München, Ettstraße 2
1933 – Eine veränderte Welt – Kammerspielball im Hotel Regina
Am 30. Januar 1933 gelingt Hitler die Machtergreifung. In ihrer Autobiographie beteuert Grete Weil, sich nicht mehr erinnern zu können, wie sie davon erfahren hat („Das eingreifende, zerstörerischste Ereignis meines Lebens, und ich habe vergessen, habe verdrängt“). Sie beschreibt des Weiteren die politische Ausrichtung der Kammerspiele.
Am Rosenmontag waren wir auf dem Kammerspielball im Regina-Hotel. Edgar tanzte mit einer Bekannten von uns, kam zu mir und sagte: „Ellen ist verrückt geworden, dauernd redet sie davon, dass der Reichstag brenne“.
Wir tanzten weiter, fuhren nach dem Regina ins Luitpold, in dem es keine Sperrstunde gab. In der Morgendämmerung kamen wir nach Hause, am Siegestor kauften wir eine Zeitung und lasen, dass der Reichstag brannte. Da war der Fasching zu Ende, einen Tag zu früh brach im grauen Winter der Aschermittwoch an. Aber noch immer war in Bayern alles anders.
Die Kammerspiele galten damals als links, ohne es wirklich zu sein. Der Direktor Otto Falckenberg, großer und poetischer Regisseur, war ein ganz und gar unpolitischer Mensch, der es nie gewagt hätte, in dieser Zeit ein linkslastiges Stück herauszubringen. Uns ärgerte das. Gemeinsam mit einem jungen Journalisten wollten wir so etwas wie einen Verein gründen, in dem linke Stücke im geschlossenen Kreis vorgelesen werden sollten, und wir hatten als erstes Stück an Die heilige Johanna der Schachthöfe von Brecht gedacht. Doch um der Sache Gewicht zu geben, wollten wir jemanden mit einem Namen dabei haben und schrieben deshalb an den mit uns befreundeten Schriftsteller Bruno Frank, ohne zu wissen, dass er sich sofort nach dem Reichstagsbrand ins Ausland abgesetzt hatte. Unser Brief erreichte ihn in der Emigration. Er schrieb eine ausführliche Antwort, in der er uns auseinandersetzte, warum er von der Sache überhaupt nichts halte, sie sei unnütz und komme viel zu spät.
(Grete Weil: Leb ich denn, wenn andere leben. S. Fischer, Frankfurt 2001, S. 100)
Polizeipräsidium in der Ettstraße, Sign. FS-NL-RD-0182817 (Stadtarchiv München)
Edgar Weil im Polizeipräsidium in der Ettstraße
Kurz nach Hitlers Machtergreifung gibt es eine Razzia in den Kammerspielen. Die Nationalsozialisten vermuten hier verräterisches Gedankengut, verräterische Briefe und zudem ein Kooperieren mit den Russen. Auch Edgar Weil wird verhaftet, weil er in den Kammerspielen arbeitet und im vermuteten Besitz aufrührerischer Briefe ist. Er wird ins Polizeipräsidium in der Ettstraße gebracht und sitz dort ein. Grete Weil besucht ihn täglich im Gefängnis, schildert auch, wie es der Familie gelingt, ihn aus dem Gefängnis zu holen. In ihrer Autobiographie hat sie über Edgar Weils Gefängnisaufenthalt und allen damit verbundenen Umständen Zeugnis abgelegt. Grete Weil wird jetzt klar, was Faschismus wirklich bedeutet und dass sie Deutschland verlassen muss:
Jeden Tag verbrachte ich viele Stunden im Polizeipräsidium in der Ettstraße, machte mich gut zurecht, trug einen schwarzen Samtmantel, von dem ich wusste, dass er mir gut stand. Viele Nazis, die früher im Gefängnis gesessen hatten, waren inzwischen als Beamte eingestellt worden, und soweit es mein Stolz mir erlaubte, flirtete ich mit ihnen. Außer mir waren viele Arbeiterfrauen in der Ettstraße, die herauszufinden versuchten, wohin man ihre als Kommunisten oder Sozialdemokraten verhafteten Männer gebracht hatte. [...] In diesen Tagen begann ich zu verstehen, was Faschismus wirklich bedeutete. Ich begriff, dass, wenn man einen Menschen vierzehn Tage ohne Anklage, ohne Verhör grundlos festhielt, es auch vierzehn Jahre sein konnten. Trotz meiner Verzweiflung hatte ich in diesen Tagen nie das Gefühl einer wirklichen Gefahr, das kam erst sehr viel später. Als alles nichts nützte, hatte meine tatkräftige Mutter einen Einfall. In der Zeitung hatte gestanden, dass Hitlers Pressesprecher Putzi Hanfstengel [Ernst „Putzi“ Hanfstaengl] gesagt habe, bei einer Revolution kämen natürlich immer auch Ungerechtigkeiten vor, die man aber, sobald man von ihnen wisse, sofort wieder gutmachen werde.
