Dichtelei, Türkenstraße 81
Auf seiner Karte aus dem Café Luitpold hatte Kafka geschrieben, dass er sich vom nächsten Tag an, also ab dem 27. November 1903, in die Münchner Gesellschaft „einschleichen“ wolle. Das heißt wohl nicht nur, dass er sich unter „d’Leit“ begeben, sondern dass er sich ohne amtliche Anmeldung in der Stadt bewegen wollte.[1] So weist die erste der beiden Ansichtskarten, die Kafka aus München am 30. November 1903 an Paul Kisch nach Prag sandte, auf einen Ort hin, den Kafka besucht hat. Der „Gruss aus München“ (Abb. 8) zeigt den Innenraum eines bekannten Münchner Künstlerlokals. Das, wie die Karte angibt, 1876 gegründete „Weinrestaurant zur ‚Dichtelei‘“ an der Türkenstraße 81 hatte die Wirtin Kathi Kobus seit 1901 geleitet. Es war das Lokal des Kabaretts der „Elf Scharfrichter“ (Station 8) gewesen, ein Brennpunkt der Bohème. Hier hatten sich einer der „Scharfrichter“, der Dramatiker Frank Wedekind, und der Anarcho-Kommunist Erich Mühsam kennen gelernt[2], und auch Franz Blei, der Kafka später protegierte (Station 9), gehörte zu dieser Bohème in der Maxvorstadt.[3]
Von diesem Künstlertreff dürfte Paul Kisch dem Freund berichtet haben. Unklar ist nur, ob Kisch die Übersiedlung der Wirtin Kathi Kobus mit ihrer Künstlerschar am 1. Mai 1903 in das „Restaurant Thannhäuser“, Türkenstraße 57[4], noch selbst mitbekommen hat. Nachdem der Versuch, das dortige Lokal in „Neue Dichtelei“ umzubenennen, gescheitert war, kam es am 3. Dezember 1903 zur Namensänderung in „Simplicissimus“.[5] Es kann also gut sein, dass Paul Kisch die alte „Dichtelei“ mit Kathi Kobus in der Türkenstraße kannte, Franz Kafka dagegen Ende November / Anfang Dezember 1903 in der „Dichtelei“ nur noch auf die, auf der Karte angegebene, neue Wirtin Julie Müller ohne die berühmte Künstlerschar traf. Ob Kafka das „Restaurant Thannhäuser“ in der Türkenstraße 57 besucht hat, das Anfang Dezember 1903 zum Lokal „Simplicissimus“ wurde und ab 1908 durch den „Hausdichter“ Hans Bötticher (ab 1918: Joachim Ringelnatz) einen neuen Aufschwung erlebte[6], ist ebenfalls nicht zu klären
Zur Station 8 von 13 Stationen
[1] Vgl. Anm. 34.
[2] Schwabing, in: Erich Mühsam: Unpolitische Erinnerungen. Düsseldorf 1961, S. 139-163, hier S. 148.
[3] Ulf Seidel: Die Hausgötter der Kathi Kobus, in: Salzburger Volksblatt (Salzburg), Jg. 67, Folge 185 vom 14./15.8.1937, S. 5.
[4] Adreßbuch von München für das Jahr 1903 (wie Anm. 37), S. 707.
[5] Simplicissimus, Türkenstraße 57, in: Zu Gast im alten München. Erinnerungen an Hotels, Wirtschaften und Cafés. Eingeleitet und bearbeitet von Richard Bauer. Bearbeitet von Eva Maria Graf und Erwin Münz. München 41987, S. 240; „Der Simpl“, in: René Prévot: Seliger Zweiklang Schwabing / Montmartre. München 1946, S. 33-37; Kathi Kobus und der „Simpl“, in: René Prévot: kleiner Schwarm für Schwabylon. München 1954, S. 49-57.
[6] Eine Wirtin und ihr Hausdichter. Kathi Kobus, die Künstlerkneipe Simplicissimus und Joachim Ringelnatz, in: Dirk Heißerer: Wo die Geister wandern. Literarische Spaziergänge durch Schwabing. 22016, S. 77-88. Stach 2014 (wie Anm. 20), S. 274 lässt den mit Kafka gleichaltrigen Ringelnatz schon 1903 im „Simplicissimus“ auftreten.
