Schackstraße 4: Thomas Mann als Redakteur beim Simplicissimus (1898-1900)
Die ‚feine Umgebung‘ der Schackstraße hatte schon um 1900 eine literarische Adresse. Im Haus Schackstraße 4/0, erbaut 1896, befanden sich zwischen 1897 und 1902 die Räume des Verlags Albert Langen und der Satirezeitschrift Simplicissimus. (Abb. 27) Die Zeitschrift, 1896 gegründet, hatte 1898 ihren ersten großen Skandal, erfuhr eine Anlage wegen ‚Majestätsbeleidigung‘, die den Verleger zur Flucht nach Paris zwang, den Zeichner Thomas Theodor Heine und den Dichter Frank Wedekind ins Gefängnis brachte und zugleich die Auflage verdoppelte![63] In diesem Trubel hatte der junge Schriftsteller Thomas Mann ein Gastspiel in der Redaktion des Simplicissimus:
Korfiz Holm, mir von Lübeck her bekannt (…), gehörte zu jener Zeit dem Verlagshause Langen an, dessen Chef, wegen Majestätsbeleidigung verfolgt, im Auslande lebte, wie Wedekind. Von der Straße weg, bei einer Begegnung, engagierte Holm mich mit einem Monatsgehalt von hundert Mark für die Redaktion des ‚Simplicissimus‘, und etwa ein Jahr lang, bis Langen von Paris aus den Posten kassierte, arbeitete ich in den eleganten Bureauräumen der Schackstraße als Lektor und Korrektor, hatte namentlich die erste Auswahl unter dem Novellenmanuskript-Einlauf für den ‚Simplicissimus‘ zu treffen und von der übergeordneten Instanz, Dr. [Reinhold] Geheeb, dem Bruder des Landschulpädagogen [Paul Geheeb], die endgültige Entscheidung über meine Vorschläge einzuholen.[64]
Was das bedeutete, hat Thomas Mann 1920 in einem „Glückwunsch an den ‚Simplicissimus‘“ so zusammengefasst: „Wenn ich ‚Ja‘ auf den Umschlag eines Manuskriptes geschrieben hatte, strich Geheeb es gewöhnlich aus und schrieb ‚Nein‘ dafür. Er hatte wohl recht; wir konnten nicht so viel drucken, wie ich annehmen wollte.“[65] (Abb. 28)
Abb. 28: Thomas Mann: Simplicissimus-Geschäftsbrief an Reinhold Geheeb, München, Schackstraße 4, vom 16.10.1899. Foto: Privatsammlung. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Einige der Absagebriefe, die Thomas Mann auf Briefbögen des Albert Langen Verlags, Schackstraße 4, zu schreiben hatte, aber auch einige der Zusagen, die er erteilen durfte, sind erhalten geblieben.[66] In den Verlagsräumen war Thomas Mann „luxuriöserweise ein eigenes Zimmer mit prächtigem Schreibtisch eingeräumt“[67] worden. Dennoch nahm sich der junge Lektor auf seinen Heimweg über die Kaulbachstraße offenbar auch Arbeit mit in seine Wohnung im alten Schwabing, an der Feilitzschstraße 5/III (heute 32), in seine „allerdings wenig komfortable Dichter-Clause und Filiale der Simplicissimus-Redaktion“,[68] wo er damals an seinem Roman Buddenbrooks. Verfall einer Familie (1901) arbeitete. In dieser Zeit wurde Thomas Mann Anfang Oktober 1900 kurzfristig zum Militär einberufen (und nach zwei Monaten wegen Fußproblemen, zugezogen beim Parademarsch, wieder ausgemustert). In dieser Zeit kam er noch verschiedentlich in die Redaktion, wo ihn Ludwig Thoma beobachtete:
Hie und da kam ein junger Mann in der Uniform eines bayerischen Infanteristen, trug einen Stoß Manuskripte, die er für den Verlag geprüft hatte, bei sich und übergab der Redaktion ab und zu geschätzte Beiträge; er war sehr zurückhaltend, sehr gemessen im Ton, und man erzählte von ihm, daß er an einem Roman arbeite. Der Infanterist hieß Thomas Mann, und der Roman erschien später unter dem Titel ‚Buddenbrooks‘.[69]
Einer dieser ‚geschätzten Beiträge‘ für den Simplicissimus war die Groteske „Der Weg zum Friedhof“, die am Neuen Münchner Nordfriedhof spielt und „den besonderen Beifall Ludwig Thoma’s“[70] fand. Thomas Manns Beziehung zum Simplicissimus ist darüber hinaus ein eigenes Thema, das die satirisch-humoristische Grundierung seines Werks unterstreicht.[71]
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[63] Vgl. Dirk Heißerer: Die erste Adresse der Satire. Rund um den Simplicissimus, in: Dirk Heißerer: Wo die Geister wandern. Literarische Spaziergänge durch Schwabing. München, 2., durchgesehene Auflage 2016, S. 44-76, hier S. 47.
