Fürstenstraße/Pfarrer-Kronast-Weg: Elternhaus II
Im Herbst 1946 unternimmt Grete Weil heimlich eine erste Reise nach Frankfurt, um hier ihren Jugendfreund Walter Jokisch (1907-1970) zu treffen. Als sie nach 12 Jahren Exil in den Niederlanden zum ersten Mal wieder nach Deutschland zurückkehrt, hat sie Verzweiflung, Grauen und Verfolgung hinter sich.
Anlass für ihre heimliche Reise ins Nachkriegsdeutschland ist ein Treffen mit ihrem und Edgar Weils Jugendfreund Walter Jokisch, der zu diesem Zeitpunkt an der Frankfurter Oper als Opernregisseur beschäftigt ist. Sie und er, die sich gut verstehen, wollen besprechen, ob sie auch miteinander leben könnten. 1937, beim Tod ihres Vaters, war Grete Weil zuletzt in ihrem Elternhaus gewesen. 1938 hatte sie ihre Mutter mit einen Trick aus Rottach-Egern in die Niederlande geholt, um sie vor Verfolgung und Deportation zu retten.
Unsicher, was sie nach dem Ende des NS-Regimes und dem Zweiten Weltkrieg in ihrer früheren Heimat erwartet und wie es um ihr Elternhaus steht, reist sie mit Walter Jokisch, der den Ort selbst gut kennt, dort einstmals auch im jüdischen Kinderheim als Lehrer gearbeitet hat, nach Rottach-Egern.
Immer noch Heimat
Tatsächlich befindet sich ihr Elternhaus in einem verwahrlosten Zustand. Es stellt sich heraus, dass es bewohnt ist. Von den Bewohnerinnen erfährt sie, dass sich jetzt ein Kinderheim darin befindet. Es ist das frühere Kinderheim der NS-Frauenschaft, das jetzt von einigen Frauen auf eigene Faust weitergeführt wird. Diese sind erleichtert, als sie erfahren, dass Grete Weil noch nicht zurückkehren wird, sie das Kinderheim vorerst weiterführen und in der Villa wohnen bleiben können:
Wir fahren nach Egern. Ich schluchze kurz auf, als ich vor dem Gartentor stehe. Das Haus, in dem ein Kinderheim der NS-Frauenschaft war, ist verwahrlost, aber unverändert. Einige Schwestern betreiben das Kinderheim weiter auf eigene Faust und sind sehr erleichtert, als ich ihnen sage, dass sie vorerst, wirklich nur vorerst, bleiben können. Unser Hausmeister ist gestorben, seine Frau ist noch da. Es ist Heimat wie eh und je. Jetzt gehe ich noch fort, doch ich werde zurückkommen.
(Grete Weil: Leb ich denn, wenn andere leben, S. 244f.)
1956 entscheidet sich Grete Weil, ihr Elternhaus in der Fürstenstraße 30 in Egern zu verkaufen, auch deshalb, weil sie es mittlerweile für sich selbst als zu groß empfindet. So ist denn seither das frühere Haus von Grete Weil bis heute im Besitz der Familie Svendsen. Bis vor wenigen Jahren führte die Familie es jahrzehntelang als beliebtes Hotel Garni.
Landhaus Dispeker. Postkarte Ernst Gottlieb (Archiv Monacensia)
Anerkennung als Widerstandskämpferin – Schreiben gegen das Vergessen
1947 wird Grete Weil in den Niederlanden als Widerstandskämpferin anerkannt und erhält einen niederländischen Pass. 1947 entscheidet sie sich endgültig nach Deutschland zurückzukehren. Grete Weils erklärtes Ziel ist es jetzt, in ihrer Heimat und in deutscher Sprache „gegen das Vergessen anzuschreiben. Mit aller Liebe, allem Vermögen, in zäher Verbissenheit“.
In ihrer noch in Amsterdam geschriebenen Erzählung Ans Ende der Welt, die von der Deportation zweier holländisch-jüdischer Familien handelt, berichtet sie zum ersten Mal über die Verfolgung der niederländischen Juden. 1949 erscheint diese Erzählung zuerst in Ostberlin im Verlag Volk und Welt. Erst 1962 kommt sie auch in Westdeutschland heraus. Die niederländische Übersetzung Naar het eind van de wereld, die 1963 folgt, stößt in den Niederlanden auf große Beachtung.
