Pension Lorenz, Sophienstraße 5c (I) (mit Glaspalast)
Im Postskriptum steht: „Pension Lorenz, Sophienstraße N 15 3ter Stock“.[1] Kafka hat sich aber vertan. Ein Blick in das Münchner Adressbuch für 1903 zeigt: Es gab damals keine Sophienstraße Nr. 15, es gab eine Sophienstraße Nr. 5c mit der Pensionsinhaberin Marie Lorenz im dritten Stock! [2] Einmal angenommen, Frau Lorenz habe ihrem Gast aus Prag bei der Ankunft auf die Frage, welche Adresse die Pension habe, geantwortet: „Sophienstraße 5c“, dann klingt „fünf ceh“ auch für Einheimische sehr leicht und missverständlich wie „fünfzehn“.[3] Keinem der vielen Kafka-Spurensucher ist die falsche Adresse bislang aufgefallen; alle haben den Fehler übernommen[4], und so wusste niemand bislang, wo die Pension Lorenz war, wo Kafka in München wohnte.
Die Sophienstraße liegt in der Nähe des Hauptbahnhofs am Alten Botanischen Garten und verbindet in einem Halbrund die Luisenstraße mit dem Lenbachplatz Ein historischer Stadtplan im Stadtarchiv München gibt die damalige Lage gut wieder (Abb. 4a)[5]. Die Häuser Sophienstraße 5a bis 5c und 6 (heute Neubau Oberfinanzdirektion) lagen zwischen der Arcostraße und der Arcisstraße, und die Die Pension Lorenz an der einstigen Sophienstraße 5c befand sich schräg gegenüber dem Haupteingang des Münchner Glaspalasts (zerstört 1931).
Der Glaspalast war eine imposante Erscheinung: Das 1854 eröffnete Ausstellungsgebäude an der Sophienstraße 7 bestand aus Eisen und Glas war 234 Meter lang, 25 Meter hoch und 67 Meter breit. Auf einer Fläche von 17.900 qm konnte die Münchner Künstlergenossenschaft ihre Gemälde und Skulpturen ausstellen, seit 1889 in Jahresausstellungen in der Zeit von Juni bis Ende Oktober, dazu kamen seit 1892 die Ausstellungen der Münchner Secession.[6]
Das nicht heizbare Gebäude war also im November 1903 geschlossen. Aber wenn Kafka aus seiner Pension auf die Straße trat, erlebte er den Haupteingang zu dem gigantischen Kunst-Schloss mit voller Wucht (Abb. 4b). Zehn Jahre später hatte Kafka bei einem mehrstündigen Aufenthalt in München Gelegenheit, die seinerzeitige Kunstausstellung im Glaspalast zu besuchen (Station 11).
Abb. 4b. Der Haupteingang zum Glaspalast an der Ecke Sophienstraße / Arcisstraße, 1901. Links die Hauswand von Sophienstraße 6. Sammlungonline. muenchnerstadtmuseum.de. CC-BY-SA 4.0
Abb. 4c. Der fast identische Blick auf den rauchverhangenen Haupteingang zum Glaspalast am Morgen nach der Brandkatastrophe vom 6. Juni 1931. Foto: Willy Walcher. Sammlungonline. muenchnerstadtmuseum.de. CC-BY-SA 4.0
Fast 30 Jahre später ging der Glaspalast auf spektakuläre Weise unter. Durch Brandstiftung[7] wurde das Ausstellungsgebäude am 6. Juni 1931 in Schutt und Asche gelegt (Abb. 4c); dabei verbrannten nicht nur Werke der Münchner Künstlergenossenschaft und der „Secession“, sondern auch Hauptwerke der deutschen Romantik von Caspar David Friedrich bis Moritz von Schwind. Hermann Eßwein, den München-Korrespondenten der Frankfurter Zeitung, beschlich damals die „schwarze Ahnung, daß sich noch vor dem nationalen Unglück der Unstern des Kunstplatzes München vollenden“[8] werde, womit er furchtbar recht behalten sollte (Abb. 4d).
Abb. 4d. Der ausgebrannte Glaspalast im Juni 1931, aufgenommen vom Justizpalast. In der Mitte des Bildes ist das Haus Sophienstraße 5c zu erkennen, links davon das Haus Nr. 6 an der Ecke zur Arcisstraße. Foto: Willy Walcher. sammlungonline. Muenchner-stadtmuseum.de. CC-BY-SA 4.0
An der Stelle des ehemaligen Eingangs zum Glaspalast entstand 1936 das heute noch bestehende Park-Café (Abb. 5).[9]
Abb. 5: Das Parkcafé (Mitte), kurz vor der Fertigstellung 1936. Foto: Stadtarchiv München. Signatur DE-1992-FS-STB-0478. An der Ecke zur Arcisstraße steht das dunkle Haus Sophienstraße 6, rechts daneben die helleren Häuser Sophienstraße 5c und 5b.
