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Abb. 32: Peter Schneidler: Originalumschlag zur Erstausgabe von Hermann Lenz’ zweiter Veröffentlichung (1949). Foto: Sammlung Dirk Heißerer

Haus Thomas Mann, Poschingerstraße 1 (Neubau Thomas-Mann-Allee 10)

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Abb. 30: Das Haus Thomas Manns im Münchner Herzogpark, Poschingerstraße 1, von Süden, Anfang Oktober 1929. Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Unbekannt / TMA_2663

Dabei kann es leicht geschehen, dass sich ein Kinofreund aus alten Tagen unversehens als Mitkletterer in der Esche am Siegestor einstellt. Es ist der Hausdiener Xaver Kleinsgütl aus Thomas Manns Familiennovelle Unordnung und frühes Leid (1925), die um 1923 im Haus der Manns im Herzogpark. spielt. Im „Vorgarten“ des Hauses Poschingerstraße 1 (heute Neubau) (Abb. 30) steht dort ebenfalls eine Esche, die Xaver zum Klettern verlockt:

Öfters besteigt er die Esche im Vorgarten, einen hohen, aber schwanken Baum, klettert von Zweig zu Zweig bis in den obersten Wipfel, so daß jedem angst und bange wird, der ihm zusieht. Oben zündet er sich eine Zigarette an, schwingt sich hin und her, daß der hohe Mast bis in seine Wurzeln schwankt, und hält Ausschau nach einem Kino-Direktor, der des Weges kommen und ihn engagieren könnte.[81] (Abb. 31)

Die Esche bei den Manns war wohl einer der alten „Baumriesen“ im Herzogpark, „Originalwuchs und Ureinwohner dieser Gegend“, die bei der Erschließung des neuen Wohngebiets um 1900 „sorgfältig geschont und erhalten“ wurden: Wo „so ein moosig-silbriger Würdenstamm“ an einer Grenze stand, wurde der Zaun um ihn herumgezogen oder „in dem Beton einer Mauer (…) eine höfliche Lücke gelassen, in welcher der Alte nun ragt, halb privat und halb öffentlich, die kahlen Äste mit Schnee belastet oder im Schmuck seines kleinblättrigen, spätsprießenden Laubes“.[82] Im Kapitel „Das Revier“ des „Idylls“ Herr und Hund (1919) wird die Esche zum Sinnbild der Aulandschaft an der Isar erkoren, denn die Esche sei, so Thomas Mann, ein Baum, „der die Feuchtigkeit wie wenige liebt“, was „über die Grundeigenschaft unsres Landstriches etwas Entscheidendes“ aussage.[83]

Abb. 31: Hermann Ebers (1881-1955): Xaver Kleinsgütl auf der „Esche im Vorgarten“. Die Illustration zu Thomas Manns Familiennovelle Unordnung und frühes Leid (1925) blieb seinerzeit ungedruckt und wurde erst 2006 veröffentlicht (vgl. Anm. 81). Foto: Thomas-Mann-Forum München e.V. © Erben nach Hermann Ebers, Wiesbaden.

Doch auch dieser „Landstrich“ ging unter! Hanne Trautwein, die spätere Ehefrau von Hermann Lenz, hat am 25. April 1944 das Haus Thomas Manns aufgesucht, das in der Nacht beim damals schwersten Luftangriff auf München zusammen mit den umgebenden Bäumen stark zerstört worden war. An den in Russland stationierten Freund schreibt sie und erwähnt, was vom Baum in der Mauerlücke noch übriggeblieben war:

Das Haus vom Thomas ist jetzt auch zerstört. Eine Sprengbombe ging in etwa 10 m Entfernung nieder, ein großer Trichter war auf der Strasse und die Bäume, die Alleebäume aus ‚Herr und Hund‘ waren zerfetzt. Der Zaun ist weggerissen, die Terrasse zerstört und der Seitenflügel, das Dach kaputt und drinnen ist alles ein einziger Trümmerhaufen. Nur der Baumstumpf in der Mauer, dieser liebevoll geschonte Baumstumpf steht noch da, als einziges Zeichen und als Erinnerung an früher.[84]

Diese Beobachtung findet sich wieder in Hermann Lenz‘ Erzählung „Die unsichtbare Loge“ aus dem Band Das doppelte Gesicht. Drei Erzählungen (1949). (Abb. 32) Unschwer sind darin hinter den Hauptfiguren Hermann Lenz und Hanne Trautwein erkennbar. Der Held Lichtel liest in den „Aufzeichnungen über sein Leben mit Naemi“ vom ersten gemeinsamen „Besuch des Dichterhauses, einer vornehmen, repräsentativen, hochbürgerlichen Villa“ am Flussufer, mit abwesendem Hausherrn:

