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Abb. 03: Roland von Bohr (1899-1982): Thukydides (1958) (mit Leselampe). Foto (2022): Dirk Heißerer

Ludwigstraße 16: „Thukydides“ vor der Bayerischen Staatsbibliothek

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Abb. 05a: Die neuen vier Weisen am alten Ort, 2020. Foto: BSB / H. Schulz

Thukydides, dem zu Ehren Peter Handke seine Prosasammlung benannt hat, sitzt in München nicht weit von der Esche entfernt seit fast 180 Jahren als eine von vier Portalfiguren vor der Bayerischen Staatsbibliothek in prominenter Reihe. (Abb. 03) Als der Architekt der neuen Bayerischen Staatsbibliothek, Friedrich von Gärtner, am 8. Mai 1843 vor dem Haupteingang mit den drei großen gekuppelten Mittelportalen dem Bibliotheksdirektor Philipp von Lichtenthaler die Schlüssel überreichte und die ersten Bücherkisten geliefert wurden, saßen auf der Balustrade der Freitreppe bereits vier steinerne Figuren in ihren Thronsesseln. Nach Plänen Ludwig Schwanthalers (1837) hatten die Bildhauer Ernst Mayer, Francesco Sanguinetti und Ernst Hähnel vier 2,40 Meter hohe Statuen von Weisen der griechischen Antike aus Kelheimer Kalkstein modelliert, deren Themen für die Bibliothek grundlegend sein sollten: Thukydides (Geschichte) von Mayer, Homer (Dichtung) von Hähnel sowie Aristoteles (Philosophie) und Hippokrates (Medizin) von Sanguinetti.[5] (Abb. 04)

Abb. 04: Die alten vier Weisen vor der Bayerischen Staatsbibliothek, vor 1940. Foto: BSB (port-021590). Abb. 05b: Thukydides aus dem Bilderzyklus (2008) im Marmorsaal der Bayerischen Staatsbibliothek, 2022. Foto: Dirk Heißerer.

Der Athener Historiker Thukydides (um 455-396 v. Chr.) wandte sich in seinem Hauptwerk, Der Krieg zwischen den Peloponnesiern und den Athenern über den „Peloponnesischen Krieg“ (431-404 v. Chr.), vom mythischen Erzählen eines Homer ab und der genauen Darstellung der „Gegenwartsgeschichte“ zu. Die rationale Analyse des Geschehens, seiner Ursachen und Wirkungen, führte aufgrund von unbestechlichen Urkunden und Zeugnissen zu größtmöglicher Objektivität und zum „selbständigen Denken“ des Lesers.[6] Das gibt aber nicht nur die Richtung für das Verständnis des Handke-Titels Noch einmal für Thukydides an. Vielmehr umwittert die heutige Thukydides-Figur vor der Bayerischen Staatsbibliothek noch eine weitere Geschichte, die dazu ebenfalls mit einem Krieg zu tun hat.

Mehr als 100 Jahre lang saßen die „vier heiligen drei Könige“ dort in Wind und Wetter. Das Bonmot lässt sich auf Ludwig Ganghofer (1855-1920) zurückführen. In seinen Erinnerungen, dem Lebenslauf eines Optimisten (1909-1911), zählt er im zweiten Band, Buch der Jugend (1910), ein paar Streiche des 20-jährigen Studenten in München auf. Einer davon betrifft eine Kletterpartie an der Fassade der „Staatsbibliothek“, einem „Gebäude, das nach den vier Statuen der hellenischen Weisen vor seinem Portal als ‚Palast der vier heiligen drei Könige‘ bezeichnet“ worden sei.[7] Wen aber diese „hellenischen Weisen“ darstellen sollten, das war den Münchnern nicht immer klar. Lion Feuchtwanger gibt dafür in seinem München-Roman Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz (1930) ein gutes Beispiel. Der Kommerzienrat Paul Heßreiter kommt auf dem Weg von Schwabing zum Justizpalast an den Figuren vorbei:

Vor dem breiten Gebäude der staatlichen Bibliothek saßen in Stein gehauen friedlich in der Sonne vier Männer altgriechischen Gepräges mit nacktem Oberkörper. Er hatte in der Schule gelernt, wen sie darstellten. Heute wußte er es natürlich nicht mehr. Wenn man täglich an jemandem vorbeigeht, sollte man eigentlich wissen, wer er ist. Er wird sich nächstens einmal wieder erkundigen.[8]