Im Haus Sophienstraße 5c wurde die Pension Lorenz im dritten Stock schon im Juni 1911 von der Pension Exquisit (später Exquisite) im ersten und zweiten Stock abgelöst.[10] Gästebücher sind aber weder von der einen noch von der anderen Pension bekannt. Die Häuser Sophienstraße 5a bis 5c und das Eckhaus Nr. 6 mussten 1938 dem Bau des Oberfinanzpräsidiums München (heute Oberfinanzdirektion) weichen.[11] Heute erinnert im Alten Botanischen Garten neben dem Parkcafé und dem neuen Ausstellungsgebäude nichts mehr an den einstigen Glaspalast (Abb. 6).
Abb. 6: Luftbild des Alten Botanischen Gartens, 2018. Foto: Carsten Steger (Wikicommons). Zu sehen sind rechts der Justizpalast (mit Kuppel), links davon das Neue Justizgebäude (1905) und daneben der Elisenhof (1984/2013). Im Alten Botanischen Garten liegt rechts das Bassin mit dem neuen Neptunbrunnen (1937) etwa an der Stelle des historischen Vorgängers, darüber das neue Ausstellungsgebäude (1937, verdeckt) und in der Mitte das Parkcafé am Beginn der heutigen Katharina-von-Bora-Straße (früher Arcisstraße). Das rechts vor dem Parkcafé liegende längliche rötliche Gebäude der Oberfinanzdirektion hat 1938 die Häuser Sophienstraße 5a-c ersetzt. Gegenüber liegt die Wohnanlage der Lenbachgärten (2008) mit dem Hotel „The Charles“.
Zur Station 3 von 13 Stationen
[1] Franz Kafka: Postkarte an Paul Kisch, München, 26.11.1903, in: Br I (wie Anm. 7), S. 31, Brief 25.
[2] Adreßbuch von München für das Jahr 1903, hrsg. von der Kgl. Polizei-Direktion, München 1903, II. Theil, Straßenübersicht, S. 655.
[3] Kafka adressierte übrigens seine Karten an Paul Kisch in Prag „hier wie stets an die Melantrichgasse 4, obgleich das Haus der Kischs Nr. 14 war“ (vgl. Franz Kafka: Karten und Briefe an Paul Kisch (wie Anm. 7), S. 809, Kommentar zu Brief 2, von Ende August 1902). Sodann vertat sich Kafka in einem Brief an Paul Kisch aus Prag vom 4.2.1903 mit einer „Hausnummer 4“, die es an der angegebenen Stelle im Prager „Stadtpark“ einfach nicht gab (vgl. ebd., Brief 5, S. 811). Auf diese „Kafkas Zahlensinn erneut disqualifizierende Mitteilung“ (ebd.) geht der Kommentar in Br I (wie Anm. 7) in beiden Fällen (Briefe 8 und 16) nicht ein.
[4] Franz Kafka: Eine Chronik. Zusammengestellt von Roger Hermes, Waltraud John, Hans-Gerd Koch und Anita Widera. Berlin 1999, S. 34; Stach 2017 (wie Anm. 4), S. 57.
[5] Stadtarchiv München, PS-Stadtkarten 1:5000, 1906/09, Bl. 13. Freundliche Auskunft von Archivoberrat Anton Löffelmeier.
[6] Eugen Roth: Der Glaspalast in München. Glanz und Ende 1854-1931. München 1971, S. 19, 38.
[7] Volker Hütsch: Der Münchner Glaspalast 1854-1931. Geschichte und Bedeutung. München 1980, S. 83.
[8] Zit. n.: Münchner Neueste Nachrichten (München), Nr. 155 vom 11.6.1931, S. 5.
[9] Alter Botanischer Garten, in: Josef H. Biller, Hans-Peter Rasp: München. Kunst & Kultur. Stadtführer und Handbuch. München 22003, S. 72.
[10] Stadtarchiv München, Gewerbeamt-Wirtschaftskonzessionen 4327.
[11] Verwaltung und Verbrechen, Nr. 5: Oberfinanzpräsidium München, in: Wilfried Nerdinger (Hrsg.): Ort und Erinnerung. Nationalsozialismus in München. Salzburg, München 22006, s. 77.