Mutter ging zum Telefon, rief Frau Hanfstengel, eine Amerikanerin, die sie nicht kannte, an und sagte, sie habe so einen Fall zu melden. Am nächsten Tag kam Edgar frei, allerdings waren Heinrich Himmler und sein Stellvertreter Heydrich, die damaligen Leiter der Bayerischen Politischen Polizei, gerade in Berlin. Bevor Edgar entlassen wurde, musste er einen Wisch unterschreiben, dass er sich bedroht gefühlt und freiwillig in Schutzhaft begeben habe und dieses wieder tun werde, wenn er sich noch einmal bedroht fühlt. Edgar wollte nicht unterschreiben, als man ihm jedoch bedeutete, dann käme er nicht frei, unterschrieb er, freilich musste er sich vorläufig jeden Tag in der Ettstraße melden. Entlassen, ging Edgar über die Straße in Vaters Kanzlei, von dort wurde ich angerufen und erwartete ihn, der mit einem Taxi kam, in der Widenmayerstraße. [...]
Wir wussten jetzt, dass wir Deutschland verlassen mussten, sahen jedoch Schwierigkeiten voraus, wie wir, zwei Germanisten, im Ausland zu Geld kommen sollten, um zu überleben. Ich wäre gern in die Schweiz gegangen wegen der Berge, erkannte aber, dass es sehr schwer sein würde, dort eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, Edgar kündigte bei den Kammerspielen, Falckenberg fragte naiv, warum er denn nicht beim Theater bleiben wolle. Es folgte die Zeit der großen Verwirrung, der Ratlosigkeit. Es ist nicht einfach, das alles so weit Zurückliegende noch einmal aufzuschreiben, sich zurückzuversetzen in den Zustand des Nichtwissens, Nichtbegreifens.
(Ebda., S. 109)
Foto Edgar Weil (Archiv Monacensia)
1933 – Eine veränderte Welt – Kammerspielball im Hotel Regina
Am 30. Januar 1933 gelingt Hitler die Machtergreifung. In ihrer Autobiographie beteuert Grete Weil, sich nicht mehr erinnern zu können, wie sie davon erfahren hat („Das eingreifende, zerstörerischste Ereignis meines Lebens, und ich habe vergessen, habe verdrängt“). Sie beschreibt des Weiteren die politische Ausrichtung der Kammerspiele.
Am Rosenmontag waren wir auf dem Kammerspielball im Regina-Hotel. Edgar tanzte mit einer Bekannten von uns, kam zu mir und sagte: „Ellen ist verrückt geworden, dauernd redet sie davon, dass der Reichstag brenne“.
Wir tanzten weiter, fuhren nach dem Regina ins Luitpold, in dem es keine Sperrstunde gab. In der Morgendämmerung kamen wir nach Hause, am Siegestor kauften wir eine Zeitung und lasen, dass der Reichstag brannte. Da war der Fasching zu Ende, einen Tag zu früh brach im grauen Winter der Aschermittwoch an. Aber noch immer war in Bayern alles anders.
Die Kammerspiele galten damals als links, ohne es wirklich zu sein. Der Direktor Otto Falckenberg, großer und poetischer Regisseur, war ein ganz und gar unpolitischer Mensch, der es nie gewagt hätte, in dieser Zeit ein linkslastiges Stück herauszubringen. Uns ärgerte das. Gemeinsam mit einem jungen Journalisten wollten wir so etwas wie einen Verein gründen, in dem linke Stücke im geschlossenen Kreis vorgelesen werden sollten, und wir hatten als erstes Stück an Die heilige Johanna der Schachthöfe von Brecht gedacht. Doch um der Sache Gewicht zu geben, wollten wir jemanden mit einem Namen dabei haben und schrieben deshalb an den mit uns befreundeten Schriftsteller Bruno Frank, ohne zu wissen, dass er sich sofort nach dem Reichstagsbrand ins Ausland abgesetzt hatte. Unser Brief erreichte ihn in der Emigration. Er schrieb eine ausführliche Antwort, in der er uns auseinandersetzte, warum er von der Sache überhaupt nichts halte, sie sei unnütz und komme viel zu spät.