(…) nun hatten sie also zum erstenmal ihren Dichter begrüßt, allerdings nur in der Fassade seines Hauses, denn er selbst weilte im Ausland, und das Haus war von einer gefürchteten Polizeistelle in Besitz genommen worden. Aber trotzdem waren noch die Fensterscheiben da, durch die er geblickt hatte, und in der Gartenmauer der Baumstumpf erhalten, den er, der Lebens-Andächtige, voll Pietät im Mauerverband ausgespart (…).[85]

Die beiden sehen dann noch „die beruhigend hohen, sich wiegenden und silbrig-grau glitzernden Wipfel der Erlen- und Eschenbäume am jenseitigen Flußufer“,[86] dann fängt es an zu regnen und Lichtels Aufzeichnungen enden.

Thomas Mann, dem sein Freund Hans Reisiger diesen Band zugeschickt hatte, bezeichnet Hermann Lenz 1953 als „ein originelles, träumerisch-kühnes und merkwürdiges Talent, ganz selbständig neben Kafka, an den Geschichten in ihrer genauen, wohlartikulierten Un- und Überwirklichkeit noch am meisten erinnern“, die dritte Geschichte, also „Die unsichtbare Loge“, worin er selbst vorkommt, habe ihn freilich „etwas verwirrt“. Doch das Buch sei eine „zweifellos alle Aufmerksamkeit verdienende Erscheinung“: „Aus Deutschland ist mir seit langem nichts so Interessantes gekommen.“[87] Bei einem Empfang in Stuttgart nach Thomas Schiller-Rede im Württembergischen Landestheater am 8. Mai 1955, konnte sich Hermann Lenz sogar mit seinem Idol unterhalten, „und als ich sagte, sein Freund Reisiger habe mir seinen Brief über mein Buch geschenkt, lachte er, als hätte ich einen guten Witz gemacht“.[88]

 


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[81] Thomas Mann: Unordnung und frühes Leid (1925), in: Thomas Mann: Späte Erzählungen 1919-1953, hrsg. und textkritisch durchgesehen von Hans Rudolf Vaget unter Mitarbeit von Angelina Immoos. Frankfurt am Main 2012, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Band 6.1, S. 167-211, hier S. 198. Vgl. die Erstveröffentlichung der Illustrationen von Hermann Ebers in: Dirk Heißerer: „Musische Verschmelzungen“ (II). Die Illustrationen zu Unordnung und frühes Leid (1925), in: Alexander Krause (Hrsg.): „Musische Verschmelzungen“ Thomas Mann und Hermann Ebers. Erinnerungen, Illustrationen, Briefe. München 2006 (Thomas-Mann-Schriftenreihe, Bd. 5), S. 107-141, Abb. nach S. 140.

[82] Thomas Mann: Das Revier, in: Thomas Mann: Herr und Hund, in: Thomas Mann: Späte Erzählungen 1919-1953 (wie Anm. 81), S. 52-78, hier S. 52f.

[83] Ebd.

[84] Hanne Trautwein: Brief an Hermann Lenz, München, 26.04.1944, in: Hanne Trautwein, Hermann Lenz: Der Briefwechsel 1937-1946 (wie Anm. 54), Nr. 448, S. 839-841, hier S. 841.

[85] Hermann Lenz: Die unsichtbare Loge, Kap. III, in: Hermann Lenz, Das doppelte Gesicht. Drei Erzählungen, Stuttgart 1949, S. 254-277, hier S. 263. Der Titel der Erzählung bezieht sich auf den Roman Die unsichtbare Loge (1793) des Dichters Jean Paul (1763-1825).

[86] Ebd., S. 244.

[87] Thomas Mann: Brief an Hans Reisiger, Erlenbach, 19.04.1953, in: Thomas Mann: Briefe 1948-1955 und Nachlese, hrsg. von Erika Mann. Frankfurt am Main 1965, S. 292f., hier S. 292. Das Original des handschriftlichen Briefes (1 Bl., 2 S.) befindet sich in der Bayerischen Staatsbibliothek München, Nachlass Hermann Lenz, Ana 583.DXIII.1, „Autographensammlung“.

[88] Hermann und Hanne Lenz: Brief an Paul Celan, Stuttgart, 06.07.1955, in: Paul Celan, Hermann und Hanne Lenz: Briefwechsel. Mit drei Briefen von Gisèle Celan-Lestrange, hrsg. von Barbara Wiedemann in Verbindung mit Hanne Lenz. Frankfurt am Main 2022, Brief 16, S. 30-32, hier S. 31.

Verfasst von: Dr. Dirk Heißerer