Darmstadt
In Deutschland lässt Grete Weil sich zuerst in Darmstadt nieder, wo Walter Jokisch, den sie 1960 heiratet, Opernregisseur ist. Sie selbst arbeitet hier nun zuerst als Librettistin für Boulevard Solitude (Musik: Hans Werner Henze, UA 1952) und für Die Witwe von Ephesus (Musik: Wolfgang Fortner, UA 1952). Doch sie schreibt auch den bis heute unveröffentlichten Roman Antigone. Daneben verfasst sie Theaterrezensionen, Essays und Übersetzungen von englischsprachigen Autoren.
1963 vollendet Grete Weil den Roman Tramhalte Beethovenstraat, in dem sie sich mit den Kriegs-, Deportations- und Nachkriegserfahrungen von Deutschen, jüdischen Deutschen und Niederländern auseinandersetzt. Es sind die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in München und Amsterdam während der NS-Zeit und die Judenverfolgung und Deportation der jüdischen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten in Amsterdam, die im Mittelpunkt des Buches stehen. Während der Roman in den Niederlanden sofort großes Interesse findet und zahlreiche weitere Werke von Grete Weil ins Niederländische übersetzt werden, ist man in Deutschland erst ab den 1980er-Jahren imstande, sich mit der eigenen Vergangenheit derart auseinanderzusetzen. 1970 stirbt Walter Jokisch, Grete Weils zweiter Mann.
Rückkehr nach München – Literarischer Durchbruch mit Meine Schwester Antigone
1974 zieht Grete Weil in ein Haus nach München-Grünwald. Sie stürzt sich ins Schreiben und verfasst nun den Roman Meine Schwester Antigone. In ihm setzt sie der Zeit des besetzten Amsterdam und der dortigen Verfolgung und Deportation der Juden durch die Nationalsozialisten erneut ein Denkmal. Nach Verlagsabsagen in Deutschland wird der Roman 1980 zuerst von einem Schweizer Verlag veröffentlicht. Tatsächlich ist es dann dieses Werk, das zum literarischen Durchbruch der mittlerweile 74-jährigen Grete Weil führt: nicht nur als Chronistin der Besatzungszeit in den Niederlanden, sondern auch als auf Aussöhnung bedachte Betroffene und außergewöhnliche Schriftstellerin.
Preisträgerin – Lebenserinnerungen
1980 erhält Grete Weil den Wilhelmine-Lübke-Preis, 1983 den Tukan-Preis der Stadt München, 1988 den Geschwister Scholl-Preis, 1993 die Medaille „München leuchtet“ in Gold, 1995 die Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz und 1996 den Bayerischen Verdienstorden.
Mit 91 Jahren, als sie es mit ihren größtenteils autobiografischen Romanen und Erzählungen längst zu vielen Literaturpreisen und anderen Auszeichnungen gebracht hat, schreibt sie ihre Lebenserinnerungen, die 1998 unter dem Titel Leb ich denn, wenn andere leben zuerst in der Schweiz veröffentlicht werden. Hier schildert sie ihr verflossenes Leben in München, am Tegernsee und im Exil in Amsterdam facettenreich, mit allen Höhen, Tiefen und Schicksalsschlägen. In diesem Rückblick wird deutlich, was für eine bedeutende Rolle der Tegernsee und ihre Erlebnisse in Rottach-Egern für sie gespielt haben. In dem autobiografischen Roman Generationen, in dessen Mittelpunkt das Altern steht, hatte sie 1983 bereits den touristisch-industriellen Wandel der Tegernseer Landschaft zur Sprache gebracht. In ihrer Kindheit war hier noch Wald, „die jetzt regulierte, träg dahinfließende Isar ein reißender Gebirgsfluss“. Die nicht großartigen Berge „gehören“ – trotzdem – ihr: „Meine Wege, meine Almen, meine Felsen, meine Blicke.“
Tatsächlich hat Grete Weil bis zu ihrem Lebensende das Tegernseer Tal geliebt und als ihre Heimat betrachtet. In den Erinnerungen an Max Mohr schreibt sie an ihrem Lebensende:
Wenn das Wetterglück es will, sitze ich mit Nico und seiner Familie auf der Bank vor der Wolfsgrub, schaue auf die sanfte Wiese, auf der die Kühe, deren Glocken hell herunterklingen, weiden wie ehe und je, die zum Wallberg hinaufführt. Und ich habe das ganz starke, fast atemberaubende Gefühl wie auf keinem anderen Ort der Erde, daß um mich Heimat ist.