Im Postskriptum steht: „Pension Lorenz, Sophienstraße N 15 3ter Stock“.[1] Kafka hat sich aber vertan. Ein Blick in das Münchner Adressbuch für 1903 zeigt: Es gab damals keine Sophienstraße Nr. 15, es gab eine Sophienstraße Nr. 5c mit der Pensionsinhaberin Marie Lorenz im dritten Stock! [2] Einmal angenommen, Frau Lorenz habe ihrem Gast aus Prag bei der Ankunft auf die Frage, welche Adresse die Pension habe, geantwortet: „Sophienstraße 5c“, dann klingt „fünf ceh“ auch für Einheimische sehr leicht und missverständlich wie „fünfzehn“.[3] Keinem der vielen Kafka-Spurensucher ist die falsche Adresse bislang aufgefallen; alle haben den Fehler übernommen[4], und so wusste niemand bislang, wo die Pension Lorenz war, wo Kafka in München wohnte.
Die Sophienstraße liegt in der Nähe des Hauptbahnhofs am Alten Botanischen Garten und verbindet in einem Halbrund die Luisenstraße mit dem Lenbachplatz Ein historischer Stadtplan im Stadtarchiv München gibt die damalige Lage gut wieder (Abb. 4a)[5]. Die Häuser Sophienstraße 5a bis 5c und 6 (heute Neubau Oberfinanzdirektion) lagen zwischen der Arcostraße und der Arcisstraße, und die Die Pension Lorenz an der einstigen Sophienstraße 5c befand sich schräg gegenüber dem Haupteingang des Münchner Glaspalasts (zerstört 1931).
Der Glaspalast war eine imposante Erscheinung: Das 1854 eröffnete Ausstellungsgebäude an der Sophienstraße 7 bestand aus Eisen und Glas war 234 Meter lang, 25 Meter hoch und 67 Meter breit. Auf einer Fläche von 17.900 qm konnte die Münchner Künstlergenossenschaft ihre Gemälde und Skulpturen ausstellen, seit 1889 in Jahresausstellungen in der Zeit von Juni bis Ende Oktober, dazu kamen seit 1892 die Ausstellungen der Münchner Secession.[6]
Das nicht heizbare Gebäude war also im November 1903 geschlossen. Aber wenn Kafka aus seiner Pension auf die Straße trat, erlebte er den Haupteingang zu dem gigantischen Kunst-Schloss mit voller Wucht (Abb. 4b). Zehn Jahre später hatte Kafka bei einem mehrstündigen Aufenthalt in München Gelegenheit, die seinerzeitige Kunstausstellung im Glaspalast zu besuchen (Station 11).
Abb. 4b. Der Haupteingang zum Glaspalast an der Ecke Sophienstraße / Arcisstraße, 1901. Links die Hauswand von Sophienstraße 6. Sammlungonline. muenchnerstadtmuseum.de. CC-BY-SA 4.0
Abb. 4c. Der fast identische Blick auf den rauchverhangenen Haupteingang zum Glaspalast am Morgen nach der Brandkatastrophe vom 6. Juni 1931. Foto: Willy Walcher. Sammlungonline. muenchnerstadtmuseum.de. CC-BY-SA 4.0
Fast 30 Jahre später ging der Glaspalast auf spektakuläre Weise unter. Durch Brandstiftung[7] wurde das Ausstellungsgebäude am 6. Juni 1931 in Schutt und Asche gelegt (Abb. 4c); dabei verbrannten nicht nur Werke der Münchner Künstlergenossenschaft und der „Secession“, sondern auch Hauptwerke der deutschen Romantik von Caspar David Friedrich bis Moritz von Schwind. Hermann Eßwein, den München-Korrespondenten der Frankfurter Zeitung, beschlich damals die „schwarze Ahnung, daß sich noch vor dem nationalen Unglück der Unstern des Kunstplatzes München vollenden“[8] werde, womit er furchtbar recht behalten sollte (Abb. 4d).
Abb. 4d. Der ausgebrannte Glaspalast im Juni 1931, aufgenommen vom Justizpalast. In der Mitte des Bildes ist das Haus Sophienstraße 5c zu erkennen, links davon das Haus Nr. 6 an der Ecke zur Arcisstraße. Foto: Willy Walcher. sammlungonline. Muenchner-stadtmuseum.de. CC-BY-SA 4.0
An der Stelle des ehemaligen Eingangs zum Glaspalast entstand 1936 das heute noch bestehende Park-Café (Abb. 5).[9]
Abb. 5: Das Parkcafé (Mitte), kurz vor der Fertigstellung 1936. Foto: Stadtarchiv München. Signatur DE-1992-FS-STB-0478. An der Ecke zur Arcisstraße steht das dunkle Haus Sophienstraße 6, rechts daneben die helleren Häuser Sophienstraße 5c und 5b.
