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Stadtwappen von Tegernsee

Gymnasium Tegernsee

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Relief am Eingang des Gymnasiums. Foto: Ingvild Richardsen (TELITO)

Tritt man durch den Eingang ins Gymnasium und blickt nach links oben, sieht man an der Wand ein freskoartiges Relief, auf dem das alte Klosterwappen mit zwei Seeblättern und drei Kronen zu erkennen ist. Darunter ist eine Inschrift angebracht, die an die Eröffnung des Gymnasiums im Jahre 1949 erinnert. Um an das frühere Kloster zu erinnern, wurde wohl auch das Klosterwappen angebracht: „Das Gymnasium mit Oberrealschule wurde am 1. September 1949 im ehemaligen Kloster Tegernsee eröffnet, das während seines über tausendjährigen Bestehens (746-1803) eine Leuchte deutscher Kunst und Wissenschaft war. Renoviert 1979-1982.“

Es gibt einen weiteren Ort im Gymnasium, an dem man das Klosterwappen in gleicher Weise an der Wand als reliefartiges Fresko sieht, und zwar über der Bibliothekstür im Erdgeschoss, am Südende des Ganges im Ostflügel. Dorthin gelangt man, wenn man beim Haupteingang nach links abbiegt und den Gang entlang bis zu dieser Tür geht.

Das Klosterwappen findet sich auch auf einer Holztür aus dem 18. Jahrhundert, die zum ehemaligen Psallierchor gehört. Diese Tür wurde während der Amtszeit des Abtes Petrus Gutrather angefertigt (1715-1725). In der Tür entdeckt man als Intarsien das alte Klosterwappen: 2 x 2 Seeblätter und 2 x 3 Rauten, wobei die Rauten wohl als die drei Kronen zu verstehen sind bzw. auf sie verweisen. Angemerkt sei, dass drei Rauten auch das persönliche Wappen des Abtes waren.

Fresko über der Bibliothekstür. Foto: Ingvild Richardsen (TELITO) 

Hier im Gymnasium Tegernsee, das als Ort der Bildung in gewisser Weise in die Fußstapfen des früheren Klosters Tegernsee getreten ist, soll aufgelöst werden, welche mögliche Bedeutung die Seeblätter, das älteste heraldische Zeichen der Benediktinerabtei Tegernsee, haben. Welchen Schlüssel gibt es für deren Verständnis, für ihre Symbolik?

a) Versinnbildlichung der Lage am See und der beiden Gründer

Naheliegend ist, dass die Äbte des Klosters Tegernsee zwei ineinander verschlungene Seeblätter als Symbol für ihr Klosterwappen wählten, weil sie damit auf die Lage ihres Klosters an einem See hinweisen wollten und darauf, dass ihre Abtei von Oatker und Adalbert, zwei Brüdern, gegründet worden war. Möglicherweise hat sich die Geistlichkeit damals schlicht von der Natur inspirieren lassen und die Versinnbildlichung durch Seeblätter gewählt, weil es am Tegernsee, so wie auch in vielen anderen bayerischen Seen, Mengen an Seerosen gab.

b) Das Kudrunlied

Um die Tegernseer Seeblätter zu erklären, wird oft auch eine Erklärung poetischer Natur ins Feld geführt. Hierbei beruft man sich auf das aus dem 13. Jahrhundert stammende Heldenepos Kudrunlied, in dem der aus Seland stammende Held Herwig als sein Zeichen eine mit Seeblättern gezierte wolkenblaue Schiffsfahne führt („Sebleter swebent dar ine“).

Das Kudrunlied beruht auf Quellen, die aus dem Sagenkreis der Nordsee stammen. Tatsächlich haben die Friesen und Seeländer das Seeblatt von uralter Zeit her verehrt, die Friesen trugen sogar sieben Seeblätter in ihrem Schild und glaubten unter diesem Zeichen zu siegen. Von diesem Sachverhalt scheint auch der anonyme Autor des Kudrunliedes gewusst zu haben, wenn er dem Helden Herwig von Seland oder den Seeländern als Symbol gleichfalls eine wolkenblaue, mit Seeblättern gezierte Fahne zuschrieb.

Noch sihe ich hie bî weiben einen vanen breit von wolkenblâwen siden. daz si iu geseit: den bringet uns her Herwîc dâ her von Sêlanden. sêbleter swebent dar inne. Er wil hie vaste rechen sînen anden.

(Kudrunlied, V. 1373)

Da das Kudrunlied um 1233 von einem Tegernseer Mönch aufgeschrieben worden sei, so wird weiter argumentiert, sei dies also die früheste Erwähnung der Seeblätter im Zusammenhang mit Tegernsee.