Nachdem schon vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs der Entschluss gefasst worden war, die Figuren aufgrund ihres schlechten Erhaltungszustands durch Nachbildungen zu ersetzen, wurden sie vorsorglich im Juni 1941 in den südlichen Innenhof der Staatsbibliothek ausgelagert.[9] Dort blieben sie fast 20 Jahre, bis 1958 die Entscheidung fiel, die „vier alten Griechen von früher (…) wieder auf dem Geländer vor dem Portal“ zu postieren.[10] Vier zeitgenössische Bildhauer wurden beauftragt, Repliken, also Nachschöpfungen der originalen Figuren zu erstellen. Zwei Jahre später nahmen die neuen Figuren aus Manchinger Donaukalkstein von Roland von Bohr (Thukydides), Hans Vogl (Homer), Karl Kroher (Aristoteles) und Elmar Dietz (Hippokrates) ihre alten Plätze ein.[11] (Abb. 05a)

Anlässlich der „Wiederaufstellung der griechischen Weisen vor der Staatsbibliothek“ wurde jedoch in Leserbriefen an die Süddeutsche Zeitung schon im Juni 1960 bedauert, dass „die Namen der Dargestellten“ dort nicht angebracht worden seien: „‘Wäre es nicht möglich‘, heißt es in einer Zuschrift, ,die Namen Thukydides, Homer, Aristoteles und Hippokrates einzumeißeln, damit niemand die ‚Vier Heiligen Drei Könige‘ (wie sie scherzhaft genannt werden) durcheinanderbringt.‘“ Selbst im eigenen Haus sei man nicht sicher: „In einem alten Buch über die Staatsbibliothek finden sich unter der Figur des Hippokrates drei weitere, mit einem Fragezeichen versehene Namen.“[12]

Immerhin, die alten Griechen waren in neuer Form wieder zurückgekehrt, und Karl Ude konnte im Juni 1964 in der Süddeutschen Zeitung launig bemerken, dass in München aus der griechischen und römischen Antike „nur vier große Männer leibhaft gegenwärtig“ seien, wenn auch „vorwiegend als Treppenschmuck. Gemeint sind der Dichter Homer, der Philosoph Aristoteles, der Arzt Hippokrates und der Geschichtsschreiber Thukydides, die in der Ludwigstraße das Amt von ‚Vorsitzenden‘ der Bayerischen Staatsbibliothek versehen.“[13] Inzwischen hat auch jede Figur ein Namensschildchen.

Abb. 06-09: Die alten vier Weisen auf dem Lastwagen mit Anhänger der Fa. „Hamberger Hoch- und Tiefbau, Endorf“ im südlichen Innenhof der Bayerischen Staatsbibliothek, Ludwigstraße 16, kurz vor der Abfahrt, August 1964. V.l.: Aristoteles, Homer, Thukydides, Hippokrates. Foto: BSB (port-021935). Die Gruppenreise an den Chiemsee beginnt, August 1964. Foto: BSB (port-021942). Ankunft in Bernau (im Hintergrund die Kirche St. Laurentius), August 1964. V.l.n.r.: Aristoteles, Homer, Thukydides, Hippokrates. Foto: BSB (port-012819). Die vier alten Weisen vor der noch unfertigen neuen Grundschule in Bernau, August 1964. Foto: BSB (port-012820).

Damit nicht genug, wurden die vier ‚Vorsitzenden‘ in München Anfang Juli 2008 im Marmorsaal der Bayerischen Staatsbibliothek mit einem Bilderzyklus geehrt, bei dem jedem der Weisen ein Sinnspruch zugeordnet wurde. Bei Thukydides lesen wir: „Leichtsinnig sind die Meisten bei der Erforschung der Wahrheit und geben sich mit den ersten besten Nachrichten zufrieden. Hist. I.20.3“. (Abb. 05b)

Abb. 10a: Die vier alten Weisen auf neuen Podesten. Bernau am Chiemsee, Schulpark. V.l.n.r.: Homer, Aristoteles, Thukydides, Hippokrates. Foto: Dirk Heißerer.

Übrig blieben die vier alten Figuren oder ‚oidn Weisen‘; sie wurden im August 1964,[14] wie Fotos im Bildarchiv der Bayerischen Staatsbibliothek anschaulich festhalten, von einem Lastwagen mit Anhänger in München abgeholt und in einer wohl ziemlich einmaligen Gruppenreise an den Chiemsee gefahren. (Abb. 06-09) Unterhalb der Kath. Pfarrkirche St. Laurentius sinnieren sie seither im Garten der damals neuen Grundschule Bernau vor sich hin. Aber auch hier hat jede Figur ein Namensschildchen, sogar mit Lebensdaten und dem Hinweis auf die Hauptwerke. (Abb. 10a) Und Thukydides macht mit geradem Rücken (Abb. 10b) noch immer eine bessere Figur als sein etwas gebeugter Nachfolger in München über der Ludwigstraße. (Abb. 10c).