Im Haus Sophienstraße 5c wurde die Pension Lorenz im dritten Stock schon im Juni 1911 von der Pension Exquisit (später Exquisite) im ersten und zweiten Stock abgelöst.[10] Gästebücher sind aber weder von der einen noch von der anderen Pension bekannt. Die Häuser Sophienstraße 5a bis 5c und das Eckhaus Nr. 6 mussten 1938 dem Bau des Oberfinanzpräsidiums München (heute Oberfinanzdirektion) weichen.[11] Heute erinnert im Alten Botanischen Garten neben dem Parkcafé und dem neuen Ausstellungsgebäude nichts mehr an den einstigen Glaspalast (Abb. 6).
Abb. 6: Luftbild des Alten Botanischen Gartens, 2018. Foto: Carsten Steger (Wikicommons). Zu sehen sind rechts der Justizpalast (mit Kuppel), links davon das Neue Justizgebäude (1905) und daneben der Elisenhof (1984/2013). Im Alten Botanischen Garten liegt rechts das Bassin mit dem neuen Neptunbrunnen (1937) etwa an der Stelle des historischen Vorgängers, darüber das neue Ausstellungsgebäude (1937, verdeckt) und in der Mitte das Parkcafé am Beginn der heutigen Katharina-von-Bora-Straße (früher Arcisstraße). Das rechts vor dem Parkcafé liegende längliche rötliche Gebäude der Oberfinanzdirektion hat 1938 die Häuser Sophienstraße 5a-c ersetzt. Gegenüber liegt die Wohnanlage der Lenbachgärten (2008) mit dem Hotel „The Charles“.
Zur Station 3 von 13 Stationen
[1] Franz Kafka: Postkarte an Paul Kisch, München, 26.11.1903, in: Br I (wie Anm. 7), S. 31, Brief 25.
[2] Adreßbuch von München für das Jahr 1903, hrsg. von der Kgl. Polizei-Direktion, München 1903, II. Theil, Straßenübersicht, S. 655.
[3] Kafka adressierte übrigens seine Karten an Paul Kisch in Prag „hier wie stets an die Melantrichgasse 4, obgleich das Haus der Kischs Nr. 14 war“ (vgl. Franz Kafka: Karten und Briefe an Paul Kisch (wie Anm. 7), S. 809, Kommentar zu Brief 2, von Ende August 1902). Sodann vertat sich Kafka in einem Brief an Paul Kisch aus Prag vom 4.2.1903 mit einer „Hausnummer 4“, die es an der angegebenen Stelle im Prager „Stadtpark“ einfach nicht gab (vgl. ebd., Brief 5, S. 811). Auf diese „Kafkas Zahlensinn erneut disqualifizierende Mitteilung“ (ebd.) geht der Kommentar in Br I (wie Anm. 7) in beiden Fällen (Briefe 8 und 16) nicht ein.
[4] Franz Kafka: Eine Chronik. Zusammengestellt von Roger Hermes, Waltraud John, Hans-Gerd Koch und Anita Widera. Berlin 1999, S. 34; Stach 2017 (wie Anm. 4), S. 57.
[5] Stadtarchiv München, PS-Stadtkarten 1:5000, 1906/09, Bl. 13. Freundliche Auskunft von Archivoberrat Anton Löffelmeier.
[6] Eugen Roth: Der Glaspalast in München. Glanz und Ende 1854-1931. München 1971, S. 19, 38.
[7] Volker Hütsch: Der Münchner Glaspalast 1854-1931. Geschichte und Bedeutung. München 1980, S. 83.
[8] Zit. n.: Münchner Neueste Nachrichten (München), Nr. 155 vom 11.6.1931, S. 5.
[9] Alter Botanischer Garten, in: Josef H. Biller, Hans-Peter Rasp: München. Kunst & Kultur. Stadtführer und Handbuch. München 22003, S. 72.
[10] Stadtarchiv München, Gewerbeamt-Wirtschaftskonzessionen 4327.
[11] Verwaltung und Verbrechen, Nr. 5: Oberfinanzpräsidium München, in: Wilfried Nerdinger (Hrsg.): Ort und Erinnerung. Nationalsozialismus in München. Salzburg, München 22006, s. 77.