Auf seiner Karte aus dem Café Luitpold hatte Kafka geschrieben, dass er sich vom nächsten Tag an, also ab dem 27. November 1903, in die Münchner Gesellschaft „einschleichen“ wolle. Das heißt wohl nicht nur, dass er sich unter „d’Leit“ begeben, sondern dass er sich ohne amtliche Anmeldung in der Stadt bewegen wollte.[1] So weist die erste der beiden Ansichtskarten, die Kafka aus München am 30. November 1903 an Paul Kisch nach Prag sandte, auf einen Ort hin, den Kafka besucht hat. Der „Gruss aus München“ (Abb. 8) zeigt den Innenraum eines bekannten Münchner Künstlerlokals. Das, wie die Karte angibt, 1876 gegründete „Weinrestaurant zur ‚Dichtelei‘“ an der Türkenstraße 81 hatte die Wirtin Kathi Kobus seit 1901 geleitet. Es war das Lokal des Kabaretts der „Elf Scharfrichter“ (Station 8) gewesen, ein Brennpunkt der Bohème. Hier hatten sich einer der „Scharfrichter“, der Dramatiker Frank Wedekind, und der Anarcho-Kommunist Erich Mühsam kennen gelernt[2], und auch Franz Blei, der Kafka später protegierte (Station 9), gehörte zu dieser Bohème in der Maxvorstadt.[3]
Von diesem Künstlertreff dürfte Paul Kisch dem Freund berichtet haben. Unklar ist nur, ob Kisch die Übersiedlung der Wirtin Kathi Kobus mit ihrer Künstlerschar am 1. Mai 1903 in das „Restaurant Thannhäuser“, Türkenstraße 57[4], noch selbst mitbekommen hat. Nachdem der Versuch, das dortige Lokal in „Neue Dichtelei“ umzubenennen, gescheitert war, kam es am 3. Dezember 1903 zur Namensänderung in „Simplicissimus“.[5] Es kann also gut sein, dass Paul Kisch die alte „Dichtelei“ mit Kathi Kobus in der Türkenstraße kannte, Franz Kafka dagegen Ende November / Anfang Dezember 1903 in der „Dichtelei“ nur noch auf die, auf der Karte angegebene, neue Wirtin Julie Müller ohne die berühmte Künstlerschar traf. Ob Kafka das „Restaurant Thannhäuser“ in der Türkenstraße 57 besucht hat, das Anfang Dezember 1903 zum Lokal „Simplicissimus“ wurde und ab 1908 durch den „Hausdichter“ Hans Bötticher (ab 1918: Joachim Ringelnatz) einen neuen Aufschwung erlebte[6], ist ebenfalls nicht zu klären
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[1] Vgl. Anm. 34.
[2] Schwabing, in: Erich Mühsam: Unpolitische Erinnerungen. Düsseldorf 1961, S. 139-163, hier S. 148.
[3] Ulf Seidel: Die Hausgötter der Kathi Kobus, in: Salzburger Volksblatt (Salzburg), Jg. 67, Folge 185 vom 14./15.8.1937, S. 5.
[4] Adreßbuch von München für das Jahr 1903 (wie Anm. 37), S. 707.
[5] Simplicissimus, Türkenstraße 57, in: Zu Gast im alten München. Erinnerungen an Hotels, Wirtschaften und Cafés. Eingeleitet und bearbeitet von Richard Bauer. Bearbeitet von Eva Maria Graf und Erwin Münz. München 41987, S. 240; „Der Simpl“, in: René Prévot: Seliger Zweiklang Schwabing / Montmartre. München 1946, S. 33-37; Kathi Kobus und der „Simpl“, in: René Prévot: kleiner Schwarm für Schwabylon. München 1954, S. 49-57.
[6] Eine Wirtin und ihr Hausdichter. Kathi Kobus, die Künstlerkneipe Simplicissimus und Joachim Ringelnatz, in: Dirk Heißerer: Wo die Geister wandern. Literarische Spaziergänge durch Schwabing. 22016, S. 77-88. Stach 2014 (wie Anm. 20), S. 274 lässt den mit Kafka gleichaltrigen Ringelnatz schon 1903 im „Simplicissimus“ auftreten.