(Grete Weil: Erinnerungen an Max Mohr, S. 5)
Im Herbst 1946 unternimmt Grete Weil heimlich eine erste Reise nach Frankfurt, um hier ihren Jugendfreund Walter Jokisch (1907-1970) zu treffen. Als sie nach 12 Jahren Exil in den Niederlanden zum ersten Mal wieder nach Deutschland zurückkehrt, hat sie Verzweiflung, Grauen und Verfolgung hinter sich.
Anlass für ihre heimliche Reise ins Nachkriegsdeutschland ist ein Treffen mit ihrem und Edgar Weils Jugendfreund Walter Jokisch, der zu diesem Zeitpunkt an der Frankfurter Oper als Opernregisseur beschäftigt ist. Sie und er, die sich gut verstehen, wollen besprechen, ob sie auch miteinander leben könnten. 1937, beim Tod ihres Vaters, war Grete Weil zuletzt in ihrem Elternhaus gewesen. 1938 hatte sie ihre Mutter mit einen Trick aus Rottach-Egern in die Niederlande geholt, um sie vor Verfolgung und Deportation zu retten.
Unsicher, was sie nach dem Ende des NS-Regimes und dem Zweiten Weltkrieg in ihrer früheren Heimat erwartet und wie es um ihr Elternhaus steht, reist sie mit Walter Jokisch, der den Ort selbst gut kennt, dort einstmals auch im jüdischen Kinderheim als Lehrer gearbeitet hat, nach Rottach-Egern.
Immer noch Heimat
Tatsächlich befindet sich ihr Elternhaus in einem verwahrlosten Zustand. Es stellt sich heraus, dass es bewohnt ist. Von den Bewohnerinnen erfährt sie, dass sich jetzt ein Kinderheim darin befindet. Es ist das frühere Kinderheim der NS-Frauenschaft, das jetzt von einigen Frauen auf eigene Faust weitergeführt wird. Diese sind erleichtert, als sie erfahren, dass Grete Weil noch nicht zurückkehren wird, sie das Kinderheim vorerst weiterführen und in der Villa wohnen bleiben können:
Wir fahren nach Egern. Ich schluchze kurz auf, als ich vor dem Gartentor stehe. Das Haus, in dem ein Kinderheim der NS-Frauenschaft war, ist verwahrlost, aber unverändert. Einige Schwestern betreiben das Kinderheim weiter auf eigene Faust und sind sehr erleichtert, als ich ihnen sage, dass sie vorerst, wirklich nur vorerst, bleiben können. Unser Hausmeister ist gestorben, seine Frau ist noch da. Es ist Heimat wie eh und je. Jetzt gehe ich noch fort, doch ich werde zurückkommen.
(Grete Weil: Leb ich denn, wenn andere leben, S. 244f.)
1956 entscheidet sich Grete Weil, ihr Elternhaus in der Fürstenstraße 30 in Egern zu verkaufen, auch deshalb, weil sie es mittlerweile für sich selbst als zu groß empfindet. So ist denn seither das frühere Haus von Grete Weil bis heute im Besitz der Familie Svendsen. Bis vor wenigen Jahren führte die Familie es jahrzehntelang als beliebtes Hotel Garni.
Landhaus Dispeker. Postkarte Ernst Gottlieb (Archiv Monacensia)
Anerkennung als Widerstandskämpferin – Schreiben gegen das Vergessen
1947 wird Grete Weil in den Niederlanden als Widerstandskämpferin anerkannt und erhält einen niederländischen Pass. 1947 entscheidet sie sich endgültig nach Deutschland zurückzukehren. Grete Weils erklärtes Ziel ist es jetzt, in ihrer Heimat und in deutscher Sprache „gegen das Vergessen anzuschreiben. Mit aller Liebe, allem Vermögen, in zäher Verbissenheit“.
In ihrer noch in Amsterdam geschriebenen Erzählung Ans Ende der Welt, die von der Deportation zweier holländisch-jüdischer Familien handelt, berichtet sie zum ersten Mal über die Verfolgung der niederländischen Juden. 1949 erscheint diese Erzählung zuerst in Ostberlin im Verlag Volk und Welt. Erst 1962 kommt sie auch in Westdeutschland heraus. Die niederländische Übersetzung Naar het eind van de wereld, die 1963 folgt, stößt in den Niederlanden auf große Beachtung.