(Grete Weil: Leb ich denn, wenn andere leben. S. Fischer, Frankfurt 2001, S. 100)
Polizeipräsidium in der Ettstraße, Sign. FS-NL-RD-0182817 (Stadtarchiv München)
Edgar Weil im Polizeipräsidium in der Ettstraße
Kurz nach Hitlers Machtergreifung gibt es eine Razzia in den Kammerspielen. Die Nationalsozialisten vermuten hier verräterisches Gedankengut, verräterische Briefe und zudem ein Kooperieren mit den Russen. Auch Edgar Weil wird verhaftet, weil er in den Kammerspielen arbeitet und im vermuteten Besitz aufrührerischer Briefe ist. Er wird ins Polizeipräsidium in der Ettstraße gebracht und sitz dort ein. Grete Weil besucht ihn täglich im Gefängnis, schildert auch, wie es der Familie gelingt, ihn aus dem Gefängnis zu holen. In ihrer Autobiographie hat sie über Edgar Weils Gefängnisaufenthalt und allen damit verbundenen Umständen Zeugnis abgelegt. Grete Weil wird jetzt klar, was Faschismus wirklich bedeutet und dass sie Deutschland verlassen muss:
Jeden Tag verbrachte ich viele Stunden im Polizeipräsidium in der Ettstraße, machte mich gut zurecht, trug einen schwarzen Samtmantel, von dem ich wusste, dass er mir gut stand. Viele Nazis, die früher im Gefängnis gesessen hatten, waren inzwischen als Beamte eingestellt worden, und soweit es mein Stolz mir erlaubte, flirtete ich mit ihnen. Außer mir waren viele Arbeiterfrauen in der Ettstraße, die herauszufinden versuchten, wohin man ihre als Kommunisten oder Sozialdemokraten verhafteten Männer gebracht hatte. [...] In diesen Tagen begann ich zu verstehen, was Faschismus wirklich bedeutete. Ich begriff, dass, wenn man einen Menschen vierzehn Tage ohne Anklage, ohne Verhör grundlos festhielt, es auch vierzehn Jahre sein konnten. Trotz meiner Verzweiflung hatte ich in diesen Tagen nie das Gefühl einer wirklichen Gefahr, das kam erst sehr viel später. Als alles nichts nützte, hatte meine tatkräftige Mutter einen Einfall. In der Zeitung hatte gestanden, dass Hitlers Pressesprecher Putzi Hanfstengel [Ernst „Putzi“ Hanfstaengl] gesagt habe, bei einer Revolution kämen natürlich immer auch Ungerechtigkeiten vor, die man aber, sobald man von ihnen wisse, sofort wieder gutmachen werde.
Mutter ging zum Telefon, rief Frau Hanfstengel, eine Amerikanerin, die sie nicht kannte, an und sagte, sie habe so einen Fall zu melden. Am nächsten Tag kam Edgar frei, allerdings waren Heinrich Himmler und sein Stellvertreter Heydrich, die damaligen Leiter der Bayerischen Politischen Polizei, gerade in Berlin. Bevor Edgar entlassen wurde, musste er einen Wisch unterschreiben, dass er sich bedroht gefühlt und freiwillig in Schutzhaft begeben habe und dieses wieder tun werde, wenn er sich noch einmal bedroht fühlt. Edgar wollte nicht unterschreiben, als man ihm jedoch bedeutete, dann käme er nicht frei, unterschrieb er, freilich musste er sich vorläufig jeden Tag in der Ettstraße melden. Entlassen, ging Edgar über die Straße in Vaters Kanzlei, von dort wurde ich angerufen und erwartete ihn, der mit einem Taxi kam, in der Widenmayerstraße. [...]
Wir wussten jetzt, dass wir Deutschland verlassen mussten, sahen jedoch Schwierigkeiten voraus, wie wir, zwei Germanisten, im Ausland zu Geld kommen sollten, um zu überleben. Ich wäre gern in die Schweiz gegangen wegen der Berge, erkannte aber, dass es sehr schwer sein würde, dort eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, Edgar kündigte bei den Kammerspielen, Falckenberg fragte naiv, warum er denn nicht beim Theater bleiben wolle. Es folgte die Zeit der großen Verwirrung, der Ratlosigkeit. Es ist nicht einfach, das alles so weit Zurückliegende noch einmal aufzuschreiben, sich zurückzuversetzen in den Zustand des Nichtwissens, Nichtbegreifens.
(Ebda., S. 109)
Foto Edgar Weil (Archiv Monacensia)