[64] Thomas Mann: Lebensabriß (1930), in: Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band XI: Reden und Aufsätze 3. Frankfurt am Main 1974, S. 98-144, hier S. 105.
[65] Thomas Mann: Glückwunsch an den ‚Simplicissimus‘ (1929), in: Thomas Mann.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band X, Reden und Aufsätze 2, Frankfurt am Main 1974, S. 850f., hier S. 850.
[66] Vgl. Thomas Manns briefliche Absagen an Otto Julius Bierbaum (98/11, 99/23), Otto Grautoff (98/12), Marie Franzos (99/6, 99/7) und Philipp Witkop (99-00/1) sowie die Zusagen an Kurt Martens (99/8), Ludwig Jakubowski (99/24) und Otto Julius Bierbaum (00/3), in: Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register. Band I. Die Briefe von 1889 bis 1933. Bearbeitet und hrsg. unter Mitarbeit von Yvonne Schmidlin (Thomas Mann-Archiv Zürich) von Hans Bürgin und Hans-Otto Mayer. Frankfurt am Main 1976.
[67] Thomas Mann: Lebensabriß (1930) (wie Anm. 64), S. 106.
[68] Thomas Mann: Brief an Kurt Martens, München, 7.6.1899, in: Thomas Mann: Briefe 1889-1936, hrsg. von Erka Mann. Frankfurt am Main 1962, S. 10f., hier S. 11.
[69] Ludwig Thoma: Erinnerungen (1919). München 1983, S. 151.
[70] Thomas Mann: Lebensabriß (1930) (wie Anm. 64), S. 106; vgl. Dirk Heißerer: „Der Weg zum Friedhof“ (1900) – Eine Groteske vor dem Nordfriedhof, in: Dirk Heißerer: Das Rätsel der Sphingen vom Nordfriedhof. Bewahrung bei Thomas Mann, Verlust und Rekonstruktion. Würzburg 2021 (Thomas-Mann-Schriftenreihe, Fundstücke, Bd. 8), S. 119-136.
[71] Vgl. Dirk Heißerer: Das „beste Witzblatt der Welt“. Thomas Mann und der Simplicissimus, in: Dirk Heißerer (Hrsg.): Thomas Mann in München. Vortragsreihe Sommer 2003. München 2004 (Thomas-Mann-Schriftenreihe, Bd. 2), S. 67-103.
Die ‚feine Umgebung‘ der Schackstraße hatte schon um 1900 eine literarische Adresse. Im Haus Schackstraße 4/0, erbaut 1896, befanden sich zwischen 1897 und 1902 die Räume des Verlags Albert Langen und der Satirezeitschrift Simplicissimus. (Abb. 27) Die Zeitschrift, 1896 gegründet, hatte 1898 ihren ersten großen Skandal, erfuhr eine Anlage wegen ‚Majestätsbeleidigung‘, die den Verleger zur Flucht nach Paris zwang, den Zeichner Thomas Theodor Heine und den Dichter Frank Wedekind ins Gefängnis brachte und zugleich die Auflage verdoppelte![63] In diesem Trubel hatte der junge Schriftsteller Thomas Mann ein Gastspiel in der Redaktion des Simplicissimus:
Korfiz Holm, mir von Lübeck her bekannt (…), gehörte zu jener Zeit dem Verlagshause Langen an, dessen Chef, wegen Majestätsbeleidigung verfolgt, im Auslande lebte, wie Wedekind. Von der Straße weg, bei einer Begegnung, engagierte Holm mich mit einem Monatsgehalt von hundert Mark für die Redaktion des ‚Simplicissimus‘, und etwa ein Jahr lang, bis Langen von Paris aus den Posten kassierte, arbeitete ich in den eleganten Bureauräumen der Schackstraße als Lektor und Korrektor, hatte namentlich die erste Auswahl unter dem Novellenmanuskript-Einlauf für den ‚Simplicissimus‘ zu treffen und von der übergeordneten Instanz, Dr. [Reinhold] Geheeb, dem Bruder des Landschulpädagogen [Paul Geheeb], die endgültige Entscheidung über meine Vorschläge einzuholen.[64]
Was das bedeutete, hat Thomas Mann 1920 in einem „Glückwunsch an den ‚Simplicissimus‘“ so zusammengefasst: „Wenn ich ‚Ja‘ auf den Umschlag eines Manuskriptes geschrieben hatte, strich Geheeb es gewöhnlich aus und schrieb ‚Nein‘ dafür. Er hatte wohl recht; wir konnten nicht so viel drucken, wie ich annehmen wollte.“[65] (Abb. 28)
