke, Bd. I, hrsg. von Erhard Weidl. München 1990, S. 242-247, hier S. 245.

[19] Franz Kafka: Brief an Paul Kisch, München / Nürnberg 5.12.1903, in: Br I (wie Anm. 7), S. 32. Brief 38.

[20] Kemp 2017 (wie Anm.69), S. 157, 159.

[21] Kemp: Anhang (wie Anm. 75), S. 38f.

[22] Kemp: Anhang (wie Anm. 75), S. 53f.

[23] Kemp: Anhang (wie Anm. 75), S. 60f., 59f.

[24] Gustav Janouch: Franz Kafka und seine Welt. Wien, Stuttgart, Zürich 1965, S. 64.

[25] Ebd.

[26] Franz Kafka: Brief an Oskar Pollok, Prag, 20.12.1903, in: Br I (wie Anm. 7), S. 32-33, hier S. 33. Brief 29.

[27] Franz Kafka: Brief an Gottfried Kölwel, Prag, 3.1.1917, in: Br III (wie Anm. 2), S. 283, Brief 1009.

Verfasst von: Dr. Dirk Heißerer

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