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Abb. 25: Der Umschlag für den Briefwechsel zwischen Hanne Trautwein und Hermann Lenz (2018) verwendet ein Foto der beiden aus dem Englischen Garten vom 30. Juni 1938. Foto: Unbekannt. Insel Verlag

Schackstraße 6: Hermann Lenz 1937

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Abb. 26: Der Eingang zum Haus Schackstraße 6 (Neubau 1950/51) mit dem historischen Pfeiler-Gitter-Zaun, 2022. Foto: Dirk Heißerer

Zu den Gästen Hubert Burdas im Haus Schackstraße 1 (vgl. Station 4) gehörten auch der Schriftsteller Hermann Lenz (1913-1998) aus Stuttgart und seine Frau Hanne, geb. Trautwein (1915-2010) aus München. (Abb. 25) Der 60-jährige Hermann Lenz war von dem damals 31-jährigen Peter Handke kurz vor Weihnachten 1973 öffentlich ‚entdeckt‘ worden, ein ziemlich einmaliges Phänomen in der neueren deutschen Literatur. Handkes Aufsatz „Tage wie ausgeblasene Eier. Einladung, Hermann Lenz zu lesen“[51] in der Süddeutschen Zeitung verhalf dem bis dahin erfolglosen Hermann Lenz zu Anerkennung und langjährigem Ruhm. Aus der Bekanntschaft wurde eine Freundschaft, die sich erst recht bewährte, nachdem das Ehepaar Lenz 1975 nach München in das Elternhaus von Frau Lenz an der Mannheimerstraße 5 gezogen war. Als Hermann Lenz, so Michael Krüger, „zum ersten Mal in der Schackstraße Nummer 1 zu Besuch war“, erzählte er, dass er als Student der Kunstgeschichte im Januar 1937 „in der Schackstraße Nummer 6 bei der Baronesse Vellberg, die eine Reihe ihrer Zimmer in der großen Altbauwohnung vermietete, zu einem stolzen Preis“,[52] gewohnt habe oder besser, nach einem angeblichen ersten Aufenthalt der Romanfigur 1934, dort wieder gewohnt habe.

In seinem bereits erwähnten autobiographischen Roman Neue Zeit (1975) (vgl. Station 2) erinnert sich der Erzähler:

Wie früher umstanden Staketenzäune die Vorgärten der Schackstraße rechter und linker Hand, und immer noch war die Schackstraße kaum belebt, weshalb er dachte: bilde dir ein, man schriebe das Jahr neunzehnhundertsieben…obwohl vor dreißig Jahren jener Sessel bei Baronesse Vellberg nicht so abgewetzt wie heut gewesen wäre, sein Sammet aber schon zu jener Zeit die Farbe von trockenen Gräsern gehabt hätte; denn er entsann sich nun, als er wieder nach München kam, des Sessels, hoffte, daß er wieder in das Zimmer jener Baronesse einziehen könne, das im Hause Nummer sechs gelegen war, wo, ebenfalls wie vor drei Jahren, eine Tafel mit der Aufschrift ‚Zimmer zu vermieten‘ hinterm Gitter der Haustüre und oben im dritten Stock am Fenster steckte; die Aufschrift hatte gotische Buchstaben.[53] (Abb. 26)

In der „altmodischen Stube“, die Hermann Lenz damals bewohnte, gab es tatsächlich einen „abgeschabten Lehnstuhl“.[54] Mit der „Baronesse Vellberg“ ist Stephanie Freiin von Crailsheim (1873-1950) gemeint, die im Adressbuch München 1938 und 1939 in der Schackstraße 6/III als „Gutsbesitzerstochter“ geführt wird; sie war die Tochter des Kgl. Bayer. Rittmeisters Karl Ernst Gustav von Crailsheim (1820-1896) und der Sophie, geb. Freiin von Saint-André (1842-1915) und stammte vom Gut Sommersdorf bei Ansbach (Mittelfranken).[55] Für Hermann Lenz war das genau die richtige alte Welt, in der er sich wohl fühlte und sich vor den Zumutungen der Gegenwart in Sicherheit brachte; und so ließ er sich eben auch eine Visitenkarte mit dem Namen und der Adresse seiner Vermieterin anfertigen.[56] Auf derselben Etage des Hauses aus dem Jahr 1894 wohnte damals eine zweite Baronin, Edith Sophie Olga Freiin von Branca (1873-1950), eine Enkelin des Physikers Hermann von Helmholtz (1821-1894). Bei einem Bombenangriff im Juli 1944 wurde das 1894 erbaute Haus zerstört, und die Wohnungen der beiden adeligen Damen brannten aus. Vor dem Neubau (1950/51) hat sich der neubarocke Pfeiler-Gitter-Zaun bis heute erhalten.[57]

 


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[51] Peter Handke: Tage wie ausgeblasene Eier. Einladung, Hermann Lenz zu lesen, in: Süddeutsche Zeitung (München), Nr. 296 vom 22./23.12.1973, S. 57f. (SZ am Wochenende) Link; leicht redigiert unter dem Titel „Jemand anderer: Hermann Lenz“ auch in: Peter Handke: Als das Wünschen noch geholfen hat. Frankfurt am Main 1974, S. 81-100.

[52] Michael Krüger: Nachwort, in: Peter Handke: Kleine Fabel der Esche von München (wie Anm. 1), S. 71.

[53] Hermann Lenz: Neue Zeit (wie Anm. 20), S. 7.

[54] Hermann Lenz: Brief an Hanne Trautwein, Stuttgart, 26.12.1937, in: Hanne Trautwein, Hermann Lenz: „Das Innere wird durch die äußeren Umstände nicht berührt.“ Der Briefwechsel 1937-1946, hrsg. von Michael Schwidtal. Berlin 2018, Nr. 1, S. 7-10, hier S. 8 und 9.

[55] Vgl. Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der Freiherrlichen Häuser zugleich Adelsmatrikel der Deutschen Adelsgenossenschaft. Teil A, Jg. 88, Gotha 1938, S. 74. Freundliche Auskunft von Ursula von Crailsheim, Gauting, vom 21.08.2022; das Sterbedatum der Stephanie von Crailsheim, „Mindelheim, 15.9.1950“, wurde familiär handschriftlich ergänzt.

[56] Vgl. Hanne Trautwein: Brief an Hermann Lenz, München 12.3.1939, in: Hanne Trautwein, Hermann Lenz: Der Briefwechsel 1937-1946 (wie Anm. 54), Nr. 53, S. 155- 157, hier S. 157; Kommentar S. 159.

[57] Vgl. Edith Branco/von Branca: Entwürfe eines Lebens, in: Winfried Mogge: Wilhelm Branco (1844-1928). Geologe, Paläontologe, Darwinist. Eine Biografie. Berlin 2018, S. 254-258, hier S. 257; Schackstraße 6, in: Denkmäler in Bayern. Drittelband 3 (wie Anm. 28), S. 993.

Verfasst von: Dr. Dirk Heißerer