Abb. 28: Thomas Mann: Simplicissimus-Geschäftsbrief an Reinhold Geheeb, München, Schackstraße 4, vom 16.10.1899. Foto: Privatsammlung. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Einige der Absagebriefe, die Thomas Mann auf Briefbögen des Albert Langen Verlags, Schackstraße 4, zu schreiben hatte, aber auch einige der Zusagen, die er erteilen durfte, sind erhalten geblieben.[66] In den Verlagsräumen war Thomas Mann „luxuriöserweise ein eigenes Zimmer mit prächtigem Schreibtisch eingeräumt“[67] worden. Dennoch nahm sich der junge Lektor auf seinen Heimweg über die Kaulbachstraße offenbar auch Arbeit mit in seine Wohnung im alten Schwabing, an der Feilitzschstraße 5/III (heute 32), in seine „allerdings wenig komfortable Dichter-Clause und Filiale der Simplicissimus-Redaktion“,[68] wo er damals an seinem Roman Buddenbrooks. Verfall einer Familie (1901) arbeitete. In dieser Zeit wurde Thomas Mann Anfang Oktober 1900 kurzfristig zum Militär einberufen (und nach zwei Monaten wegen Fußproblemen, zugezogen beim Parademarsch, wieder ausgemustert). In dieser Zeit kam er noch verschiedentlich in die Redaktion, wo ihn Ludwig Thoma beobachtete:
Hie und da kam ein junger Mann in der Uniform eines bayerischen Infanteristen, trug einen Stoß Manuskripte, die er für den Verlag geprüft hatte, bei sich und übergab der Redaktion ab und zu geschätzte Beiträge; er war sehr zurückhaltend, sehr gemessen im Ton, und man erzählte von ihm, daß er an einem Roman arbeite. Der Infanterist hieß Thomas Mann, und der Roman erschien später unter dem Titel ‚Buddenbrooks‘.[69]
Einer dieser ‚geschätzten Beiträge‘ für den Simplicissimus war die Groteske „Der Weg zum Friedhof“, die am Neuen Münchner Nordfriedhof spielt und „den besonderen Beifall Ludwig Thoma’s“[70] fand. Thomas Manns Beziehung zum Simplicissimus ist darüber hinaus ein eigenes Thema, das die satirisch-humoristische Grundierung seines Werks unterstreicht.[71]
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[63] Vgl. Dirk Heißerer: Die erste Adresse der Satire. Rund um den Simplicissimus, in: Dirk Heißerer: Wo die Geister wandern. Literarische Spaziergänge durch Schwabing. München, 2., durchgesehene Auflage 2016, S. 44-76, hier S. 47.
[64] Thomas Mann: Lebensabriß (1930), in: Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band XI: Reden und Aufsätze 3. Frankfurt am Main 1974, S. 98-144, hier S. 105.
[65] Thomas Mann: Glückwunsch an den ‚Simplicissimus‘ (1929), in: Thomas Mann.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band X, Reden und Aufsätze 2, Frankfurt am Main 1974, S. 850f., hier S. 850.
[66] Vgl. Thomas Manns briefliche Absagen an Otto Julius Bierbaum (98/11, 99/23), Otto Grautoff (98/12), Marie Franzos (99/6, 99/7) und Philipp Witkop (99-00/1) sowie die Zusagen an Kurt Martens (99/8), Ludwig Jakubowski (99/24) und Otto Julius Bierbaum (00/3), in: Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register. Band I. Die Briefe von 1889 bis 1933. Bearbeitet und hrsg. unter Mitarbeit von Yvonne Schmidlin (Thomas Mann-Archiv Zürich) von Hans Bürgin und Hans-Otto Mayer. Frankfurt am Main 1976.
[67] Thomas Mann: Lebensabriß (1930) (wie Anm. 64), S. 106.
[68] Thomas Mann: Brief an Kurt Martens, München, 7.6.1899, in: Thomas Mann: Briefe 1889-1936, hrsg. von Erka Mann. Frankfurt am Main 1962, S. 10f., hier S. 11.
[69] Ludwig Thoma: Erinnerungen (1919). München 1983, S. 151.
[70] Thomas Mann: Lebensabriß (1930) (wie Anm. 64), S. 106; vgl. Dirk Heißerer: „Der Weg zum Friedhof“ (1900) – Eine Groteske vor dem Nordfriedhof, in: Dirk Heißerer: Das Rätsel der Sphingen vom Nordfriedhof. Bewahrung bei Thomas Mann, Verlust und Rekonstruktion. Würzburg 2021 (Thomas-Mann-Schriftenreihe, Fundstücke, Bd. 8), S. 119-136.
[71] Vgl. Dirk Heißerer: Das „beste Witzblatt der Welt“. Thomas Mann und der Simplicissimus, in: Dirk Heißerer (Hrsg.): Thomas Mann in München. Vortragsreihe Sommer 2003. München 2004 (Thomas-Mann-Schriftenreihe, Bd. 2), S. 67-103.