Abb. 10b: Ernst Mayer (1796-1844): Thukydides (1843), Kelheimer Kalkstein. Bernau am Chiemsee, Schulpark, 2022. Foto: Dirk Heißerer. Beschriftung: „THUKYDIDES / Geschichtsschreiber des Peleponnesischen / Krieges (um 460-400 v. Chr.) als / Personifizierung der Geschichtswissenschaft“. Abb. 10c: Roland von Bohr (1899-1982): Thukydides (1958), Manchinger Donaukalkstein. München, Ludwigstraße 16, 2022. Foto: Dirk Heißerer.
 


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[5] Bisher war angenommen worden, die Figuren seien nur von Mayer und Sanguinetti ausgeführt worden, vgl. Carolyn Krebber: Der Bau der Bayerischen Staatsbibliothek in München von Friedrich von Gärtner. München 1987, S. 21, 35; LUDWIGSTRASSE 16, Bayerische Staatsbibliothek, in: Josef H. Biller, Hans-Peter Rasp: München. Kunst & Kultur. Stadtführer und Handbuch. München 2003, S. 215-217, hier S. 216. Zum Hinweis auf den „jungen Dresdner Ernst Hähnel“, der die Figur „nach Schwanthalers Skizzen modelliert“ habe, vgl. Ludwigstraße 16. Bayerische Staatsbibliothek, in: Denkmäler in Bayern. Landeshauptstadt München Mitte. Drittelband 2 (wie Anm. 28), S. 507-511, hier S. 508.

[6] Vgl. Helmuth Vretska: Nachwort, in: Thukydides: Der Peloponnesische Krieg. Übersetzt und herausgegeben von Helmuth Vretska und Werner Rinner. Stuttgart 2000, S. 777-812, hier S. 788, 812.

[7] Vgl. Ludwig Ganghofer: Lebenslauf eines Optimisten. Band 2: Buch der Jugend, Kap. X. Stuttgart 1910, S. 420-475, hier S. 445.

[8] Lion Feuchtwanger: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Roman (1930). Erstes Buch: Justiz, Kap. 5: Herr Hessreiter demonstriert. Berlin und Weimar 1989, S. 30-39, hier S. 33.

[9] Vgl. den Artikel „Die vier Männer vor der Staatsbibliothek. Sie sind verwittert, werden nun entfernt und neu geschaffen“, in: Münchner Neueste Nachrichten (München), Nr. 171 vom 20.06.1941, S. 4 (Münchner Stadtanzeiger) (Freundlicher Hinweis von Annemarie Kaindl, Bayerische Staatsbibliothek München, vom 22.08.2022).

[10] Friedrich Mager: Stattlich baut der Staat in der Stadt, in: Süddeutsche Zeitung (München), Nr. 63 vom 14./15.03.1959, S. 9-10, hier S. 9.

[11] Freundliche Auskunft von Annemarie Kaindl, Bayerische Staatsbibliothek München, vom 17.08.2022. Die Behauptung, die alten Figuren seien kriegsbeschädigt gewesen und die „Nachbildungen“ erst 1966 aufgestellt worden, ist zu korrigieren, vgl. Franz Georg Kaltwasser: Bayerische Staatsbibliothek. Wechselndes Rollenverständnis im Lauf der Jahrhunderte (Wiesbaden 2006, S. [4]); Beate Ofczarek: Die vier Heiligen Drei Könige der Bayerischen Staatsbibliothek, in: Bibliotheksmagazin (Berlin, München), H. 2, 2009, S. 67-71, hier S. 70, sowie LUGWIGSTRASSE 16, in: Josef H. Biller, Hans-Peter Rasp: München (wie Anm. 5), S. 216, dort auch die irrige Zuordnung der „Neuschöpfungen1966 (!) von H. Vogel (!) (Thukydides), Dietz (Homer), Bohr (Aristoteles) und Kroher (Hippokrates)“.

[12] To: Alter Grieche mit Fragezeichen, in: Süddeutsche Zeitung (München), Nr. 136 vom 07.06.1960, S. 5.

[13] Karl Ude: Münchens historischer Standbilderbogen, in: Süddeutsche Zeitung (München), Nr. 148 vom 20./21.06.1964, S. 13.

[14] Freundliche Auskunft von Annemarie Kaindl, Bayerische Staatsbibliothek München, vom 22.08.2022. Die Datierung der Aufstellung in Bernau auf 1965 ist zu korrigieren, vgl. Ludwigstraße 16. Bayerische Staatsbibliothek, in: Denkmäler in Bayern. Landeshauptstadt München Mitte. Drittelband 2 (wie Anm. 28), S. 507-511, hier S. 508.

Verfasst von: Dr. Dirk Heißerer