https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbplaces/2021/klein/Weil_Grete_ca1926_1927_klein.jpg
Grete Weil, ca. 1926/27 (Archiv Monacensia)

München, ehem. Bürgerbräukeller

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbplaces/2022/klein/Weil_Burgerbraukeller2_500.jpg
1898: Pferdetrambahn in der Rosenheimer Straße, Ecke Steinstraße. Die Schlote rechts im Bild gehören zum Gelände des damaligen Bürgerbräukellers.

Inflation – Zur wirtschaftlichen und politischen Lage Anfang der 1920er – Putschversuch von Hitler 1923 – Gretes Vater wird verhaftet

In ihrer Biographie schildert Grete Weil ausführlich und anschaulich die wirtschaftliche und politische Situation, in der man sich in München, speziell in ihrer Familie, nach dem Ersten Weltkrieg und Anfang der 1920er-Jahre befindet. Von Goldenen Zwanzigern kann man jedenfalls nicht sprechen.

In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, in denen ich aufwuchs, herrschte Inflation. Besonders schwierig für Menschen in freien Berufen waren die Jahre 1922 und 1923, in denen das Geld jeden Tag an Wert verlor, bis schließlich für einen US Dollar 4,2 Billionen Papiermark gezahlt werden mussten. Ein Anwalt wie Vater stellte in normalen Zeiten ein bis zweimalig Jahr Rechnungen aus, bis die Beträge dann eintrafen, verstrich wieder eine ganze Zeit. Das ging natürlich nicht mehr während der Inflation, doch konnte er auch nicht nach jeder Besprechung gleich kassieren, so dass es uns gleich unzähligen anderen nicht gut ging. Zudem war man darauf angewiesen, von anderen Menschen zu erfahren, welche Waren in welchen Geschäften eventuell noch billiger verkauft wurden.

Mich widerten diese Gespräche an, ich wollte mich über geistige Dinge unterhalten. Wenn die Erwachsenen trotz meiner Proteste nicht aufhörten, über Geld zu reden, brach ich in Tränen aus. Und weinte so lange und heftig, bis sie über etwas anderes redeten. Damit erpresste ich sie, bis mit der Einführung der Reichsmark 1924 die Inflation aufhörte, Vater wieder normal verdiente, und niemand mehr gezwungen war, ständig über Geld zu sprechen.

(Grete Weil: Leb ich denn, wenn andere leben. S. Fischer, Frankfurt 2001, S. 8)

Saal des Bürgerbräukellers (c) Wirtschaftsarchiv der Industrie- und Handelskammer für Oberbayern und München

Der Hitlerputsch (auch Hitler-Ludendorff-Putsch, Bürgerbräu-Putsch, Marsch auf die Feldherrnhalle und Bierkeller-Putsch genannt) war ein am 8. und 9. November 1923 unternommener, gescheiterter Putschversuch der NSDAP unter Adolf Hitler und Erich Ludendorff sowie von weiteren Beteiligten gegen die bayerische Landesregierung und nach Vorbild von Mussolinis Marsch auf Rom gegen die Reichsregierung. Die Zielsetzung des Umsturzversuchs bestand in der Beseitigung der parlamentarischen Demokratie und der Errichtung eines nationalistischen Diktatorialregimes. In ihrer Autobiographie beschreibt Grete Weil rückblickend den Hitler-Putsch aus ihrer Perspektive. Tatsächlich geschieht es, dass ihr Vater, der renommierte Münchner Anwalt Siegmund Dispeker, verhaftet werden soll. Grete Weil vermutet, dass dies damals geschah, weil ihr Vater im Vorstand der Anwaltskammer war. Die Familie flüchtet und versteckt sich in Untergrainau. Nachdem der Putsch niedergeschlagen worden ist, kehrt die Familie nach München zurück. Auch ihr ist noch nicht klar, wie groß die Gefahr für jüdische Bürgerinnen und Bürger schon damals ist, was für eine Entwicklung sich hier anbahnt.

Im November 1923 putschte Hitler im Bürgerbräukeller in München. Wir hörten es am nächsten Morgen, waren erschrocken, nahmen es aber nicht besonders ernst. Es hatte seit dem Ende des Ersten Weltkrieges so viele politische Unruhen gegeben. Ich ging am Vormittag zu Freunden. Von dort holte Fritz mich ab und sagte, ich müsse schnell nach Hause kommen. Einige Nazis waren am Morgen in Vaters Kanzlei eingedrungen, um, wie sie sagten, Vater zu verhaften. Vater war wie jeden Vormittag bei Gericht, darauf sagten die Nazis, die das alles noch nicht so gut konnten wie später, sie würden am Mittag wiederkommen, dann solle Vater da sein. Fritz ging in den Justizpalast, holte Vater aus einer Verhandlung heraus und sagte ihm, er müsse fort, am besten zu seiner Schwester Melitta nach Untergrainau, wo zufällig Mutter gerade war, die sich nach einer Krankheit dort erholte. Vater stimmte zu, wollte jedoch nicht ohne mich gehen. Ich packte in aller Eile ein paar Kleinigkeiten zusammen und Fritz brachte mich in die Stadt. In der Zwischenzeit war der Putsch in der Feldherrenhalle durch einige Schüsse der Reichswehr beendet worden, was wir noch nicht wussten. Warum sie Vater verhaften wollten? Als Geisel vermutlich, vielleicht wussten sie, dass er im Vorstand der Anwaltskammer war. [...] Dann saßen wir noch lange zusammen und erzählten von München. Was dort geschehen war, hörten wir freilich erst am nächsten Tag. Und das Leben ging weiter, als wäre nichts geschehen. Ahnten wir noch immer nichts von der Gefahr?

Nicht, wie groß sie in Wirklichkeit war.

Was hätten wir auch anderes tun sollen, als zu bleiben? Auszuwandern lag ganz sicher nicht im Bereich des Möglichen. Wohin auch? Wovon hätten wir in einem anderen Land leben sollen. Und warum? Nur weil ein Verrückter gepuscht hatte? Nein, wir nahmen es nicht sehr ernst, und als es wirklich ernst wurde, hatten wir uns daran gewöhnt zu sagen: So schlimm wird es schon nicht werden.

(Ebda., S. 52-54)

 


Zur Station 5 von 9 Stationen


 

Verfasst von: Dr. Ingvild Richardsen

Sekundärliteratur:

Benedikt Weyerer: Bürgerbräukeller, München, publiziert am 11.05.2006. In: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Bürgerbräukeller,_München, (15.08.2022). 


Verwandte Inhalte
Literarische Wege
Literarische Wege