Gegen diese Argumentation spricht jedoch, dass das Kudrunlied, ein mittelhochdeutsches, anonym überliefertes Heldenepos, zwar im bayerisch-österreichischen Raum um 1230/40 entstanden ist; allerdings ist bis heute nicht gesichert, wer es aufgeschrieben hat und an welchem Ort dies geschehen ist. Zudem ist es wenig wahrscheinlich, dass die Geistlichkeit für ihre Abtei Tegernsee ausgerechnet auf das Zeichen eines Helden und Ritters zurückgegriffen haben soll.

c) Mittelalterliche Pflanzensymbolik

Es gibt noch eine weitere Erklärung, warum die Äbte des Benediktinerklosters Tegernsee sich zuerst für Seerosenblätter als Zeichen ihres Klosterwappens entschieden haben könnten. Dieser Grund hängt mit der Symbolik der Pflanzen in Antike und Mittelalter zusammen, mit ihrer Heiligkeit und Heilkraft. Ähnlich wie schützende Tiere wählte man oft auch Pflanzen als heraldisches Zeichen und als Symbol für Wappen von Rittern, Städten und Klöstern.

Seerose und Seeblätter: Heilmittel, Antiaphrodisiakum und ein Symbol der Keuschheit

Seerosenblätter (l.) und Mandragora (r.). Fotos: Ingvild Richardsen (TELITO) 

Nur noch Fachleuten bekannt ist, dass Seerose und Seerosenblätter in der antiken und mittelalterlichen Heilkunde nicht nur als Heilmittel, sondern auch als Antiaphrodisiakum eingesetzt wurden. Bereits im 1. Jahrhundert n. Chr. hatte der griechische Arzt Dioskurides die antiaphrodisiakische Wirkung dieser Pflanze beschrieben. Seine Materialsammlung in fünf Büchern mit ca. 600 Porträts über Pflanzen, Bäume, Wurzeln und Kräuter stand in hohem Ansehen und wurde im Mittelalter häufig kopiert. Die Schriften des Dioskurides waren damals nicht nur in Europa, sondern auch in der islamischen Welt weit verbreitet.

Auch in der Spätantike war man weiter der Auffassung, dass die Wasserpflanze Seerose, auf Latein auch „Nenuphar“ oder „Nymphaea alba“ genannt, die sexuelle Potenz vermindern, ja sogar impotent machen sollte (Marcellus Empiricus, De medicamentis, XXXIII, 63). Tatsächlich herrschte damals auf dem ganzen gallo-keltischen Gebiet die Volksmeinung, dass diese Wasserpflanze die sexuelle Potenz beinträchtige. Oberbayerischem alten Volksglauben zufolge sollte die Seerose auch Gift aus dem Körper treiben können. Der Dominikaner Albertus Magnus (†1280), ein deutscher Gelehrter und Bischof, sprach der Seerose dann noch narkotische Eigenschaften und eine Nähe zur sagenumwobenen Pflanze Mandragora (Alraun) zu.

Angesichts dieser der Seerose in Antike und Mittelalter zugeschriebenen Wirkungen verwundert es nicht, dass sich die Seerose und ihre Blätter auch zu einem Symbol für Keuschheit entwickelte.

In Konrad von Megenbergs aus dem 14. Jahrhundert stammenden Buch der Natur, der ersten Naturkunde in mittelhochdeutscher Sprache, wurden die Heilkräfte der Seerose wie folgt zusammengefasst (neuhdt. Übersetzung):

Foto: Ingvild Richardsen (TELITO) 

Seerose, Seeblätter und das Gelöbnis der Keuschheit

Der Theologe, Mediziner und Botaniker Otto Brunfels (1438-1533), der in seinen Kräuter- und Arzneibüchern im 15./16. Jahrhundert das Wissen vorhergehender Jahrhunderte zusammengefasst hat, äußerte sich ebenfalls über die Heilkraft der Seerosen. Er schrieb, dass Seerosen-Wasser oder -Syrup nicht nur gegen Pest helfe, zu einer Herzstärkung führe und unnötige Hitze aus Kopf, Herz, Leber und Magen vertreibe, sondern empfahl auch die Seerose und ihre Blätter speziell den Menschen zur medizinischen Anwendung, die Keuschheit gelobt hatten. Für sie sei die Pflanze von besonderer Bedeutung. Innerlich eingenommen als gebranntes Wasser oder äußerlich angewendet, indem man auf Seerosen oder Seerosenblättern schlafe oder sie auf die Nieren lege, vergehe nicht nur der sexuelle Trieb; auch unzüchtige und unkeusche Träume ließen sich dadurch vertreiben.

Was Brunfels schreibt, ist für das Verständnis des Tegernseer Seeblattwappens höchst bedeutsam. Sich auf die Keuschheit zu verpflichten, spielte nämlich eine wichtige Rolle bei den benediktinischen Gelöbnissen. Es ist durchaus möglich, dass die der Seerose und ihren Seeblättern zugeschriebene Heilkraft und Symbolik mit eine Rolle spielten, dass sich die Tegernseer Äbte als Zölibatäre entschieden, Seerosenblätter als heraldisches Zeichen für ihr Wappen zu wählen: als Symbol der Keuschheit.

Wofür die beiden ineinander verschlungenen Seeblätter letztendlich stehen lässt sich aufgrund mangelnder Quellenlage heute nicht mehr eindeutig klären. Möglicherweise haben auch alle erwähnten Komponenten zusammengewirkt: die Lage des Klosters Tegernsee an einem mit Seerosen bedeckten See; der Verweis auf die beiden Klostergründer und Brüder; Herwigs Fahne; und die mittelalterliche Pflanzensymbolik.

 


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Verfasst von: TELITO / Dr. Ingvild Richardsen

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