Darmstadt
In Deutschland lässt Grete Weil sich zuerst in Darmstadt nieder, wo Walter Jokisch, den sie 1960 heiratet, Opernregisseur ist. Sie selbst arbeitet hier nun zuerst als Librettistin für Boulevard Solitude (Musik: Hans Werner Henze, UA 1952) und für Die Witwe von Ephesus (Musik: Wolfgang Fortner, UA 1952). Doch sie schreibt auch den bis heute unveröffentlichten Roman Antigone. Daneben verfasst sie Theaterrezensionen, Essays und Übersetzungen von englischsprachigen Autoren.
1963 vollendet Grete Weil den Roman Tramhalte Beethovenstraat, in dem sie sich mit den Kriegs-, Deportations- und Nachkriegserfahrungen von Deutschen, jüdischen Deutschen und Niederländern auseinandersetzt. Es sind die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in München und Amsterdam während der NS-Zeit und die Judenverfolgung und Deportation der jüdischen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten in Amsterdam, die im Mittelpunkt des Buches stehen. Während der Roman in den Niederlanden sofort großes Interesse findet und zahlreiche weitere Werke von Grete Weil ins Niederländische übersetzt werden, ist man in Deutschland erst ab den 1980er-Jahren imstande, sich mit der eigenen Vergangenheit derart auseinanderzusetzen. 1970 stirbt Walter Jokisch, Grete Weils zweiter Mann.
Rückkehr nach München – Literarischer Durchbruch mit Meine Schwester Antigone
1974 zieht Grete Weil in ein Haus nach München-Grünwald. Sie stürzt sich ins Schreiben und verfasst nun den Roman Meine Schwester Antigone. In ihm setzt sie der Zeit des besetzten Amsterdam und der dortigen Verfolgung und Deportation der Juden durch die Nationalsozialisten erneut ein Denkmal. Nach Verlagsabsagen in Deutschland wird der Roman 1980 zuerst von einem Schweizer Verlag veröffentlicht. Tatsächlich ist es dann dieses Werk, das zum literarischen Durchbruch der mittlerweile 74-jährigen Grete Weil führt: nicht nur als Chronistin der Besatzungszeit in den Niederlanden, sondern auch als auf Aussöhnung bedachte Betroffene und außergewöhnliche Schriftstellerin.
Preisträgerin – Lebenserinnerungen
1980 erhält Grete Weil den Wilhelmine-Lübke-Preis, 1983 den Tukan-Preis der Stadt München, 1988 den Geschwister Scholl-Preis, 1993 die Medaille „München leuchtet“ in Gold, 1995 die Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz und 1996 den Bayerischen Verdienstorden.
Mit 91 Jahren, als sie es mit ihren größtenteils autobiografischen Romanen und Erzählungen längst zu vielen Literaturpreisen und anderen Auszeichnungen gebracht hat, schreibt sie ihre Lebenserinnerungen, die 1998 unter dem Titel Leb ich denn, wenn andere leben zuerst in der Schweiz veröffentlicht werden. Hier schildert sie ihr verflossenes Leben in München, am Tegernsee und im Exil in Amsterdam facettenreich, mit allen Höhen, Tiefen und Schicksalsschlägen. In diesem Rückblick wird deutlich, was für eine bedeutende Rolle der Tegernsee und ihre Erlebnisse in Rottach-Egern für sie gespielt haben. In dem autobiografischen Roman Generationen, in dessen Mittelpunkt das Altern steht, hatte sie 1983 bereits den touristisch-industriellen Wandel der Tegernseer Landschaft zur Sprache gebracht. In ihrer Kindheit war hier noch Wald, „die jetzt regulierte, träg dahinfließende Isar ein reißender Gebirgsfluss“. Die nicht großartigen Berge „gehören“ – trotzdem – ihr: „Meine Wege, meine Almen, meine Felsen, meine Blicke.“
Tatsächlich hat Grete Weil bis zu ihrem Lebensende das Tegernseer Tal geliebt und als ihre Heimat betrachtet. In den Erinnerungen an Max Mohr schreibt sie an ihrem Lebensende:
Wenn das Wetterglück es will, sitze ich mit Nico und seiner Familie auf der Bank vor der Wolfsgrub, schaue auf die sanfte Wiese, auf der die Kühe, deren Glocken hell herunterklingen, weiden wie ehe und je, die zum Wallberg hinaufführt. Und ich habe das ganz starke, fast atemberaubende Gefühl wie auf keinem anderen Ort der Erde, daß um mich Heimat ist.
(Grete Weil: Erinnerungen an Max Mohr, S. 5)